Flugmedizin · Tropenmedizin · Reisemedizin - FTR 2007; 14(2): 66-67
DOI: 10.1055/s-2007-985766
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Eine Zukunftsaufgabe für die Tropenmedizin - Migrantenmedizin in Deutschland

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Publikationsdatum:
03. August 2007 (online)

 
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Alle Menschen sind Ausländer - fast überall. In unserer globalisierten Gesellschaft ist dies keine ungewöhnliche Feststellung mehr. Verwunderlicher ist die Tatsache, dass es in Deutschland seit einiger Zeit keine Ausländer mehr gibt - zumindest nicht, wenn man sich politisch korrekt äußert. Sie heißen jetzt "Mitbürger mit Migrationshintergrund".

Das Ausländer-, Aufenthalts- und Asylbewerberleistungsgesetz ändert sich ständig, und eine Zunft von Juristen und Verwaltungsbeamten trägt dieser Tatsache Rechnung. Dabei haben die betroffenen Menschen aus unterschiedlichsten Gründen ihr Heimatland verlassen.

So gibt es politische oder wirtschaftliche Flüchtlinge, Asylbewerber, Spätaussiedler, Personen mit zeitlich befristetem Aufenthaltsstatus, Binnenmigranten, Illegale, ... Viele von ihnen sind mit ihren Kenntnissen und Fähigkeiten ihrem Heimatland verloren gegangen, der "brain drain" ist gerade für Afrika ein großes Problem.

Manche Ärzte, Sozialarbeiter und Mitglieder anderer Berufsgruppen haben sich seit geraumer Zeit intensiv mit Flüchtlingen beschäftigt. Zahlreiche Einzelpersonen, Vereine, Nichtregierungsorganisationen und Wohlfahrtsverbände engagieren sich für die Rechte von ausländischen Mitbürgern und setzen sich für bessere Lebensbedingungen dieser Bevölkerungsgruppe ein. Viele der hoch motivierten Helfer wissen nichts von der Arbeit der anderen und sind nicht miteinander vernetzt. Gerade in der medizinischen Versorgung gibt es keine allgemein anerkannten Standards. Für die Tropenmedizin könnte gerade diese Tatsache eine Zukunftsaufgabe sein.

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Medizinische Versorgung von Flüchtlingen und Asylbewerbern

Menschen, die in Deutschland - wenn sie denn je soweit kommen - einen Antrag auf Asyl oder Duldung stellen, warten bis zur endgültigen gerichtlichen Entscheidung über ihren Status oft Jahre. Mehr als 95 % von ihnen werden letztlich abgelehnt. In dieser Zeit der Ungewissheit sind sie Teil unserer Gesellschaft, ohne an ihr wirklich Anteil nehmen zu können.

Vielfach leben sie in sogenannten Gemeinschaftsunterkünften, dürfen sich nur in engen Grenzen frei bewegen und keine Anstellung annehmen. Sie haben Anspruch auf Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, das ihnen eine festgelegte Menge Nahrung, Hygieneartikel und Kleidung meist als Sachleistungen zuteilt. Sie bekommen noch ein monatliches Taschengeld von einigen Euro, das aber sofort gestrichen wird, wenn nicht aktiv bei der Beschaffung von Rückreisepapieren mit den Behörden zusammengearbeitet wird.

Wenn sie dann auf dem Weg zum Flugplatz sind, um Deutschland endgültig wieder zu verlassen, blicken die meisten zurück auf mehrere verlorene Jahre, in denen ihre Träume nach einem besseren Leben für sich und ihre Familie zerplatzt sind. Die meiste Zeit haben sie mehr oder wenig untätig in Sammelunterkünften verbracht, gefangen im Netz deutscher Bestimmungen und Verfahren, ohne die Möglichkeit, einer geregelten Tätigkeit nachzugehen und sich weiterzubilden. In ihrer Heimat, die sie oft mit schweren traumatischen Erinnerungen verbinden, wartet eine unsichere Zukunft, oft genug mit der Perspektive von Verfolgung und Ehrlosigkeit. Viele von ihnen sind danach gebrochene Menschen.

