Zentralbl Chir 2008; 133(1): 39-45
DOI: 10.1055/s-2008-1004667
Übersicht

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Die Entwicklung des Gesundheitssystems zwischen Ökonomisierung und sozialer Gerechtigkeit

The Development of the Public Health System between an Increasing Market Orientation (Commercialisation) and Social ResponsibilityG. Trabert1
  • 1Armut und Gesundheit in Deutschland e. V., Mainz
Further Information

Publication History

Publication Date:
18 February 2008 (online)

Zusammenfassung

Die Entwicklung des Gesundheitssystems zwischen Ökonomisierung und sozialer Gerechtigkeit wird am Beispiel der Versorgungssituation und dem Umgang mit sozial benachteiligten Menschen kritisch reflektiert. Armut nimmt in Deutschland deutlich zu. Es gibt gesicherte Erkenntnisse zur Korrelation zwischen Armut und Krankheit. Armut führt zu erhöhten Erkrankungsprävalenzen und Mortalitätsquoten. Chronische Erkrankungen verursachen umgekehrt häufig eine finanzielle Verarmung. Diesem Kontext wird sowohl in der Öffentlichkeit als auch in der Fachöffentlichkeit und insbesondere innerhalb gesundheitspolitischer Überlegungen zu wenig Beachtung geschenkt. Durch einen philosophischen Exkurs wird „vernünftiges Verhalten” (Kant) und „kommunikatives Handeln” (Habermas) in Bezug zur derzeitigen Gesundheitsdebatte und der Ausblendung und Nichtberücksichtigung der Lebenssituation von Armut betroffener Menschen hinterfragt. Weitere gesellschaftliche Kräfte, wie z. B. die Pharmaindustrie, Ärzteschaft, Patienten und Wissenschaft, die neben den politisch strukturellen Bedingungen bzw. auf diese Strukturen Einfluss nehmen, im Hinblick auf die Gesundheitsversorgung, werden ebenfalls kritisch thematisiert. Welchen Prämissen folgt eine von Ökonomie beherrschte Gesundheitsversorgungsdebatte, gerade im Kontext eines humanistisch-christlichen Selbstverständnisses und einer sich hieraus entwickelten Verantwortung schwächeren Gesellschaftsmitgliedern gegenüber? Werden Entscheidungsträger und Gesundheitsakteure auf der Handlungsebene diesen ethischen Herausforderungen gerecht? Welche Rolle spielt der so genannte „soziale Frieden” für das gesellschaftliche Miteinanderumgehen, aber auch die Wirtschaftskraft eines Staates betreffend? Ökonomisierung ist nur auf dem Boden einer praktizierten sozial gerechten Mitmenschlichkeit zu akzeptieren. Sozial benachteiligte Menschen benötigen unsere Solidarität im Hinblick auf eine menschenwürdige Gesundheitsversorgung. Diese Parteinahme fängt bei jedem Einzelnen, im eigenen sozialen und beruflichen Kontext, im subjektiven Denken und Handeln an.

Abstract

The development of the public health system between an increasing market orientation (commercialisation) and social responsibility is critically reflected by examining the medical care of those who are deprived. Poverty in Germany is dramatically increasing. There are confirmed findings on the correlation of being poor and being ill. Poverty leads to an increased number of cases of illness and a higher mortality rate. And vice versa, chronic illnesses very often cause impoverishment. This correlation has largely been ignored not only by the public but also by experts, especially when public health-care issues are on the political agenda. With reference to the current discussion about public health-care and the widespread disregard of the living conditions of the poor, the categories of “reasonable behaviour” (Kant) and “communicative behaviour” (Habermas) are reflected on in a philosophical excursion. Further interest groups affecting the political sphere, such as the pharmaceutical industry, the medical profession, patients and scientists are also examined with regard to public health-care. What are the premises of a health-care discussion that is controlled by economic considerations, particularly when keeping in mind the humanistic and Christian ethics of our society? And what does this mean for our responsibility for those who are handicapped and are in need of our help? Do decision makers and participants of the health-care discussion satisfy these ethical challenges? And what are the effects of the so-called “social peace” on social cooperation and economic power of a country? The increasing market orientation (commercialisation) of the public health sector can only be accepted on the basis of practiced humanity and social responsibility. In the light of a human public health-care, deprived people are in need of our solidarity.

