manuelletherapie 2019; 23(02): 52-53
DOI: 10.1055/a-0864-3493
Forum
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Leserbrief zu: Forum: Beyerlein C. Manuelle Therapie im Kreuzfeuer –Müssen wir unsere Paradigmen überdenken und wie gehen wir mit den neuen Gurus um? manuelletherapie 2018; 22: 104–106 sowie zu: Leserbrief: von Piekartz H. manuelletherapie 2018; 22: 200–203

Thomas Widmann
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Publication Date:
17 May 2019 (online)

Die beiden Autoren C. Beyerlein und H. von Piekartz diskutieren über den heutigen Wert der Manuellen Therapie und deren Verhältnis zur Wissenschaft und Gurus. Der Leserbrief von Prof. von Piekartz geht noch einen Schritt weiter und wirft einen Blick auf das Verhältnis zur Osteopathie. Auch wenn ich mit den meisten Aussagen der Autoren konform gehen kann, fühlte ich mich vereinzelt an meine Anfangszeit in der Manuellen Therapie/Medizin zurückerinnert.

Dr. Beyerlein wunderte sich über die thematische Ausrichtung des IFOMPT-Kongresses, bei dem das Thema Neurologie/Schmerz wohl sehr im Vordergrund stand. Ich war leider nicht dabei, frage mich aber, warum das Thema nicht in dieser Konzentration aufgearbeitet werden sollte, gerade im Rahmen der Manuellen Therapie. Patienten kommen zu uns, weil sie Funktionsdefizite haben, meist gekoppelt mit Schmerzen oder ausgelöst durch diese. Manualtherapeuten sind im besten Sinne auch funktionelle Schmerztherapeuten.

Dr. Beyerlein wirft auch die Frage nach einer neuen Diskussion bezüglich der Wirkmechanismen auf. Manuelle Therapie und auch die Osteopathie sind stark sensorisch induzierte, kinematische, eventuell auch kybernetische Therapien. Physiotherapeuten beeinflussen Strukturen über histologisch autark wirksame Effekte, aber auch über deren Steuerung. Sie nutzen das Sensorensystem und die damit verbundenen neuroanatomischen und neurophysiologischen Möglichkeiten. Ein Blick in die Anatomie, Neurologie und Physiologie genügt, um zu verstehen, dass es keiner Mystik oder zweifelhafter Philosophien bedarf, um hinreichende Erklärungen für die erzielten Effekte zu beschreiben. Wenn sich das bislang nicht in Form wissenschaftlicher Evidenz widerspiegeln lässt, ist das eher ein Problem der Wissenschaft als der der realen Arbeit am Patienten und der Existenz positiver Effekte. Die empirische geht immer der wissenschaftlichen Arbeit voraus. Vielleicht scheitert es an den richtigen wissenschaftlichen Fragestellungen, an genügend qualifizierten Studienleitern oder auch an der Durchführbarkeit interessanter Studien. Wo stände die Physiotherapie heute, wenn prominente Persönlichkeiten wie F. Kaltenborn, G. Maitland, B. Mulligan, Dr. Cyriax, Dr. Sutherland, J. C. Barral, A. T. Still und viele andere nicht den Mut aufgebracht hätten, neue Positionen zu beziehen, neue Ansichten in den Raum zu stellen und diese zu praktizieren, Therapeuten davon zu überzeugen und Kritik auszuhalten. Auch wenn sich im Nachhinein einiges von dem Gelehrten nicht bewahrheitet hat, so bleibt doch das Verdienst, unser Denken vorangebracht zu haben.

Das Problem wissenschaftlicher Arbeiten in der Therapie ist doch der Mensch selbst. Sowohl Patienten als auch Therapeuten lassen sich nur schwer standardisieren. Eine Therapie besteht doch nicht nur aus der angewendeten Technik. Dr. Beyerlein hat sehr gut dargestellt, dass Therapie immer ein multimodaler Prozess aus struktureller, psychologischer und neurophysiologischer Beeinflussung ist. Wir sollten zur Kenntnis nehmen, dass wissenschaftliche Studien unsere empirische Arbeit lediglich unterstützen. Dr. Beyerleins Hinweis auf den Placeboeffekt verdeutlicht das ebenfalls. Ist ein Therapieeffekt weniger wertig, wenn er vermutlich mehrheitlich auf einem Placeboeffekt beruht? Wenn Therapie immer multimodal ist, entscheidet nicht so sehr die Therapeutin darüber, welcher Stimulus wirksam wird, sondern vielmehr unterbewusst, intuitiv die Patienten. Trotzdem spielen natürlich die Therapeuten eine wichtige Rolle. Die Ausstrahlung ihrer Fachkompetenz öffnet die Türen zu den kybernetischen Systemen der Patienten. Therapeuten mit einer guten, umfangreichen Ausbildung in Manueller Therapie sind in deren zentralen Fachgebieten deutlich kompetenter. Mit diesem gestärkten Selbstbewusstsein treten die spezialisierten Kollegen den Patienten gegenüber, beraten umfassend und ermöglichen damit den erfolgreichen Einsatz manualtherapeutischer Techniken. Schon deshalb ist die Manuelle-Therapie-Ausbildung dringend zu empfehlen und für unseren Berufsstand unverzichtbar.

