Der Klinikarzt 2007; 36(2): 69-70
DOI: 10.1055/s-2007-970250
Recht

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Aufklärung und Vetorecht - eines minderjährigen Patienten Patientenrechte werden weiter gestärkt

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Rechtsanwältin Dr. iur Isabel Häser

Ehlers, Ehlers & Partner

Widenmayerstraße 29

80538 München

Email: i.haeser@eee-law.de

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Publication Date:
12 March 2007 (online)

 
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Ende des letzten Jahres beschäftigte sich der Bundesgerichtshofs (BGH) mit der Aufklärungspflicht der Ärzte unter dem besonderen Fokus auf die Aufklärung von Minderjährigen. Laut seines aktuellen Urteils muss weiterhin grundsätzlich die Aufklärung gegenüber den Eltern erfolgen, einem minderjährigen Patienten muss aber unter bestimmten Umständen ein Vetorecht zugebilligt werden. Für den behandelnden Arzt ist dies keine einfache Situation. Denn er muss jetzt nicht nur zusätzlich im Auge behalten, ob sein minderjähriger Patient möglicherweise einwilligungsfähig ist oder nicht. Zudem könnte das BGH-Urteil auch Auswirkungen auf den Aufklärungsinhalt bei Beratungsgesprächen nach sich ziehen.

Stärkere Patientenrechte auch für minderjährige Patienten sind die Folge eines aktuellen Urteils des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 10. Oktober letzten Jahres (VI ZR 74/05). Denn darin billigt der Bundesgerichtshof minderjährigen Patienten unter bestimmten Voraussetzungen ein Vetorecht zu, auch wenn die Aufklärung grundsätzlich gegenüber den Eltern erfolgen muss. Das Urteil führt darüber hinaus die strenge Rechtsprechung zu den Anforderungen an den Aufklärungsinhalt fort und stärkt damit weiter die Patientenrechte.

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Aufklärung der Eltern reicht unter Umständen nicht aus

Gegenstand des Gerichtsverfahrens war folgender tragischer Fall: Die Klägerin ist ein zum Zeitpunkt der Behandlung minderjähriges Mädchen, das an einer Adoleszenzskoliose litt. Nachdem sich konservative Maßnahmen als nicht wirksam gegen die fortschreitende Verkümmerung erwiesen hatten, schlug der beklagte Oberarzt der orthopädischen Abteilung einer Klinik den Eltern des Mädchens vor, die Missbildung durch eine Operation zu korrigieren. Die Operation wurde mehrfach verschoben.

Die behandelnden Ärzte führten mehrere Aufklärungsgespräche mit den Eltern der Klägerin, bei denen die Klägerin meistens anwesend war. Nach dem jeweiligen Gespräch unterzeichneten die Eltern der Klägerin einen Vordruck mit ihrer Einwilligungserklärung, die die behandelnden Ärzte mit handschriftlichen Anmerkungen ergänzten. Im Rahmen der Risikoaufklärung wurde vor allem über die Möglichkeit einer Querschnittslähmung gesprochen. Unerwähnt blieben jedoch die Risiken einer Falschgelenkbildung (Pseudoarthrose) und des operativen Zugangs (Verwachsungen im Brustraum und Rippeninstabilitäten). Am Vortag der Operation unterschrieb neben ihren Eltern auch die Klägerin eine Einverständniserklärung.

Bei der Operation kam es zu einer Einblutung in den Rückenmarkskanal, die zur Querschnittslähmung der Klägerin führte. In der Folgezeit entwickelten sich neben anderen Beschwerden auch Verwachsungen im Brustraum, Falschgelenkbildungen und Rippeninstabilitäten.

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Schadensersatzklage nach dem Eingriff

Nach einem erfolglosen Versuch, den Chirurgen wegen eines Behandlungsfehlers zum Schadensersatz zu verpflichten, machte die mittlerweile volljährige Patientin gegen den behandelnden Arzt Schadensersatzansprüche wegen unzureichender Aufklärung geltend. Ihren Anspruch begründete sie damit, dass die Aufklärung schon deshalb unwirksam sei, weil ihre Eltern und nicht sie selbst die Aufklärungsadressaten gewesen seien, obwohl sie bereits die sittliche Reife und das erforderliche Verständnis für die Risiken der Operation gehabt habe. Wäre sie über die möglichen, nun aufgetretenen Verwachsungen im Brustraum, Falschgelenkbildung und Rippeninstabilitäten aufgeklärt worden, hätte sie dem Eingriff nicht zugestimmt.

