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DOI: 10.1055/s-2007-993130
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York
Christlicher Glaube und Medizin - Stationen einer Beziehung
Christian beliefs and medicine: stations of a relationshipPublication History
Publication Date:
12 December 2007 (online)
Krankheiten sind auch heute noch paradigmatische Chiffren für Unsicherheiten und motivieren zu vielfältigen Deutungen. Besonders dort, wo das Expertenwissen der Medizin keine Hilfe bietet, werden unterschiedliche Deutungsperspektiven herangezogen - darunter auch religiöse. Diesem lebensweltlichen Sachverhalt steht freilich das Ideal der Medizin entgegen, Krankheiten emotionslos zu betrachten. Krankheiten erscheinen hier als sinnfreie Phänomene. Die vom Patienten als Katastrophe erlebte Krankheit ist für die moderne Medizin nur eine zufällige Überschwemmung durch Mikroorganismen. Am konkreten Kranken versagt aber das Modell eines biologischen Zufalls. Demnach gilt: Die medizinische Diagnose schafft ein Deutungsvakuum. Dem Betroffenen bleibt seine Krankheit oft unverständlich. Die Medizin ist in ihrer Ursprungssituation - dem Arzt-Patienten-Gespräch - de facto auf eingespielte soziale Deutungsmuster angewiesen. Deshalb stellt sich die Frage: Sind alle Deutungen von Krankheit medizinisch gleich gültig?
Angesichts des Deutungsvakuums lebt die archaische Erklärung von Krankheit wieder auf: Schuld. Weit verbreitete psychologische Krankheitstheorien sprechen dem glücklosen Kranken letztlich die Verantwortung für die Erkrankung zu. Kranke quälen sich mit der Annahme von eigener Schuld. Insbesondere in der Onkologie ist das nachgewiesen. Werden damit uralte religiöse Vorstellungen revitalisiert? Die amerikanische Kulturkritikerin Susan Sontag etwa vertritt in ihrem Buch „Krankheit als Metapher” die These, dass dort, wo eine Krankheit „wie der Feind in einem modernen Krieg” verstanden wird, „der Schritt von der Dämonisierung der Krankheit zur Schuldzuweisung an den Patienten zwangsläufig” sei [7].
Damit scheint eine gängige religiöse Deutung von Krankheit wiederaufzuleben: Krankheit wird als Strafe Gottes verstanden. Gemäß einem Tun-Ergehens-Zusammenhang, nach dem sich das Verhalten des einzelnen Menschen in seinem körperlich sichtbaren Leiden spiegelt, wird dem kranken Menschen seine Krankheit als selbstverschuldete Folge seiner Sünde zugerechnet. Diese im Alten Orient verbreitete Auffassung findet sich etwa in Psalm 38,4: „Es ist nichts Gesundes an meinem Leibe wegen deines Drohens und nichts Heiles an meinen Gebeinen wegen meiner Sünde”. Die Krankheit wird freilich nicht nur als Folge der Sünde verstanden, sondern - schlimmer noch - als Zeichen der mangelnden Reue gedeutet. Würde der Kranke seine Sünden ernsthaft bekennen, würde Gott ihm vergeben - und des zum Zeichen seine Krankheit schwinden. So aber zeigt die Krankheit an: Der Kranke ist in der Sphäre der Sünde verhaftet, die sich körperlich manifestiert.
Entsprechend rieten noch die altprotestantischen Prediger den Kranken, dass sie, bevor sie einen Arzt aufsuchen, zunächst in der Beichte ihre Sünde bekennen, Gott um Milderung der Krankheit bitten und sich die Sünden vergeben lassen sollten. Denn wenn die Krankheit als Sündenstrafe verstanden wird, dann „ist es vnmüglich/ daß man derselben vberhaben seye/ oder wider abkomme/ es seye dann/ daß die Sünden erkennet vnd bereuet werden” [6].
Indem der Pietismus diese Sicht im Wesentlichen übernahm und verbreitete, wirkte er einer Entzauberung von Krankheit und Heilung nachhaltig entgegen. Noch nach Friedrich von Boldelschwingh, dem Gründer der Anstalten von Bethel, soll ein kranker Mensch „Gott ernstlich nach der Ursache solcher Heimsuchung” fragen, weil „alle Krankheit Folge der Sünde” sei.
Demgegenüber betonte Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (Abb. [1]), der Kirchenvater der modernen Theologie, in seinem Buch „Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt” [5]: „(K)eineswegs […] darf man des Einzelnen Uebel auf seine Sünde als auf ihre Ursache beziehn” (§ 77 Leitsatz, 479). Christus selbst habe nämlich gelehrt, „daß natürliche Uebel, und zufällige von der Art daß man sie fast nur den natürlichen beigesellen kann, gar nicht mit der Sünde des Einzelnen, sofern man diese isolieren kann, so in Verbindung stehen, daß diese nach jenen gemessen werden dürfte” (§ 77, 481). Obwohl Krankheit objektiv betrachtet nach Schleiermacher keine Folge der Sünde ist, leugnet er keineswegs die Macht der religiösen Deutung von Krankheit als Schuld. Denn als Menschen unter der Macht der Sünde empfinden wir die Hemmungen unserer sinnlichen Verrichtungen als Übel - und deuten wir sie als Strafe. Da aber unser Gottesbewusstsein immer auch gehemmt bleiben wird, haben wir bleibend mit der Mächtigkeit der religiösen Deutung der Krankheit als Schuld zu rechnen. Sie bezieht ihre Macht letztlich von der bleibenden Macht der Sünde. Wo keine Sünde wäre, würden wir Krankheit so nicht deuten (vgl. § 76, 476f.).
