Intensivmedizin up2date 2006; 2(3): 197-198
DOI: 10.1055/s-2007-966136
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Heilung durch Kühlung - Ganz im Sinne von Hippokrates

Bernd  W.  Böttiger, Erik  Popp, Gerhard  Jorch
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Prof. Dr. med. Bernd W. Böttiger

Stellv. ärztlicher Direktor und Leitender Oberarzt · Klinik für Anaesthesiologie · Universitätsklinikum Heidelberg

Im Neuenheimer Feld 110 · 69120 Heidelberg

Email: bernd.boettiger@med.uni-heidelberg.de

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Publication Date:
17 January 2007 (online)

Table of Contents

Schon Hippokrates verwendete Eis und Schnee, um Blutungen bei Verwundeten zu reduzieren. Im frühen 19. Jahrhundert dokumentierte Baron Larrey - der Feldchirurg von Napoleon - dass verwundete Soldaten, die näher am Feuer untergebracht waren, eine höhere Sterblichkeit aufwiesen als jene, die nach einem Trauma nicht aufgewärmt wurden. Im Folgenden wurden zahlreiche Berichte veröffentlicht, die zeigten, dass insbesondere Kinder, die in eiskalte Gewässer gestürzt waren, selbst nach Ischämiezeiten von bis zu einer Stunde auch zerebral erfolgreich reanimiert werden können. Dies führte Mitte des letzten Jahrhunderts zu den ersten klinischen Anwendungen der Hypothermie beim Schädelhirntrauma sowie in der Kardio- und Neurochirurgie [7]. Aus der - wie wir heute wissen - falschen Vorstellung heraus, dass die Hypothermie primär über die Reduktion der metabolischen Aktivität wirkt, wurden zu dieser Zeit maßgeblich tiefe Formen (< 30 °C) der Hypothermie angewandt. Die damals fehlende Möglichkeit zur Intensivtherapie führte jedoch dazu, dass schwere Komplikationen der tiefen Hypothermie wie Pneumonien, Herzrhythmus- und Gerinnungsstörungen nicht adäquat behandelt werden konnten. Erst die - in den 80er- und 90er-Jahren zunächst experimentell evaluierte und mit nur geringen Nebenwirkungen einhergehende - milde Hypothermie (32 - 34 °C) nach Kreislaufstillstand konnte das Verhältnis von Zellprotektion zu Komplikationsrate entscheidend verbessern [7].

Nach Kreislaufstillstand - Sechs Patienten kühlen und dadurch einen retten. Wie Kimberger, Kliegel und Popp im Folgenden detailliert ausführen, erleiden jährlich allein in Europa etwa 350 000 Menschen einen prähospitalen Kreislaufstillstand, 315 000 von ihnen können nicht erfolgreich wiederbelebt werden [2] [4]. Maßgeblich verantwortlich für diese geringe Erfolgsrate ist die geringe Ischämietoleranz von Neuronen. Zu Grunde liegen sowohl akut einsetzende Mechanismen wie die Nekrose als auch eine verzögerte neuronale Degeneration. Ziel jeder Therapie in der Reperfusionsphase nach Kreislaufstillstand ist es, diese Mechanismen zu beeinflussen. Zwei große klinische Studien erbrachten 2002 eine klare Evidenz für die positiven Effekte der milden Hypothermie nach Kreislaufstillstand [1] [8] und führten unmittelbar zur Aufnahme der milden Hypothermie (32 - 34 °C für 12 - 24 h) als klare Empfehlung in einem ILCOR (International Liaison Committee on Resuscitation) Statement zur Behandlung von bewusstlosen Patienten nach Kreislaufstillstand [6]. Dies wurde in den neuen, am 28. November 2005 publizierten internationalen Leitlinien des European Resuscitation Council (ERC) direkt übernommen [5].

