Psychiatr Prax 2008; 35(4): 201-202
DOI: 10.1055/s-2008-1079312
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Publication Date:
10 June 2008 (online)

 

Es war ein Glücksfall, ein großer Glücksfall, dass da einer offene Ohren hatte und keinerlei Scheu, einmal eine ganz andere Zunft in sein Haus zu lassen, in das Rheinische Landeskrankenhaus Düsseldorf-Grafenberg. Der Mann hieß Caspar Kulenkampff, war Professor für Psychiatrie und von 1966-1971 Chef dieser Anstalt, der heutigen Rheinischen Kliniken Düsseldorf. Von ihm heißt es: "Kulenkampff hatte vor mehreren Jahren einer Reihe von Soziologiestudenten die Möglichkeit eröffnet, in seiner Klinik zu arbeiten... Sie durften als stumme Mitarbeiter an den ärztlichen Visiten teilnehmen".

So steht es in den einleitenden Bemerkungen, die René König, einer der bedeutendsten deutschen Soziologen nach 1945, der bemerkenswerten Nummer 2/1973 der von ihm mitherausgegebenen "Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie" unter der Überschrift "Von Türen, die sich öffnen" vorausschickt. Es handelt sich um ein Themenheft zu all dem, was sich mit psychisch und psychiatrisch Kranken verknüpft. Auf 270 Seiten findet sich in 19 Beiträgen aus 18 Federn vieles von dem, was jene Soziologen, meist Diplomanden oder schon diplomierte, samt deren Dozenten zwischen 1968 und 1972 in Grafenberg sahen, aufnahmen und in mehreren Projekten erforschten. (Das Heft, das seinerzeit 25DM kostete, ist heute in Antiquariaten, auch mithilfe des Internethandels, schon für einige Euro zu finden.)

Der König-Schüler Fritz Sack merkt in seinen Vorbemerkungen an: "In Kulenkampff fand das Forschungsunternehmen den aufgeschlossenen Klinikchef, der die soziologische Fragestellung gegenüber seiner medizinischen Institution und deren Personal ohne Vorbehalt und Mentalreservation legitimierte und vertrat. Die Initiative des Unternehmens ging sogar weitgehend von ihm selbst aus." Sack bedauert, was nach Kulenkampffs Weggang geschah, dass nämlich "das soziologische Forschungsteam sehr bald in die Situation eines Fremdkörpers bzw. der Isolation innerhalb des Klinikbetriebs geriet." Und er beklagt wie König die schweren Defizite in der Zusammenarbeit zwischen Soziologen und Medizinern.

"Die Medizinsoziologie ist weit davon entfernt, eine festinstitutionalisierte Größe innerhalb der Soziologie zu sein", heißt es da. Ein Grund dafür sei freilich auch im Desinteresse der Mediziner zu sehen. Das Engagement etwa von Alexander Mitscherlich, Klaus Dörner und Heinz Häfner auf diesem Gebiet war ja die Ausnahme von dieser Regel. Sehr zu bedauern ist, dass der Band nicht an Virchows berühmte These "Die Medicin ist eine sociale Wissenschaft" erinnert und daran, dass er als Arzt und Gesundheitspolitiker bereits 1892 Defizite in der psychiatrischen Versorgung anprangerte.

Merkwürdig bleibt, dass die Vorbemerkungen nicht näher darauf eingehen, was die deutsche Psychiatrie und Kulenkampff, einer ihrer innovativsten Vertreter, schon 1970 in Angriff genommen hatte: die Mitarbeit in der Enquetekommission des Deutschen Bundestages mit ihm als Vorsitzenden; sie leitete nach langen Debatten 1975/76 die Psychiatriereform ein. Auch in der Soziologie dürstete alles nach Reformen, vor allem nach politischen und sozialen, und beeinflusst von dem, was etwa Franco Basaglia, David Cooper, Gregory Bateson und Erving Goffman bereits veröffentlicht und gefordert hatten.

Das Heft ist übersichtlich in sechs Teile gegliedert, jeder umfasst zwei bis vier Beiträge von jeweils 10-20 Seiten. Neben einer "Einführung in die Problemstellung" mit Texten von Helga Reimann und Manfred Grunt gibt es Darstellungen - in dieser Abfolge - unter den Rubriken "Zur Epidemiologie und Ökologie psychischer Erkrankungen", "Einstellungen zu psychisch Kranken und psychiatrischen Institutionen", "Alkohol, Alkoholismus und Formen institutioneller Therapie", "Zur Soziogenese psychischer Erkrankungen" sowie "Aspekte psychiatrischer Institutionen".