Abb. 1 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768- 1834).
Kirchliches Handeln wird sich deshalb in zweifacher Form mit dieser religiösen Deutung von Krankheit auseinandersetzen: Sie wird zum einen - in Predigt und Lehre - immer wieder darauf hinweisen, dass Krankheiten, „auch die stärksten Mißverhältnisse dieser Art nicht Strafen sind” (§ 76, 478). Dennoch müssen auch die Gebildeten unter den Gläubigen stets damit rechnen, dass sie in der konkreten Situation schwerer Erkrankung aufgrund ihres gehemmten Gottesbewusstseins sich ihre Krankheit wiederum als Schuld zurechnen werden. Da die Macht der religiösen Deutung also nicht durch Aufklärung vollständig zu brechen ist, wird neben das pädagogische Handeln der Kirchen das sündenlösende treten müssen. Deshalb kann Christus, der über den Blindgeborenen, also in pädagogischer Absicht in Joh 9 sagt: „Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern”, in Mk 2 zu dem Gelähmten in seelsorgerlicher Absicht sprechen: „Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben”.
Indem Schleiermacher biblisch-jesuanische Impulse aufgreifend den behaupteten Zusammenhang von Sünde und Krankheit löst, d. h. zwischen objektiven Sachverhalten und subjektiven Deutungen von Übeln unterscheidet, eröffnet er der akademischen Medizin einen Freiraum, in dem sie ohne theologische Vorgaben frei forschen kann. Er wiederholt damit im Grunde eine Operation, die schon das frühe Christentum vollzogen hat - auch wenn uns diese Analogie erst seit einigen Jahren wieder vor Augen steht.
Das frühe Christentum musste sich nämlich einerseits zur Ausdifferenzierung einer rationalen Medizin aus den Heilkulten, die sich v. a. mit dem Namen Hippokrates (Abb. [2]) verbindet, und andererseits zum Nebeneinander von rationaler Medizin und religiöser Krankheitsdeutung in Beziehung setzen.
Abb. 2 Asklepios aus dem Palazzo Pitti.
Wissenschaftliche Medizin spielte im griechisch-römischen Kulturkreis und im hellenistischen Judentum für den professionellen Umgang mit Krankheiten eine grundlegende Rolle. Für sie war es charakteristisch, dass sie sich von religiösen Krankheitsdeutungen löste. So gibt es im „Corpus Hippocraticum” zwei Traktate, die die Frage berühren, ob man bestimmte Krankheiten auf einen göttlichen Ursprung zurückführen muss: Die Abhandlungen „Über die Umwelt” (Littré II, 76) und „Über die heilige Krankheit” (MorbSacr, Littré VI, 356 - 364). Beide sind sicherlich nicht einem einzigen Autor zuzuschreiben. Inhaltlich berühren sie sich jedoch an einem entscheidenden Punkt: Eine Krankheit heiligen oder gar göttlichen Ursprungs gibt es nicht, denn alles wird entsprechend den Naturgesetzen hervorgebracht. So eröffnet der Verfasser die Schrift „Über die heilige Krankheit” folgendermaßen: „Um nichts halte ich die Krankheit für göttlicher als die anderen Krankheiten oder für heiliger, sondern sie hat eine natürliche Ursache wie die übrigen Krankheiten.” (MorbSacr 1,1) Nicht die Krankheit, sondern allein die Gottheit ist von Reinheit und Heiligkeit umgeben. Schon deshalb sei keineswegs eine Gottheit die Ursache für die Krankheit. Diese Zuschreibung erfolgt allein durch ein Deutungsvakuum: „Diese Menschen wählten die Gottheit als Deckmantel für ihre Hilflosigkeit; denn sie hatten nichts, mit dessen Anwendung sie helfen konnten; und damit ihre Unwissenheit nicht entdeckt würde, brachten sie auf, dass diese Krankheit heilig sei.” (MorbSacr 1,11). Das Deutungsvakuum hinsichtlich der Krankheit verbindet sich nach dem Verfasser mit einem zweiten Moment, nämlich der Schuldfrage, die dieser dann schlicht folgendermaßen zusammenfassen kann: „So aber ist nicht mehr das Göttliche Schuld, sondern etwas Menschliches.” (MorbSacr 1,25) Diese menschliche Schuld wird im Laufe der Schrift dann als vererbte Krankheit gedeutet: „In Wirklichkeit ist das Gehirn Schuld […].” (MorbSacr 3,1).
Legt man die genannten Schriften des „Corpus Hippocraticum” zugrunde, dann scheint sich die rationale Medizin ganz aus religiösen Bezügen gelöst zu haben. Doch einige wenige Quellen belegen ein Nebeneinander von rationaler Medizin und religiösem Heilkult.