Wieso ist die milde Hypothermie effektiv? Neben der geringen allgemeinen Reduzierung der Stoffwechselaktivität wirkt die milde Hypothermie antiapoptotisch, antiinflammatorisch und gerinnungsinhibierend. Sie reduziert die Konzentrationen von schädigenden Neurotransmittern und Sauerstoffradikalen, sie erhöht die Konzentrationen von neuroprotektiven Wachstumsfaktoren und sie reduziert global die Expression und Translation pathophysiologisch relevanter Gene. Die milde Hypothermie wirkt somit - auf nahezu alle relevanten Schädigungsmechanismen - quasi wie ein Cocktail unterschiedlicher protektiver Interventionen, ohne klinisch signifikante Nebenwirkungen aufzuweisen [7].

Warum wird die therapeutische Hypothermie dennoch so selten eingesetzt? Trotz der nach Kreislaufstillstand eindeutig positiven Effekte und der klaren internationalen Empfehlungen wird auch heute noch nur ein Bruchteil der betroffenen Patienten mit Hypothermie behandelt. In Umfragen werden als Begründung hierfür ein mangelnder Effektivitätsnachweis, fehlende Leitlinien und fehlende Möglichkeiten angeführt [7]. All diese Punkte können heute nicht mehr akzeptiert werden. Die milde Hypothermie ist effektiv, relativ einfach durchzuführen und äußerst kosteneffektiv. Ein Problem ist vielleicht, dass die Hypothermie - im Gegensatz zu vielen anderen und teilweise sehr viel teureren Interventionen auf der Intensivstation - von der Industrie nicht aggressiv beworben wird, da kaum Geld damit zu verdienen ist.

Profitieren auch Neugeborene und Kinder von einer milden Hypothermie? Mit Hinweis auf bereits abgeschlossene sowie laufende Studien wird in dieser Ausgabe von Intensivmedizin update von Timischl und Simbruner die derzeitige Evidenz für den - die Risiken und Nebenwirkungen überwiegenden - Nutzen der therapeutischen Hypothermie nach akuter perinataler Asphyxie ( = Hypoxie) dargestellt [9]. Ein überleben ohne relevante Behinderung erreichen hier - nach vorläufiger Einschätzung - unter Studienbedingungen 2 von 3 Neugeborenen (anstatt 1 von 2 bei Verzicht auf die Kühlung). Das Nebenwirkungsrisiko (Kreislauf, Atmung, Stoffwechsel, Leberfunktion, Gerinnung, Infektionen) scheint vertretbar zu sein. Der Beginn der Behandlung (Ganzkörperkühlung auf 32 - 34 °C unter Analgosedierung für 72 h) sollte möglichst früh, spätestens in der 6. Lebensstunde erfolgen. In aktuellen Leitlinien zur Postreanimationsbehandlung von Neugeborenen wird die therapeutische Hypothermie (noch) nicht als Standard definiert. Mindestens aber kann die Empfehlung gegeben werden, eine Hyperthermie zu vermeiden und ggf. eine Verlegung in eine Klinik mit Anwendung der Hypothermie unter Studienbedingungen anzustreben [9]. Für Kinder wird - in Extrapolation der Studien bei Erwachsenen - die milde Hypothermie in den europäischen Leitlinien zur kardiopulmonalen Reanimation als „möglicherweise hilfreich” eingestuft [5].

Hypothermie auch bei Schlaganfall, Schädel-Hirn-Trauma und neurochirurgischen Eingriffen? Auch bei anderen mit einer zerebralen Ischämie einhergehenden Krankheitsbildern wurde die milde Hypothermie therapeutisch eingesetzt. Dabei gibt es Hinweise auf positive Effekte in Subgruppen. Die Ergebnisse sind aber trotz großer klinischer Studien nach wie vor kontrovers, so dass die Hypothermie bei diesen Indikationen derzeit nur im Rahmen von klinischen Studien empfohlen werden kann [7]. Eine Hyperthermie sollte in jedem Fall vermieden werden.