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Tropenmedizin bei Migranten

Ganz gleich, auf welche Gruppe man sich bezieht und wie man den Begriff "Migrant" definiert, Menschen, die nicht in Deutschland geboren sind, haben eine stärkere Krankheitslast, eine höhere Kinder- und Müttersterblichkeit und einen eingeschränkten Zugang zu unserem Gesundheitssystem gegenüber ihrer deutschen Vergleichsgruppe. Am deutlichsten wird dies bei Flüchtlingen und Asylbewerbern. Für die Tropenmedizin in Deutschland ist das Thema "Gesundheitsversorgung von Mitbürgern mit Migrationshintergrund" eine spannende Herausforderung. Sie ist nicht nur eine wichtige humanitäre Aufgabe, sondern eröffnet auch beim genaueren Hinsehen neue und interessante Perspektiven. Gerade wenn man auf Migranten aus tropischen und subtropischen Regionen fokussiert, zeigt sich, dass die Tropenmedizin einen wesentlichen Beitrag zur Verbesserung von Gesundheit für diese Bevölkerungsgruppe leisten kann.

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Andere Pathologien

Einwanderer aus den Tropen leiden oft an Krankheiten, die bei einheimischen Patienten nicht oder nur selten vorkommen. Mehrfach wurde bereits die unterschiedliche Prävalenz von Helmintheninfektionen untersucht, was immer wieder Diskussionen entfacht, ob bei Ankunft in Deutschland eine routinemäßige Albendazolgabe ohne vorherige Diagnostik zu rechtfertigen sei.

Gerade die oft vernachlässigte Strongyloidiasis ist dabei zu beachten, da sie auch noch viele Jahre nach der Exposition zu lebensbedrohlichen Komplikationen führen kann, wenn der Patient immunsuppressiv behandelt wird. Regional sehr unterschiedliche Prävalenzen viraler Hepatitiden oder der HIV-Infektion sind gut bekannt. Doch auch nichtinfektiöse Erkrankungen wie hereditäre Fiebersyndrome (z. B. familiäres Mittelmeerfieber) oder Hämoglobinopathien (z. B. Sichelzellkrankheit, Glukose-6-Phosphatdehydrogenasemangel) sind bei entsprechender Symptomatik bei Patienten mit Migrationshintergrund differenzialdiagnostisch zu berücksichtigen, werden aber oft genug erst nach geraumer Zeit erkannt.

Manche Krankheiten wurden auch erst während der Migration erworben. Dazu zählen auch traumatische Erlebnisse bei der Flucht. Diese können sich auch noch viele Jahre später in somatisierter Form manifestieren oder gar transgenerational weitergegeben werden.

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Krankheit als kulturelles Konstrukt

Krankheit ist nicht nur eine "Dysfunktion von Zellen". Menschen anderer Kultur, Tradition, Religion und Bildung haben auch ein gänzlich anderes Verständnis von Krankheit und Gesundheit, als es für uns vor dem Hintergrund unserer eigenen naturwissenschaftlich geprägten Ausbildung nahe liegend erscheint. Die Versorgung ausländischer Patienten erfordert deshalb vom Behandler auch besondere interkulturelle und soziale Kompetenz. Diese ist umso eher gegeben, je mehr auch Kenntnisse über das Herkunftsland der Patienten vorhanden sind.

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Bedarf wird in Zukunft weiter wachsen

8 % unserer Mitbürger haben einen Migrationshintergrund. Dieser Anteil wird in den nächsten Jahren steigen, nicht zuletzt durch den Geburtenrückgang bei der deutschen "Kernbevölkerung". Die medizinische Versorgung von Patienten, die nicht in Deutschland geboren sind, ihre Beratung und Heranführung an die Leistungen des heimischen Gesundheitssystems, die Erkennung exotischer Krankheitsbilder und ihre kulturgerechte Behandlung ist eine wichtige Aufgabe der deutschen Medizin. Aufgrund ihrer spezifischen Kompetenzen erwächst hier der Tropenmedizin eine wichtige zukunftsweisende Aufgabe.

PD Dr. med. August Stich, Würzburg

 
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