So war Hippokrates auch als Asklepiade bekannt. Der Beiname führt uns zu dem Heilgott und Apollosohn Asklepios. Nicht nur Hesiod und Ovid zeugen von ihm [4]. Vom 4. Jh. v.Chr. an begegnet uns Asklepios in Tempelanlagen als Gott, der wie Zeus hilft, heilt, sieht, und so vor Unglücken bewahrt. Diese Qualitäten finden sich in der Bildkonstellation wider: Die Bildtradition repräsentiert ihn als mit dem Himation bekleideten (älteren) bärtigen Mann, der häufiger größer als die ihn umgebenden Menschen dargestellt wird (Abb. [3]). Berührungen der Kranken, die erhobene linke Hand, die einen direkten Bezug zu dem Kranken ausdrückt oder der heilende Biss der Schlange zeugen von Hilfe und Heilung der Kranken. Einige Reliefs bezeugen das religiöse Erleben der göttlichen Macht. Friedolf Kudlien hat in seinem Aufsatz „Beichte und Heilung” [3] gezeigt, dass Beichte und Buße - im antik-religiösen Verständnis - mit der Erfahrung der religiösen Heilmacht einhergehen können. Explizite Belege finden sich in Epidauros, wo der Terminus „homologese” inschriftlich überliefert ist. Eine weitere Tempelanlage ist uns auch in räumlicher Nähe zu dem Heilzentrum der hippokratischen Medizin auf Kos erhalten. Über das Verhältnis zwischen beiden Zentren, dem der Tempelreligion und dem der wissenschaftlichen Medizin ist seit der Ausgrabung des Asklepieons 1904 viel spekuliert worden, doch sichere Erkenntnisse sind uns nicht überliefert.
Abb. 3 Asklepios als mit Himation bekleideten älteren Mann. Zeichnung: Y. Weber, Heidelberg.
Auch eine im „Corpus Hippocraticum” erhaltene novellenhafte Darstellung in Briefform versucht eine Verhältnisbestimmung zwischen dem Heilkult des Asklepios und der rationalen Medizin der Hippokratiker. Sicherlich handelt es sich hier nicht um eine originär hippokratische Schrift; aber sie vermag doch zu zeigen, dass ein Bezug zwischen Tempelmedizin und wissenschaftlicher Medizin als erklärungsbedürftig angesehen wurde. Der Brief berichtet von einem Fest, das mit einer alljährlichen Wallfahrt der Schüler des Hippokrates zu dem heiligen Zypressenhain in der Nähe beider Heilstätten begangen wurde. Dass die Wallfahrt zu einem Zypressenhain führte, ist sicherlich nicht als Zufall zu werten, galt die Zypresse als Sinnbild für Apollo, den Vater des Asklepios. Im Zentrum des Festes stand das „Aufheben des Stabes”: Der Stab ist als Symbol des Äskulapstabes zu werten, ein Symbol, das auf vielen Abbildungen von Asklepios zu sehen ist. Das Aufheben und Heimbringen des Stabes könnte als symbolische Hinwendung der rationalen Medizin zu dem Ursprung Apollon und Asklepios darstellen. Dass auch der Stab aus Zypressenholz war, kann angenommen werden und zeigt somit das Bewusstsein der Zugehörigkeit zum Asklepiadengeschlecht und letztlich der Göttlichkeit des Ärztegeschlechts und seiner Glieder. Die Wallfahrt zeigt: Wissenschaftliche Medizin und Tempelmedizin schließen sich nicht aus. Sie ergänzen sich gegenseitig in ihren Ansätzen. Religiöse Deutungen von Krankheit und wissenschaftlich-medizinisches Wissen scheinen in der Antike nicht unbedingt als Konkurrenz wahrgenommen worden zu sein. Auch wenn man den pseudepigraphen Charakter der Schrift Rechnung trägt, macht die Novelle doch eines deutlich: Im Bewusstsein der Antike war ärztliche Kunst und göttliche Tradition eng verbunden. Ein Mosaik aus dem 2. Jh. n. Chr. vermag die Verbindung der beiden Traditionen, die Verbindung von Hippokrates und Asklepios, nochmals zu verdeutlichen (Abb. [4]).
Abb. 4 Zeichnung eines Mosaiks aus dem 2. Jh. n.Chr: Die Verbindung von Hippokrates und Asklepios. Zeichnung: Y. Weber, Heidelberg.
Das frühe Christentum hat sich auf vielfältige Weise zu diesen Diskursen in Beziehung gesetzt, freilich jedoch anfangs eher implizit: Auf eine Auseinandersetzung mit dem Heilkult des Asklepios treffen wir wahrscheinlich im Neuen Testament in der Apostelgeschichte 28, wo der Apostel Paulus nach seiner Errettung vom Schiffbruch und seiner Verschonung von einem Schlangenbiss als Gott und Retter bezeichnet wird. Die Erfahrungen, die Paulus rund um den Schiffbruch macht, lassen eine Nähe zur Asklepiostradition vermuten. Ähnlich wie Asklepios muss Paulus seiner Mission nach Rom folgen und fungiert als Seher. Denn er hat vorausgesagt, dass ein Schiffbruch die Mannschaft gefährden wird. Außerdem zeigt Paulus, ähnlich wie Asklepios Macht über die Schlange. Aber er zerstört sie! Und ähnlich wie Asklepios kommt Paulus die Fähigkeit zu heilen zu. Doch die Heilkraft bezieht er nicht aus sich selbst. Er erfährt sie im Gebet. All diese Bezüge legen eine Nähe von Apg 28 zu der Asklepiostradition nahe.
