Gesundheitswesen 2007; 69: S4-S6
DOI: 10.1055/s-2007-962900
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Die Taten offen legen - den Opfern Namen geben

J. G. Gostomzyk
Further Information

Publication History

Publication Date:
14 February 2007 (online)

Table of Contents

    Die von Dr. Johannes Donhauser vorgelegte Arbeit „Das Gesundheitsamt im Nationalsozialismus” befasst sich mit dem dunkelsten Kapitel in der Geschichte des öffentlichen Gesundheitsdienstes in Deutschland und dem Umgang damit bis heute. Eine systematische Auseinandersetzung innerhalb des öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD) mit dem damaligen Geschehen ist bisher nicht erfolgt, anders als auf Seiten der Anstaltspsychiatrie.

    Der Autor sichtet Dokumente, betreibt eine umfangreiche Literaturrecherche und zitiert dabei immer wieder die Zeitschrift „Der öffentliche Gesundheitsdienst”, deren 1. Heft (1. Jahrgang) am 5.4.1935 im Verlag Georg Thieme, Leipzig, erschien. Sie war das Organ des Reichsausschusses für Volksgesundheitsdienst E. V., der Staatsmedizinischen Akademie Berlin und der wissenschaftlichen Gesellschaft der deutschen Ärzte des öffentlichen Gesundheitsdienstes. Diese Gesellschaft war am 26.2.1935 neu gegründet worden. „Die Partei (NSDAP) hatte dem Verlag diese Zeitschrift per ordre du mufti aufgedrängt” (Ch. Staehr, Spurensuche, Thieme Verlag, 1985, Stuttgart). Allerdings war im Verlag u. a. der Vollzug des § 5 Schriftleitergesetz vom Oktober 1933 vorausgegangen, wonach Schriftleiter nur sein konnte, wer arischer Abstammung und nicht mit einer Person nichtarischer Abstammung verheiratet war.

    Für die Herausgeber der neuen Zeitschrift schrieb Ministerialdirektor A. Gütt, Leiter des Reichsausschusses für Volksgesundheitsdienst und der Staatsmedizinischen Akademie Berlin, ein Vorwort für Heft 1: „Das Blatt hat somit die große Aufgabe, Bindeglied letzten Endes zwischen dem Reichsministerium des Innern und den Ärzten der Gesundheitsämter zu sein, wie vor allen Dingen über die Arbeitsgemeinschaften des Reichsausschusses für Volksgesundheitsdienst hinweg alle diejenigen Kräfte zu erfassen und zu beeinflussen, die sich die Gesunderhaltung und Aufartung des deutschen Volkes zum Ziel gesetzt haben.” Die Zeitschrift wurde als Informationsorgan geschaffen für die als staatliche Sonderbehörden neu organisierten Gesundheitsämter, deren Aufgabe die Umsetzung der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik, d. h. in erster Linie der Erb- und Rassenpflege war. Im 1. Jahrgang (1935/1936) befassten sich 23 von insgesamt 59 Originalarbeiten bereits im Titel erkennbar mit Erb- und Rassenpflege.

    Die neue Zeitschrift trat an die Stelle der 1888 gegründeten „Zeitschrift für Medizinalbeamte”, die auch von Donhauser zitiert wurde. Diese gehörte seit 1929 zu Fischers medizinischer Buchhandlung des jüdischen Verlegers Kurt Kornfeld, welche 1935 im Thieme Verlag aufging. Die Entrechtung jüdischer Mitbürger ab 1933u. a. durch das Verbot, eigene Betriebe oder Geschäfte zu führen, und die Auflösung des deutschen Medizinalbeamtenvereins im September 1934 als Trägergesellschaft hatten der Zeitschrift die Basis entzogen, sie wurde im Thieme Verlag 1935 eingestellt.

    Nach der bedingungslosen Kapitulation und dem Untergang des NS-Regimes, aber noch vor Festlegung der staatlichen Ordnung der Bundesrepublik durch das Grundgesetz vom 23.5.1949, erschien nach vierjähriger Unterbrechung im April 1949, Heft 1 des 11. Jahrganges „Der öffentliche Gesundheitsdienst”, jetzt als Monatsschrift für Gesundheitsverwaltung und Sozialhygiene und als Organ des Verbandes der Ärzte des öffentlichen Gesundheitsdienstes und als Organ der Vereinigung für die Gesundheitsfürsorge im Kindesalter im Thieme Verlag, Stuttgart. Im Geleitwort wird auf die schwierige Aufgabe der Gesundheitsverwaltungen „in der politischen Katastrophe” Bezug genommen und die Rolle der Zeitschrift beschrieben: „Zu einem bescheidenen Teil möchte aber auch der „Öffentliche Gesundheitsdienst” für sich in Anspruch nehmen, in den zehn Jahren seines Erscheinens an den Vorbedingungen mitgeholfen zu haben, die diese außergewöhnlichen Leistungen der Gesundheitsämter ermöglicht haben. Gerade auf dem Gebiete des öffentlichen Gesundheitswesens und der Sozialhygiene haben die Zeitschriften einen erheblichen Anteil an der Fortbildung der Ärzte und Mitarbeiter zu leisten.”