Literatur

  • 1 Deutscher Kinderschutzbund (DKSB) .Veröffentlichungen anhand von Pressemitteilungen am 20.11.2006 und 30.8.2006
  • 2 DPWV (Hrsg). Expertise. Der Vorschlag des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes für einen sozial gerechten Regelsatz als sozialpolitische Grundgröße. Berlin 2006
  • 3 EvB. Erklärung von Bern (EvB) und Pro Natura Pressekonferenz am 11.1.2007 zur Verleihung des Public Eye Awards an den Pharmakonzern Novartis. 2007
  • 4 Hohmann J. Gesundheits-, Sozial- und Rehabilitationssysteme in Europa. Gesellschaftliche Solidartität auf dem Prüfstand. Hans Huber, Bern 1998
  • 5 Klee E. Deutscher Menschenverbrauch. In: Die Zeit Nr. 49 am 28.11.1997
  • 6 Lampert T, Kroll L. Einfluss der Einkommenserwartung auf die Gesundheit und Lebenserwartung. Discussion Papers 527; DIW Berlin. Berlin 2005
  • 7 Mielck A (Hrsg). Krankheit und soziale Ungleichheit. Ergebnisse der sozialepidemiologischen Forschung in Deutschland. Leske & Budrich, Opladen 1991
  • 8 Mielck A, Satzinger W, Helmert U. Gesundheitspolitische Reaktionen in der Bundesrepublik Deutschland auf das Problem „Armut und Gesundheit”.  Zeitschrift für Gesundheitswissenschaften. 1995;  2 Beiheft 39-53
  • 9 Mielck A. Soziale Ungleichheit und Gesundheit (Empirische Ergebnisse, Erklärungsansätze, Interventionsmöglichkeiten). Hans Huber, Bern 2000
  • 10 Müller U, Heinzel-Gutenbrunner M. Armutslebensläufe und schlechte Gesundheit - Kausation oder soziale Selektion?. Untersuchungsergebnisse vorgestellt auf dem 104. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin, April 1998 in Wiesbaden (Philipps-Universität Marburg)
  • 11 Niehoff J-U. Sozialmedizin systemisch. 1. Auflage, Berlin 1995
  • 12 Rosenbrock R, Gerlinger T. Gesundheitspolitik. Eine systematische Einführung. In: Huber (Hrsg), 1. Auflage, Kempten 2003
  • 13 Siegrist J. Soziale Ungleichheit und Gesundheit: neue Herausforderungen an die Präventionspolitik in Deutschland. Hrsg.: Bundesvereinigung für Gesundheit e. V. In: Forum Gesundheitsförderung. Neue Herausforderungen an eine Politik der Gesundheitsförderung. Bonn 1994
  • 14 Soumerai S et al. Effects of Medicaid Drug-Payment. Limits on Admission to Hospitals and Nursing Homes.  N Engl J Med. 1991;  325 1072-1077
  • 15 Soumerai S et al. Effects of limiting medicaid drug-reimbursement benefits on the use of pychotropic agents and acute mental health services by patients with schizophrenia.  N Engl J Med. 1994;  331 650-655
  • 16 Spiegel Online. Der „Vater der Armen” ist tot. 22.1.2007 Artikel zum Tode von Abbè Pierre
  • 17 Statistisches Bundesamt. Armut und Lebensbedingungen Ergebnisse aus LEBEN IN EUROPA für Deutschland 2005. Wiesbaden 2006
  • 18 Tamblyn et al. Adverse events associated with prescription drug cost-sharing among poor and elderly persons.  JAMA. 2001;  285 421-429
  • 19 Trabert G. Soziales Umfeld beeinflusst Gesundheitszustand.  Deutsches Ärzteblatt. 1995;  92 748-751
  • 20 Trabert G. Gesundheitsstatus und medizinische Versorgungssituation von alleinstehend, wohnungslosen Menschen. In: Das Gesundheitswesen, 59. Jahrgang, Juni 1997; 378-386
  • 21 Trabert G. Kinderarmut Zwei-Klassen-Gesundheit.  Deutsches Ärzteblatt. 2002;  99 93-95

Prof. Dr. med. Diplom Sozialpädagoge G. Trabert

Armut und Gesundheit in Deutschland e. V.

Barbarossastr. 4

55118 Mainz

Phone: 0 61 31 / 6 27 90 71

Email: Gerhard.Trabert@ohm-hochschule.de

    >