Ein Zitat des christlichen Apologeten Justin (155 n. Chr.) belegt, dass die Auseinandersetzung mit dem Heilkult des Asklepios in der Alten Kirche noch vertieft wurde. Es steht im Kontext der Erläuterung der Funktion Christi für „heidnische” Zeitgenossen. „Wenn wir sagen, (Christus) habe Lahme und Gichtbrüchige und von Geburt Kranke gesund gemacht und Tote auferweckt, so möge das ähnlich und gleich gehalten werden dem, was als Taten des Asklepios erzählt wird” (Apol. I, 22,6). Beide, Asklepios und Christus, wurden als Soter, als Retter, bezeichnet. Um eine Verhältnisbestimmung zwischen dem Arzt Jesus und dem Heiler Asklepios waren zudem Origenes und Eusebius von Caesarea bemüht, besonders im Kontext der Theodizee-Frage. Origenes bezieht sich im Kontext seiner Ausführungen zu anderen Heilkulten auf Asklepios. Er argumentiert auf zwei Ebenen: Wie schon eine Reihe von christlichen Apologeten vor ihm, verweist er auf die Menschlichkeit der griechischen Götter: „Von einigen gestehen sie (die Heiden) nämlich sogar zu, dass sie früher ‚Menschen’ waren und vergöttlicht worden sind. […] Asklepios verehren sie als einen, der sich von den Menschen her durch Tüchtigkeit zum Gott verwandelt hat” (Orig. hom. in Jer. V,3). In seiner Auseinandersetzung mit Celsus versucht er zudem eine Überbietung des Christentums in Bezug auf die Heilkompetenzen zu zeigen. Eusebius von Cäsarea kann Jesus Christus schlicht als „den besten der Ärzte” bezeichnen: „Wie der beste der Ärzte um der Heilung der Kranken willen die Übel untersucht, Ekelerregendes berührt und bei fremdem Leid selbst Schmerz empfindet, so hat er uns, die nicht nur krank waren und an furchtbaren Geschwüren und bereits eiternden Wunden litten, sondern schon unter den Toten lagen, aus der Höhle des Todes zu sich errettet” (Eus. h. e. X 4,11).
Es ist nun bemerkenswert, dass eine Reihe von medizinischen Instrumenten und Medizinschränkchen den theologiegeschichtlichen Aspekt verstärken, indem diese Christus, den Arzt, als göttlichen Heiler darstellen. Christus nimmt dabei sowohl den Platz von Asklepios, als auch den der Hygieia, der Tochter des Asklepios, ein (Abb. [5]).
Abb. 5 Arzneischrank Christus.
Daneben treffen wir auch auf eine Aufnahme der rationalen Medizin. Insbesondere der Evangelist Lukas hat sich ihr weit geöffnet. Zwar berichten alle Evangelisten, dass Jesus „als Arzt und Heiland aufgetreten” sei, aber einzig Lukas hat nach dem großen Kirchenhistoriker Adolf von Harnack diesen Aspekt „in den Vordergrund geschoben und diese Tätigkeit Jesu für die wichtigste gehalten” [8]. Harnack begründete das damit, dass Lukas Arzt gewesen sei.
In der Tat hat nicht nur die altkirchliche Überlieferung den Verfasser des dritten Evangeliums mit Lukas, dem Arzt, (Kol 4,14) identifiziert, sondern weist auch das Evangelium selbst eine medizinische Bildung seines Verfassers aus [9]. So korrigiert Lukas etwa in der Erzählung von der Heilung des Knaben mit den epileptischen Phänomenen (Lk 9,37 - 43) die medizinisch nicht kohärente Schilderung des Markusevangeliums (Mk 9,14 - 29). In der antiken Medizin sind zwei verschiedene Modelle „epileptischer Phänomene” bekannt. Beide Modelle gehen von einer Schädigung des Gehirns durch Körperflüssigkeiten aus, die ihre Ursache in der Stockung der Atemluft in den Adern habe. Die eine Form gehe mit einem auffälligen Anfall mit Zähneknirschen etc. einher, für die andere Form ist Erstarrung symptomatisch. Während im MkEv beide Modelle nebeneinander erwähnt werden, was vor dem Hintergrund antiker Medizin kaum plausibel war, verzichtet der Verfasser des LkEv auf Symptome, die von einer Erstarrung des Jungen berichten und beschränkt sich auf einen durch Phlegma verursachten Anfall. Jesus wird dementsprechend nicht als Exorzist, sondern als Arzt präsentiert.