Der beklagte Arzt wendete dagegen ein, selbst, wenn man eine unzureichende Aufklärung unterstellen würde, hätten die Eltern der Klägerin auch bei Kenntnis aller Risiken in eine Operation eingewilligt. Immerhin seien sie das Risiko einer Querschnittslähmung eingegangen.

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Voraussetzungen des Vetorechts

Der Bundesgerichtshof stellte zunächst fest, dass Minderjährigen im Rahmen der Aufklärung unter bestimmten Voraussetzungen ein Vetorecht zustehen kann. Zwar sei nach wie vor an dem Grundsatz festzuhalten, dass die Aufklärung in jedem Fall gegenüber den Eltern bzw. den gesetzlichen Vertretern des Minderjährigen zu erfolgen habe. Der Einwilligung der Eltern könne jedoch der Minderjährige widersprechen, wenn folgende Umstände kumulativ vorliegen:

  • Der Minderjährige verfügt über eine ausreichende Urteilsfähigkeit. (Ob dies tatsächlich der Fall ist, obliegt der Einschätzung des aufklärenden Arztes.)

  • Der geplante Eingriff ist nur relativ indiziert.

  • Es besteht die Möglichkeit erheblicher Folgen für die künftige Lebensgestaltung des Minderjährigen.

Liegen diese Voraussetzungen vor, muss der Minderjährige - um von seinem Vetorecht Gebrauch machen zu können - entsprechend aufgeklärt werden. Der Bundesgerichtshof stellt aber auch ausdrücklich klar, dass der Arzt im Allgemeinen darauf vertrauen kann, dass die Aufklärung und Einwilligung der Eltern genügt.

Im konkreten Fall stellte der Bundesgerichtshof zwar fest, dass dem Selbstbestimmungsrecht der Klägerin ausreichend Rechnung getragen wurde. Sie sei bei den einzelnen Aufklärungsgesprächen anwesend gewesen und habe durch ihre Unterschrift unter die Einwilligungserklärung bekundet, dass sie mit dem Eingriff einverstanden war. Allerdings hielten die Richter die Aufklärung für inhaltlich unvollständig, da die Risiken der Falschgelenkbildung und des operativen Zugangswegs von vorne durch die Brust nicht erörtert worden seien.

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Praxisrelevante Fragen zum Vetorecht Minderjähriger

Sicherlich können sich viele Jugendliche ihre ergänzende Meinung über den Nutzen und die Risiken einer Behandlung bilden. Daher wird kaum einer dem Vetorecht für minderjährige Patienten widersprechen wollen. Mit seinem Urteil hat der Bundesgerichtshof dem Aufklärungsgespräch des behandlenden Arztes im letzten Jahr jedoch eine neue Qualität zugewiesen. Wir fragten daher die Rechtsanwältin Dr. iur. Isabel Häser, wie sich das Urteil in der Praxis auswirken wird.

klinikarzt: Was bedeutet das Vetorecht Minderjähriger für die Praxis?

Dr. Isabel Häser: Grundsätzlich sind nach wie vor die Eltern bzw. die gesetzlichen Vertreter des Minderjährigen aufzuklären. Im Allgemeinen kann der behandelnde Arzt auch darauf vertrauen, dass diese Aufklärung der Eltern und deren Einwilligung zur Therapie genügt. Vor allem bei größeren Operationen sollte er jedoch an das mögliche Vetorecht des Minderjährigen denken, wenn dieser über eine ausreichende Urteilsfähigkeit verfügt.

klinikarzt: Wer entscheidet über die Urteilsfähigkeit des Minderjährigen?

Häser: Dies ist Aufgabe des aufklärenden Arztes. Kinder bis zum 14. Lebensjahr gelten generell als einwilligungsunfähig. Zwischen dem 14. und 18. Lebensjahr jedoch kommt es darauf an, ob die Minderjährigen nach ihrer geistigen und seelischen Entwicklung fähig sind, Wesen, Tragweite und Bedeutung des Eingriffs zu erfassen und ihren Willen danach zu bestimmen. Der Minderjährige muss in der Lage sein, eine eigenständige Nutzen-Risiko-Abwägung über die ärztliche Behandlung vorzunehmen. Nicht nur die entscheidungsrelevanten Tatsachen muss er also erfassen, sondern auch die Folgen und Risiken der Entscheidung einschätzen können. Auch mögliche Alternativen, die ihn möglicherweise weniger belasten, muss er beurteilen können. Hat der Arzt Zweifel an der Einwilligungsfähigkeit des minderjährigen Patienten, sollte er einen weiteren Arzt oder einen Konsiliararzt hinzuziehen.

klinikarzt: Wie wird diesem Selbstbestimmungsrecht des Minderjährigen hinreichend Rechnung getragen?