Die Natur zeigt uns, wie es weitergehen wird. Einen zukunftsweisenden Ansatz verfolgt die Erforschung der protektiven Effekte des Winterschlafs (Hibernation). Winterschlafende Tiere befinden sich während der Schlafphasen in einem physiologisch hypothermen Zustand mit deutlich reduzierter Metabolisierungsrate und ausgesprochener Ischämietoleranz [7]. Diese absolut nebenwirkungsfreie Form der Hypothermie entsteht durch zentrale Verstellung des Temperatursollwertes. Auch wenn die exakten Auslöser des Winterschlafs noch nicht bekannt sind, konnte gezeigt werden, dass die Blutkonzentration von Neurotensin erhöht ist, und dass durch die intravenöse Applikation eines modifizierten Neurotensins (NT77) bei Ratten ein der Anwendung der milden Hypothermie vergleichbarer neuroprotektiver Zustand ausgelöst werden kann [3] [7]. Da auch beim Menschen Neurotensin-Rezeptoren vorhanden sind [7], besteht prinzipiell die Möglichkeit, rein medikamentös in diesen Regelkreis zum Zwecke der Neuroprotektion einzugreifen.

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Literatur

  • 1 Bernard S A, Gray T W, Buist M D, Jones B M, Silvester W, Gutteridge G, Smith K. Treatment of comatose survivors of out-of-hospital cardiac arrest with induced hypothermia.  N Engl J Med. 2002;  346 557-563
  • 2 Böttiger B W, Grabner C, Bauer H, Bode C, Weber T, Motsch J, Martin E. Long term outcome after out-of-hospital cardiac arrest with physician staffed emergency medical services: the Utstein style applied to a midsized urban/suburban area.  Heart. 1999;  82 674-679
  • 3 Katz L M, Young A, Frank J E, Wang Y, Park K. Neurotensin-induced hypothermia improves neurologic outcome after hypoxic-ischemia.  Crit Care Med. 2004;  32 806-810
  • 4 Kimberger O, Kliegel A, Popp E. Therapeutische Hypothermie in der Intensivmedizin.  Intensiv up2date. 2006;  2 257-268
  • 5 Nolan J P, Deakin C D, Soar J, Böttiger B W, Smith G. European Resuscitation Council guidelines for resuscitation 2005. Section 4. Adult advanced life support.  Resuscitation. 2005;  67 S39-S86
  • 6 Nolan J P, Morley P T, Vanden Hoek T L, Hickey R W, Kloeck W G, Billi J, Böttiger B W, Okada K, Reyes C, Shuster M, Steen P A, Weil M H, Wenzel V, Carli P, Atkins D. Therapeutic hypothermia after cardiac arrest: an advisory statement by the advanced life support task force of the international liaison committee on resuscitation.  Circulation. 2003;  108 118-121
  • 7 Popp E, Sterz F, Böttiger B W. Therapeutische milde Hypothermie nach Herz-Kreislauf-Stillstand.  Anaesthesist. 2005;  54 96-106
  • 8 The Hypothermia After Cardiac Arrest Study Group . Mild therapeutic hypothermia to improve the neurologic outcome after cardiac arrest.  N Engl J Med. 2002;  346 549-556
  • 9 Timischl M, Simbruner G. Therapeutische Hypothermie nach Asphyxie aus neonatologischer Sicht.  Intensiv up2date. 2006;  2 245-256

Prof. Dr. med. Bernd W. Böttiger

Stellv. ärztlicher Direktor und Leitender Oberarzt · Klinik für Anaesthesiologie · Universitätsklinikum Heidelberg

Im Neuenheimer Feld 110 · 69120 Heidelberg

Email: bernd.boettiger@med.uni-heidelberg.de

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Literatur

  • 1 Bernard S A, Gray T W, Buist M D, Jones B M, Silvester W, Gutteridge G, Smith K. Treatment of comatose survivors of out-of-hospital cardiac arrest with induced hypothermia.  N Engl J Med. 2002;  346 557-563
  • 2 Böttiger B W, Grabner C, Bauer H, Bode C, Weber T, Motsch J, Martin E. Long term outcome after out-of-hospital cardiac arrest with physician staffed emergency medical services: the Utstein style applied to a midsized urban/suburban area.  Heart. 1999;  82 674-679
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  • 9 Timischl M, Simbruner G. Therapeutische Hypothermie nach Asphyxie aus neonatologischer Sicht.  Intensiv up2date. 2006;  2 245-256

Prof. Dr. med. Bernd W. Böttiger

Stellv. ärztlicher Direktor und Leitender Oberarzt · Klinik für Anaesthesiologie · Universitätsklinikum Heidelberg

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