Die Wahrnehmung Jesu als Arzt prägt auch sonst die lukanischen Heilungserzählungen: Wie in Lk 9 die epileptischen Phänomene so dargestellt werden, dass sie vor dem Hintergrund antiker Medizin ein plausibles Krankheitsbild ergeben und also als Indikatoren einer Krankheit gedeutet werden können, so ist bei Lukas das entsprechende Handeln Jesu als heilendes dargestellt. Anders als in seiner markinischen Vorlage, in deren Zentrum ein Exorzismus steht, spricht Lukas bewusst von „heilen” (9,42). Dementsprechend verzichtet das LkEv auf eine direkte Anrede Jesu des sprachlosen Geistes als auch einen Hinweis auf einen Dämon als Krankheitsverursacher. Dieses stimmt auch mit Leviticus Rabbah überein, wo es ein Arzt und eben nicht ein Exorzist ist, der eine Person als von der Epilepsie geheilt anerkennt.
Es ist freilich interessant, dass Lukas, der Epilepsie im Rahmen der antiken rationalen Medizin versteht und die Heilung derselben der Medizin zuschreibt, dennoch einen Dämon erwähnt: „Jesus aber bedrohte den unreinen Geist und machte den Knaben gesund” (Lk 9,42). Eine Interpretation dieses Verses muss sich freilich immer der Doppeldeutigkeit des Begriffes Pneuma bewusst bleiben: So kann der unreine Geist sowohl auf eine dämonische Krankheitsinterpretation verweisen als auch im Sinne der rationalen Medizin als unreine Luft verstanden werden (MorbSacr 4,6). Folgt man freilich der Deutung des unreinen Geistes als eines Dämons, stellt sich die Frage, warum Lukas überhaupt einen Dämon erwähnt. Einen Hinweis gibt die Erzählung von der Heilung der Schwiegermutter des Petrus, die an hohem Fieber erkrankt war (Lk 4,39). Damit Jesus das Fieber ansprechen kann, stellt Lukas das Fieber als Dämon und damit als ansprechbare Person dar. So unterscheidet er zwischen der Person der Kranken und der Krankheit, die als eigenständige Person die Kranke gleichsam von außen überfällt. Gerade dadurch wird die Kranke von der religiösen Verantwortung für ihre Krankheit befreit. Damit ergibt sich der paradoxe Sachverhalt, dass die Einführung eines Dämons der Entdämonisierung der Krankheit dienen soll. Entsprechend dient die Erwähnung des Dämons in der lukanischen Erzählung von der Heilung des epileptischen Knaben dazu, die Ursache der Krankheit nicht im Kranken und dessen vermeintlichen Sünden zu suchen, sondern als fremdverursacht verstehen zu können. Vor diesem Hintergrund erschließt sich die Doppeldeutigkeit des Begriffs Pneuma als bewusst gewollt: So ist der unreine Geist die die Krankheit verursachende schlechte Luft, die als Dämon ansprechbar wird.
Eine vergleichbare Operation findet sich in der Theologie des 20. Jh. bei Karl Barth (Abb. [6]). Unter Rückgriff auf die dämonologische Deutung von Krankheit bei Lukas schlägt er vor, Krankheit als „ein Moment des Aufstandes des Chaos gegen Gottes Schöpfung, ein Werk und eine Kundgebung des Teufels und der Dämonen” - als „ein Element und Zeichen der die Schöpfung bedrohenden Chaosmacht” zu verstehen. Angemessen erscheint ihm diese Deutung deshalb, weil sie zum einen festhält, dass wir es bei der Krankheit „mit einem wirklichen Widerpart zu tun” haben [1]. Wir haben es in der Krankheit mit einer uns bedrohenden Macht zu tun.
Abb. 6 Karl Barth im Dezember 1995 (Quelle: Karl Barth Archiv, Basel; Wikipedia. Foto: Maria Netter).
Indem die dämonologische Deutung von Krankheit diese Macht als „Chaosmacht” beschreibt, verdeutlicht sie zum anderen die Sinnlosigkeit der Krankheit. Der Widerstand, den die Krankheit eines Menschen seiner Gesundheit entgegensetzt, ist eben keineswegs ein Widerstand, an dem wir wachsen sollen - also ein Widerstand, den Gott aus pädagogischer Absicht letztlich doch wollen würde, sondern ein sinnloser, den es zu überwinden gilt. „Gott will das nicht, was den Menschen plagt, quält, stört und zerstört” (§ 64, 249). Die dämonologische Deutung von Krankheit hält also zugleich an der Realität und an der Sinnlosigkeit der Krankheit fest. Krankheit erscheint dem Menschen nicht nur sinnlos. Die dämonologische Deutung von Krankheit verdeutlicht, dass es in der Welt als solcher naturale Prozesse gibt, die sinnlos sind.
Sie identifiziert so bestimmte natürliche Prozesse, denen der Mensch jeglichen möglichen Widerstand entgegenzusetzen hat. Mit den Dämonen kann der Mensch sich nicht versöhnen, ihnen gegenüber ist Kampf angesagt. Das wird für Barth am deutlichsten an den Wundertaten Jesu. Eben deshalb stehe die Kirche „in der Nachfolge Jesu Christi im Kampf gegen die Krankheit und nicht im Frieden mit ihr” (§ 55, 421). So ergibt sich aus der dämonologischen Deutung von Krankheit eine besondere Nähe von Medizin und Religion. Ärztliche Heilkunst und christliche Verkündigung bilden eine Kampfgemeinschaft „des Glaubens und des Gebetes und der Tat gegen die Krankheit” (§ 55, 425).