Häser: Der Minderjährige muss bei den einzelnen Aufklärungsgesprächen stets anwesend sein und neben den Eltern sein Einverständnis durch seine Unterschrift bekunden.

klinikarzt: Der zweite Aspekt der Entscheidung des Bundesgerichtshofes betrifft den Umfang der Aufklärung. Was ist hier dem Arzt zu raten?

Häser: Der aufklärende Arzt muss den gesamten Inhalt des Aufklärungsgespräches nachweisen können. Diesen Beweis kann er jedoch nur durch eine vollumfängliche Dokumentation führen, in der eben alle und nicht nur die schwerwiegendsten Risiken vermerkt sind.

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Auskunft über schwerstes Risiko nicht genug

Gegenstand der Risikoaufklärung sind nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs generell alle behandlungstypischen Risiken, deren Kenntnis beim Laien nicht vorausgesetzt werden kann, die aber für die Entscheidung des Patienten über die Zustimmung zur Behandlung ernsthaft ins Gewicht fallen. Daher ließ das Gericht das Argument des aufklärenden Arztes nicht gelten, die Patienten und deren Eltern seien über das schlimmste Szenario, nämlich die mögliche Querschnittslähmung, aufgeklärt worden und hätten deshalb in jedem Fall in die Operation eingewilligt.

Vielmehr stellte es fest, dass auch über ein gegenüber dem Hauptrisiko weniger schweres Risiko aufgeklärt werden müsse, wenn folgende Voraussetzungen vorliegen:

  • Das (geringere) Risiko haftet dem Eingriff spezifisch an,

  • es stellt sich für den Laien als überraschend dar (d.h. er muss nicht damit rechnen) und

  • es führt bei seiner Verwirklichung zu einer schweren Belastung der Lebensführung.

Im geschilderten Fall sah der Bundesgerichtshof alle diese Voraussetzungen als gegeben an, insbesondere da das Risiko der Querschnittslähmung von den beteiligten Ärzten als äußerst gering dargestellt worden war. Damit sei der Patientin kein realistisches Bild davon vermittelt worden, welche sonstigen Folgen die Verwirklichung der weiteren Risiken der Operation für ihre künftige Lebensgestaltung der Klägerin mit sich bringen konnte.

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Klares Urteil: Arzt ist haftbar

Der Bundesgerichtshof entschied: Hätte die gebotene Aufklärung zur Versagung der Einwilligung und infolgedessen zur Vermeidung der Operation geführt, hat der Beklagte grundsätzlich für deren sämtliche Folgen einzustehen. Bei dieser Sachlage führt die fehlerhafte Aufklärung grundsätzlich zur Haftung des Beklagten für die Folgen des ohne wirksame Einwilligung durchgeführten Eingriffs.

Mit diesem Urteil verfolgt der Bundesgerichtshof seine patientenfreundliche Rechtsprechung zum Auffangtatbestand der Aufklärungspflichtverletzung weiter. Wie auch hier versuchen Patienten, wenn dem Arzt kein Behandlungsfehler nachgewiesen werden kann, den Weg über die fehlerhafte Aufklärung einzuschlagen - und haben damit häufig Erfolg. Der Einräumung des Vetorechts bei Minderjährigen wird sicherlich niemand widersprechen wollen.

Problematisch ist jedoch die Argumentation hinsichtlich des Aufklärungsinhaltes, die selbstverständlich auch für volljährige Patienten zum Tragen kommt. Die Gerichtspraxis zeigt, dass viele Patienten sich erst dann mit den Aufklärungsinhalten beschäftigen, wenn postoperativ ein Schaden eingetreten ist. Im Prozess erklären sie regelmäßig, dass sie bei Kenntnis aller Umstände dem Eingriff nie zugestimmt hätten. Diese Behauptung kann der aufklärende Arzt in der Regel nicht ernsthaft entkräften. Das Urteil wird die Verteidigung der behandelnden Ärzte nun noch weiter erschweren.

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