Schon auf den ersten Seiten wird klar, wie vielfältig und nah die Beziehungen zwischen der Soziologie und der Psychiatrie sind, etwa durch die unbestreitbaren sozialen Faktoren und Prozesse, die zu psychischen Krankheiten führen können. Zu nennen sind ebenso soziale Aspekte bei Therapien und die sozialen Bedingungen, die die Kliniken und deren gesamtes Personal betreffen. Etliche führende französische und - später - amerikanische Sozialforscher haben sich mit diesen Fragen befasst. Die Reihe ihrer Publikationen dazu ist stattlich; auf sie greifen viele Aufsätze dieses Bandes zurück.

Wie unter dem sozialwissenschaftlichen Blick zwingend, wird die Rolle der sozialen Schicht für das Entstehen und Behandeln von Krankheiten ausführlich dargestellt, so von Michael Wilken und Werner Rüther. Neben Literaturüberblicken gibt es dazu die Resultate samt Interpretation der zahlreichen Daten, die konkret über die Grafenberger Patientinnen und Patienten und deren Familien gewonnen wurden. Es waren damals rund 1 600 in 40 Abteilungen, viele noch in Sälen mit bis zu 30 Betten untergebracht; der Aufsatz von Friedrich-Wilhelm Reinhardt stellt diese Klientel den Patienten einer anders orientierten psychiatrischen Anstalt (in Neuß) gegenüber. Zwei Beiträge von Jutta Hammel und Dietrich Fischer machen klar, welche Bedeutung der Soziogenese als Teil der Pathogenese, der Familiensituation und der Arbeitswelt der Patienten zukommt.

Zu einer soziologischen Betrachtung gehört zwingend auch das, was bis heute unter den Begriff Stigmatisierung fällt, darunter die Kernfrage, wie die Öffentlichkeit psychiatrische Patienten, Therapeuten und Kliniken beurteilt. Welche Etiketten werden vergeben, welche Klischees herrschen vor, welche Bilder vermitteln die Medien, was geschieht eigentlich Tag für Tag in diesen Häusern? Dazu finden sich hier, von den berühmten Cummings-Studien (seit 1951) ausgehend, grundlegende wie auch nur auf Grafenberg bezogene Ausführungen etwa von Helga Reinhardt-Schnadt, Rolf Marx und Wolfgang Stumme.

Eine Rolle spielt dabei das Schlagwort "totale Institution", das Goffman neben Schulen, Heimen und Haftanstalten auch für Krankenhäuser aller Art prägte. Heftig kritisiert wird das, was "etwas hochtrabend als industrielles Rehabilitationszentrum bezeichnet wird" - die Arbeitstherapie. Die Autoren äußern sich empört über den Stundenlohn von 0,17 DM für Arbeiten, den "die Stellenpläne der Landeskrankenhäuser von vornherein mit einkalkulieren" und aus dem die Träger offenbar deutliche Gewinne erwirtschaften - auch mit der Folge, dass die Patienten deshalb "womöglich in der Institution festgehalten werden".

Bei solchen Passagen verlassen die teilnehmenden, kühl analysierenden Beobachter ihre sonst meist nüchterne Sprache und werden zu Anklägern. Dabei nutzen sie aber zu wenig die Möglichkeit, die Betroffenen selbst einmal über deren Einstellungen sprechen zu lassen; allzu vorherrschend sind die starren Kategorien ihrer Fragebögen und Tabellen, die Begrifflichkeiten der Fachliteratur.

Kritik herrscht auch vor in den abschließenden Artikeln zu Organisationsproblemen bei psychisch Alterskranken (deren enorme Zunahme wird bereits damals betont) von Robert Zimmermann und Kurt Behrends sowie zur Ausbildung und Sozialisation von Krankenschwestern in der Psychiatrie, geschrieben von Rainer Kukla. Dabei treten erhebliche Defizite zutage, die geradezu eine Gegnerschaft zwischen Schwestern und Patienten offenbaren. "Die älteren Schwestern glauben immer", so die Äußerung einer jüngeren Kollegin, "man müsste mehr putzen. Wenn man gut putzen kann, ist man eine gute Schwester. Den jungen Schwestern wird dann übelgenommen, wenn sie sich mit Patienten beschäftigen. Das wird als Faulheit angesehen."

Gilt das heute auch noch, 35 Jahre später? Es ist zu hoffen - und anzunehmen, dass der damit verbundene (Bewusstseins-)Wandel auch ein Verdienst dieser Studien ist und des Mannes, der sie angeregt und so vehement unterstützt hat.

Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 25. Jahrgang 1973, Heft 2, Seite 229-498. Westdeutscher Verlag, Opladen.

Eckart Klaus Roloff, Bonn

Email: ekroloff@web.de