Dient die Rede von den Dämonen dazu, den Menschen von der ihm von außen zugeschriebenen Verantwortung für seine Krankheit zu befreien - der Mensch ist Opfer seiner Krankheit - sprechen andere theologische Überlieferungen durchaus von einer Mitverantwortung des Menschen für seine Gesundheit. Verantwortliche Theologie zeigt sich freilich daran, dass sie diese Mitverantwortung nicht im Horizont von Sünde Gott gegenüber und Strafe Gottes thematisiert, sondern im Rahmen menschlicher Lebensführung und ihrer natürlichen Konsequenzen. Zugespitzt begegnet eine solche Sicht in der Lehre des Paulus vom Abendmahl.
Dass nach Paulus in Korinth viele Kranke und Schwache in der Gemeinde gibt, weil die Gemeinde das Abendmahl nicht recht feiert (1. Kor 11,29f.), ist oft so interpretiert worden, dass die Gemeinde in Korinth sich an Gott versündigt und deshalb von diesem mit Krankheiten bestraft wird. Die beiden Begriffe „krank” und „schwach”, die wir im Deutschen kaum differenzieren können, unterscheiden im Griechischen körperliche und seelische Schwäche und Siechtum. Gemeinsam aber ist beiden Begriffen, dass sie eine von Menschen verschuldete Schwächung des Körpers bedeuten. Entscheidend ist hierbei die Unterscheidung von Sünde und Schuld: Menschen ziehen sich diese körperliche bzw. seelische Schwächung nicht durch ein Vergehen Gott gegenüber zu, sondern sie schwächen sich selbst. Diejenigen, die beim Abendmahl prassen - zuviel essen anstatt auf die anderen zu warten, betrunken sind anstatt mit anderen zu kommunizieren - vergehen sich mit seelischen und körperlichen Folgen gegen sich selbst.
Ihr Verhalten ist freilich auch für die Gemeinde als ganze nicht folgenlos: „Denn wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit” (1. Kor 12,26). Dabei hat Paulus ganz konkrete Konsequenzen vor Augen: Wenn die einen schlemmen, hungern die anderen. Dadurch erkrankt der ganze Leib Christi - die einen selbst verschuldet, die anderen durch die Schuld der anderen. So gelesen will Paulus dafür sensibilisieren wahrzunehmen, wo Menschen Verantwortung für ihre eigene, aber auch die Gesundheit anderer haben.
Dabei fügen sich seine Ratschläge durchaus in das Programm einer antiken Diätetik ein: Zentral geht es Paulus dabei darum, dass die Gemeinde beim Abendmahl den Leib achtet - den eigenen, den Leib der Gemeinde und den Leib des gekreuzigten Christus. Der achtsame Umgang mit dem eigenen Leib zeigt sich nach Paulus darin, dass Menschen sich nicht dem individuellen Genuss hingeben, sondern in gemeinsamer Feier verdeutlichen, was ihnen durch ihre Leiblichkeit vorgegeben ist: dass sie aufeinander angewiesen sind. Da Leib biblisch Kommunikationsmedium ist, das mich anderen öffnet, pflege ich meinen Leib nur, wenn ich mich nicht anderen verschließe, sondern mich für ihre spezifischen Gaben öffne. „Wenn ihr zusammenkommt, so hat ein jeder etwas beizutragen” (1. Kor 14,26).
Der achtsame Umgang mit dem Leib der Gemeinde zeigt sich darin, dass die Gemeinde ihr Handeln an denen orientiert, „die uns die schwächsten zu sein scheinen” (1. Kor 11,22). Dadurch werden Menschen mit Krankheiten und Behinderung keineswegs auf ihre Begrenzungen festgelegt: Paulus spricht nicht von den Schwachen, sondern von denen, die uns die schwächsten zu sein scheinen. Aber die Begrenzungen brauchen auch nicht schamhaft verborgen werden, sie sollen vielmehr so integriert werden, dass sich ihrer niemand schämen braucht: „Die, die uns am wenigsten ehrbar zu sein scheinen, die umkleiden wir mit besonderer Ehre” (1. Kor 12,23).
Gerade in ihrer Orientierung an den Gaben und Schwächen ihrer einzelnen Glieder achtet die Gemeinde dann auch den Leib ihres Herrn Jesus Christus, der für jeden einzelnen von ihnen in den Tod gegeben wurde, damit sie alle auf einzigartige Weise an seinem Leben Anteil haben.