Damit haben wir immer eine Hands-on- und Hands-off-Situation. Ich habe mich in meinen Anfangsjahren oft gefragt, warum meine Techniken nicht ausreichend genug zu reproduzierbaren Ergebnissen führten. Als ich begann, meine Patienten verbal in meinen gedanklichen Prozess einzubinden, wurden auch die therapeutischen Ergebnisse nachhaltiger und vorhersehbarer. Ich halte die Diskussion Hands-off oder Hands-on für wenig gewinnbringend, da klar sein sollte, dass Therapie immer eine Kombination aus beiden benötigt. Hier sind die von Prof. von Piekartz zitierten Studien auch wenig aufschlussreich, Outcome hin oder her. Sie sind auch keine „Eye-opener“ und schon gar keine Bedrohung der Manuellen Therapie, es sei denn, man begreift die Manuelle Therapie immer noch als reine Anwendungstechnik und nicht als ein multimodal wirksames Therapieverfahren, das lediglich den sensorischen Reiz der arthrokinematischen Bewegung in den Vordergrund stellt. Finden zu diesen Themen dann Studien statt, ist das sinnvoll. Werden die Studienautoren aber zu Wahrheitsexperten stilisiert, wurde nicht verstanden, welchen Stellenwert solche Studien einnehmen müssen. Sie sind Beleuchter einzelner Detailfragen. Sie müssen im Kontext der empirischen Arbeit und deren bei der Erstellung der Studie vorherrschenden Rahmenbedingungen interpretiert werden. Daraus kann in Einzelfällen ein Mehrgewinn an gesichertem Wissen entstehen, in anderen Fällen helfen sie, die alltägliche Praxis zu untermauern und manchmal müssen sie auch verworfen werden. Gurus, egal ob wissenschaftlich oder empirisch, taugen nicht dazu, Wahrheiten zu generieren, sehr wohl aber, Menschen zu stimulieren, sich in die eine oder andere Richtung zu engagieren. Die „Gurus“, die ich selbst kennenlernte, haben mich beflügelt, auch wenn ich gelegentlich erkennen musste, dass einiges von dem, woran ich zu glauben gelernt habe, revidiert werden musste. Kritisch hinterfragen, ist nie verboten.

Reflektierendes Arbeiten und kritisches Lernen sind Grundvoraussetzungen für jede Form von Erfahrung bildendem Wissen. Da heute alle Informationsquellen genutzt werden müssen, verwenden junge Kollegen auch soziale Medien. Damit allein sollten sie aber nicht entlassen werden. Wir sollten Wert darauf legen, dass nur mehrfach hinterfragte und recherchierte Informationen eingesetzt werden. Etliche Kollegen machen es sich an dieser Stelle vermutlich zu einfach. Bei einigen spielen nur noch akademische Abschlüsse eine Rolle. Es muss ein Bachelor-, Master- oder Doktortitel sein – wichtige Auszeichnungen für den oft umfangreichen geleisteten Lerneinsatz. Wichtig ist aber auch, was sich von dem Erlernten bei den Patienten effektiv anwenden lässt. Hier gehören auch Praktiker ins Boot. Ich würde mir wünschen, dass das in akademischen Ausbildungen stärkere Berücksichtigung fände.

Prof. von Piekartz sieht die Manuelle bzw. die muskuloskelettale Therapie in Gefahr, insbesondere in Konkurrenz zur Osteopathie. Ich finde bedauerlich, dass in der Kategorie „Konkurrenz“ gedacht wird. Alle, die sich als Manualtherapeuten verstehen, haben unterschiedliche Herangehensweisen. Obwohl die großen „Konzepte“ Manuelle Therapie nach Kaltenborn/Evjenth und Maitland technisch grundverschieden sind, akzeptieren sie sich gegenseitig unter dem Begriff „Manuelle Therapie“. Die Väter dieser Techniken unterlagen osteopathischen Einflüssen. Vielleicht wären die Manualtherapien sonst in dieser Form nie entstanden. Wenn sich heute der Horizont durch weitere osteopathische Verfahren und Hypothesen erweitert hat, empfinde ich das als sehr gewinnbringend und stimulierend. Viele Bereiche der Osteopathie sind manuell induzierte Reizstimulationstechniken, die der sensorische menschliche Apparat als Auslöser für kybernetische Regelkreisprozessveränderungen nutzt. Das hat, wie bereits gesagt, nichts mit Mystik zu tun. Manualtherapeuten sollten sich von der Osteopathie nicht abgrenzen, sondern sie aktiv und auf seriöse Weise integrieren, soweit das der Zielsetzung zuträglich ist, Patienten mit funktionellen Störungen unabhängig von deren Ursache (Bewegungsapparat, neurologisch, fluidal, internistisch) zu helfen. Es gibt viel mehr, was diese Therapien miteinander verbindet als sie trennt!

Als Physiotherapeut mit Spezialisierung in der Manual-/(neuro-)muskuloskelettalen Therapie, erweitert um die Osteopathie, sehe ich eine Zukunft, die uns zunehmend mehr Verantwortung und Kompetenz abfordern wird. Dabei sollten wir unser physiotherapeutisches Know how nicht negieren und ausschließlich unserer Spezialisierung folgen. Nur als „Ganzes“ können wir einen ernst zu nehmenden Platz im Gesundheitssystem behalten bzw. ausbauen. Hierfür sind reflektierend arbeitende Praktiker genauso notwendig wie akademisch ausgebildete Kollegen. Wenn wir darüber unsere Qualität an den Patienten beweisen, lässt sich dies auch ökonomisch widerspiegeln bzw. einfordern. Zugegeben, das bedarf noch ein Stück berufspolitischer Arbeit. Allen, die sich als „Pioniere“ auf diesen Weg begeben haben, gebührt unser Dank, insbesondere auch den beiden Herren, die mich zu meinem Lesebrief veranlassten.