Die Tradition der Diätetik ist in der Theologie des 20. Jahrhunderts nicht mehr aufgegriffen worden. Diese Schwäche der wissenschaftlichen Theologie dürfte dazu beigetragen haben, dass heute viele Menschen in unserem Kulturraum Lebenslehren anderer Weltregionen für sich fruchtbar zu machen versuchen. Möglicherweise lassen sich aber Einsichten, die Dietrich Bonhoeffer (Abb. [7]) während seiner Zeit im Tegeler Gefängnis gewonnen hat, für den Umgang mit Krankheit fruchtbar machen. Weiterführend erscheinen dabei insbesondere Bonhoeffers Briefe, die er kurz vor und an Weihnachten 1943 an seine Eltern und seinen Freund Eberhard Bethge geschrieben hat. Bonhoeffer rechnet in dieser Zeit nicht mehr mit seiner baldigen Freilassung. Seine Eltern und Freunde überlegen zwar noch, wie sie den Prozess so beeinflussen können, dass er zu einem guten Ende führt, doch Bonhoeffer kritisiert dieses Verhalten scharf als „ein endloses Beraten ohne Handeln” [2]. Dem hält er entgegen: „Ich muß die Gewissheit haben können, in Gottes Hand und nicht in Menschenhänden sein zu können.” (S. 195)
Abb. 7 Plakette für Dietrich Bonhoeffer an der St. Matthäi-Kirche in Berlin-Tiergarten. (Quelle: Wikipedia. Foto: Andreas Steinhoff)
Für Bonhoeffer kommt alles darauf an, dass „man mit Gott Schritt hält und ihm nicht immer schon einige Schritte vorauseilt, allerdings auch keinen Schritt hinter ihm zurückbleibt” (S. 189). Zum einen warnt er davor, sich der Wirklichkeit durch infantile Träume zu entziehen. Wer meint, er dürfe bald die Seinen wiedersehen, obwohl es dafür keinerlei Anzeichen gibt, wer meint, er werde von Gott bald geheilt, obwohl alle Prognosen dagegen stehen, flüchtet in eine Scheinwelt und eilt Gott voraus. Genauso aber wie die Flucht in infantile Scheinwelten kritisiert Bonhoeffer eine vorauseilende Resignation, die ebenfalls nicht mit Gott Schritt hält, sondern hinter ihm zurückbleibt. Es geht Bonhoeffer um eine realistische Zuversicht, die sich mit verantwortlichem Handeln verbindet: „Man muß sich klar über das werden, was man will, man muß sich fragen, ob man es verantworten kann, und dann muß man es mit einer unwiderstehlichen Zuversicht tun. Dann und nur dann kann man auch die Folgen tragen” (S. 195).
Nach Bonhoeffer ermöglicht der Glaube dem Menschen, einen solchen Weg zwischen der Flucht in infantile Scheinwelten einerseits und der voreiligen Resignation andererseits einzuschlagen. Bonhoeffer versteht unter Glauben dabei konkret den christlichen Glauben, Glaube an Jesus Christus. In seinen Briefen aus den Weihnachtstagen 1944 entfaltet Bonhoeffer deshalb, was die Menschwerdung Gottes für den leidenden Menschen bedeutet.
Bonhoeffer erschließen sich in der Haft erstmals die Weihnachtslieder Paul Gerhardts. Besonders fasziniert ihn ein Vers aus „Fröhlich soll mein Herze springen”: „Nun er liegt in seiner Krippen/ ruft zu sich mich und dich,/ spricht mit süßen Lippen/ ‚Lasset fahrn, o liebe Brüder/ was euch quält, was euch fehlt, ich bring alles wieder’” (EG 36, 5). Wenn Gott Mensch wird, um das Verlorene zu suchen und wiederzubringen, dann kann der Glaube „mit Gott das Vergangene wieder aufsuchen” (S. 190). Der Mensch soll sich zwar nicht in seiner Vergangenheit verlieren, indem er sie immer fort betrachtet, aber die aufsteigenden Erinnerungen brauchen auch nicht verdrängt zu werden. Indem man sie in Dankbarkeit wahrnimmt, verwandelt sich „die Qual der Erinnerung in eine stille Freude” (S. 198). Voller Dankbarkeit kann Bonhoeffer seinen Eltern schreiben: „Ihr habt uns durch Jahrzehnte hindurch so unvergleichlich schöne Weihnachten bereitet, dass die dankbare Erinnerung daran stark genug ist, um auch ein dunkleres Weihnachten zu überstrahlen” (S. 185). Der Glaube löst den Menschen aus seiner Konzentration auf die gerade erfahrene Gegenwart und sammelt ihn wieder zur vollen Präsenz seines vergangenen und gegenwärtigen Lebens.
Der Glaube öffnet das eigene Leben mit seinen Grenzen zudem einer geistigen Überlieferung, die sich Lebenserfahrungen aus mehr als 3000 Jahren verdankt. Diese Erfahrungen bezeugen alle auf unterschiedliche Weise, „dass Gott sich gerade dorthin wendet, wo die Menschen sich abzuwenden pflegen” (S. 186). Der Trost der Menschwerdung Gottes erschließt sich Bonhoeffer, indem er sie als Gottes Kommen in die Situation der Gottverlassenheit, wie er sie in seiner Zelle und unzählige Kranke sie in ihrer Krankheit erleben, versteht. Das Leiden und das verachtete Leben erhalten so einen neuen Glanz. Bonhoeffer schreibt: Es „gibt durch jedes Ereignis, und sei es noch so ungöttlich, hindurch einen Zugang zu Gott” (S. 187). Dass Gott selbst ein mitleidender Gott ist, das schenkt allen Leidenden eine ihnen nicht zu nehmende Würde.
Dass Gott in das Leiden eintritt, nimmt dem Leiden freilich nicht seine Ungöttlichkeit. Gott nennt Gefangenheit und Krankheit nicht gut. Christus selbst schreit am Kreuz: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?”. Schlechte Seelsorge mag als Trost anbieten: „Du bist krank, dafür aber Gott besonders nah”, gute Theologie dagegen weist darauf hin, dass Gott die Situation der Gottverlassenheit in Gefangenschaft und Krankheit gerade nicht durch schlechte Sinnstiftung ausfüllt. „Es ist verkehrt, wenn man sagt, Gott füllt die Lücke aus; er füllt sie gar nicht aus, sondern er hält sie vielmehr gerade unausgefüllt” (S. 198). Der Mensch soll an seinen irdischen Wünschen festhalten, um eine Liebe zum Leben zu entwickeln, die dann nicht nur dem gesunden Leben gilt, sondern auch die schweren Stunden ertragen kann.
Nur angedeutet wird in den Weihnachtsbriefen von 1943 ein Gedanke, den Bonhoeffer im kommenden Jahr entfalten wird: „Christen stehen bei Gott in Seinen Leiden” (S. 382). Der Glaube bringt nicht nur die Erinnerung an erlebte Vergangenheit und das geistige Erbe von 3000 Jahren in die Situation der Krankheit und Gefangenschaft, er öffnet die eigene Existenz zugleich für das Leiden Gottes an der Welt und damit für die Nöte der anderen. Das ist der theologische Hintergrund eines Ratschlags, den Bonhoeffer seinem Freund schon 1943 schreibt: Es gelte in allem eigenen Leiden, „nach Möglichkeit sich für Nöte anderer Menschen offenzuhalten” (S. 188). Bonhoeffer selbst war im Tegeler Gefängnis deshalb nicht nur ein gesuchter Gesprächspartner (vgl. S. 192f.), sondern arbeitete zugleich an Plänen „einer gründlichen Reform der Strafjustiz” (S. 192).
Was leistet der Glaube für den gefangenen Christen Dietrich Bonhoeffer, aber auch für den kranken Menschen? Bonhoeffers Antworten sind fragmentarisch, aber sie weisen zentral auf dreierlei hin: Der Glaube, dass Christus alles wiederbringt, ermöglicht dem Glaubenden, sich seinen Erinnerungen zu stellen und sie in Dankbarkeit zu empfangen, so dass sie dem Menschen zu einer stillen Freude werden. Der Glaube, wie er in der jüdisch-christlichen Überlieferung gewachsen ist, öffnet die Situation des leidenden Menschen für Erfahrungen anderer, die ihm verdeutlichen, dass Gott sich dem zuwendet, von dem die Menschen sich abwenden. In dieser Zuwendung Gottes kann der leidende und verachtete Mensch seine Würde wiederentdecken. Indem der Glaube den Menschen auf das Leiden Gottes hinweist, ruft er ihn zugleich aus der Konzentration auf das nur eigene Leiden heraus und öffnet sein Leben für die Nöte der anderen. Die Gewissheit, in Gottes Händen zu sein, eröffnet dem gefangenen Dietrich Bonhoeffer einen weiten Lebensraum, stärkt in ihm die Liebe zu diesem Leben und ermöglicht ihm, auch die schweren Erfahrungen als Teil dieses Lebens durchzustehen. „Man muß es einfach aushalten und durchhalten”, schreibt Bonhoeffer in den Briefen aus seiner Haft (S. 198). Weil Bonhoeffer aber weiß, dass das die Kraft eines Menschen oft übersteigt (vgl. 202), schließt er seinen Weihnachtsbrief an den Freund mit den Worten: „Gott erhalte uns im Glauben” (S. 196).
Literatur
- 1 Barth K. Kirchliche Dogmatik III/ 4, Zollikon-Zürich 1951, § 55, 416.
- 2 Bonhoeffer D. Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft. hg. von E. Bethge, München. 1985
- 3 Kudlien F. Beichte und Heilung. Medizinhistorisches Journal. 1977/78; 12/13 1-14, 5f
- 4 Ovid Met. XV, 637-640 u. ö.; Pausanias II,27,2.
- 5 Schleiermacher F DE. Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange. 2. Aufl. (1820/21), UGA I / 13.1, Berlin/New York 2003
- 6 Sigwart J G. Drey Predigten. Von Dreyen Vnterschiedlichen Hauptplagen vnd Landstraffen. Tübingen 1611: 95-95
- 7 Sontag S. Krankheit als Metapher. Aids und seine Metaphern. Frankfurt 2003: 84
- 8 von Harnack A. Lukas der Arzt. Der Verfasser des dritten Evangeliums und der Apostelgeschichte, Beiträge zur Einleitung in das Neue Testament I. Leipzig 1906: 122
- 9 Weissenrieder A. Images of Illness in the Gospel of Luke. Insights of ancient medical texts. WUNT II/ 164, Tübingen. 2003 295 307 374
Dr. A. Weissenrieder
Dr. G. Etzelmüller
Wissenschaftlich-Theologisches Seminar, Universität Heidelberg
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