    Das vierjährige Nichterscheinen der Zeitschrift wird 1949 in Heft 1 als zeitliche Zäsur angesprochen, jedoch nicht als eine inhaltliche im Sinne eines Neuanfangs. Die erste Originalarbeit in Heft 1, eine Arbeit von E. Gerfeld mit dem Titel „Die Entwicklung des öffentlichen Gesundheitswesens zur Welt-Gesundheits-Organisation” war wohl programmatisch gemeint. Der Autor spannt einen weltgeschichtlichen Bogen von orientalischen Kulturen und asiatischen Kulturvölkern, von den gesundheitlichen Vorschriften der Assyrer, Chinesen, Babylonier, Inder, Ägypter, Griechen und Römer über den bundesstaatlichen Charakter des deutschen Gesundheitswesens auf der Basis der Reichsverfassung von 1919 hin zu der im Juni 1946 in New York gegründeten Welt-Gesundheits-Organisation (WHO). Aus der Perspektive des Autors aus dem Sozialministerium in Nordrhein-Westfalen nahm das nationalsozialistische Regime lediglich an zwei Stellen grundlegende Veränderungen der Aufgaben des Kreisarztes vor. „Es beseitigte den bundesstaatlichen Dualismus von Reich und Ländern, indem es den Primat des Reiches aufstellte.” „Die zweite bedeutungsvolle Änderung war die Ablösung des Kreisarztes als so genannte Einzelbehörde durch das Gesundheitsamt mit einem Stabe von Mitarbeitern. Damit wurde ein internationales Vorbild übernommen, das aber unter der Vielfalt der von außen einwirkenden Einflüsse sachlich nicht ausreifen konnte.” War das das Resümee von jahrelanger Beteiligung der Amtsärzte am Menschen verachtenden System nationalsozialistischer Gewaltausübung gegen Kranke und Behinderte zur „Aufartung” der Herrenrasse oder war es eine nach innen gerichtete Botschaft, beruhigend für den eigenen Dienst? Hatte man nichts Gravierenderes zu erklären und zu verantworten?

    Erinnerung ist ein Neu-Verstehen von etwas, was bereits einmal auf irgendeine Weise verstanden wurde. Erinnern ist eine assoziative Tätigkeit, die nach Bedeutung sucht und Bedeutung schafft. Erinnerung ist Re-Interpretation, kein einfaches Wiederfinden oder Wiedererkennen von Ereignissen oder von Objekten. Ob einer Erinnerung im öffentlichen Raum Glauben geschenkt wird, hängt oftmals davon ab, ob sie sich mit den vorherrschenden Interpretationen über sie verträgt (J. Baberowski: Vom Sinn der Geschichte, C. H. Beck Verlag 2005). Welche neue Bedeutung gewannen die Inhalte der Zeitschrift aus „den ersten 10 Jahren ihres Erscheinens” für den ÖGD in der Nachkriegszeit, zumal von seinen Vertretern eine Kontinuität in den Aufgaben des Dienstes meist zwanglos angenommen wurde? Zumindest in den Beiträgen der wiederbelebten Zeitschrift wird zeitnahe Erinnerung verweigert, obwohl Fixpunkte für Erinnerungen an die NS-Gesundheitspolitik nicht zu übersehen waren. Das waren die eigenen Erfahrungen, die Berichte vom Nürnberger Ärzteprozess, die beschädigten Menschen im Nachkriegsmillieu und auch die früheren Ausgaben der Zeitschrift. Verdrängung bzw. „aktives” Vergessen war die vorherrschende Haltung. Der Beginn des Kalten Krieges als Konflikt der Siegermächte förderte diese Einstellung.

    Nicht nur für die Ärzte in den weiterhin bestehenden Gesundheitsämtern wurde mit dem Rückgriff auf alte ärztliche Traditionen einschließlich ihrer Vorstellungen zur Hygiene und Sozialhygiene ein alter Erinnerungsrahmen neu vorgegeben, in den sich Denken und Sprachformen einordnen konnten. Wer diesen Gedächtnisrahmen akzeptierte, bezeugte damit auch seine Gruppenzugehörigkeit. Die Verbindung der eigenen Meinung mit der der Mitglieder einer Schicksalsgruppe schafft schließlich den Beziehungsrahmen des kollektiven Gedächtnisses. Der Soziologe Emile Durkheim hatte bereits Ende des 19. Jahrhunderts die gemeinschaftsbildende Funktion von Erinnerung und Gedächtnis erkannt. Ein derartiges Verständnis von Gedächtnis vermag nicht nur das Erinnern, sondern auch das Vergessen zu erklären (J. Baberowski, 2005). Neben dieser verdrängenden Gedächtnisarbeit wurde individuelle Verantwortung und Schuld mit dem Hinweis auf die Unterstellung unter das Führerprinzip exkulpiert.

    Aus dieser Grundhaltung ergab sich die Sprachlosigkeit der Amtsärzte zum eigenen Verhalten in den frühen Jahren der Bundesrepublik in der Zeitschrift „Der öffentliche Gesundheitsdienst”. Beispielsweise umfasst das Referat über eine Arbeit in der DMW (1949) „Zur Frage der Refertilisierung” bei fünf aufgrund eines Erbgesundheitsgerichtsbeschlusses unfruchtbar gemachten Frauen, wobei die Operationen nur in einem Fall erfolgreich waren, ganze 8 Zeilen (Öff. Gesundheitsdienst, 11. Jahrg., 1949/50, S. 102). Daneben gab es in der Zeitschrift bei objektiver Betrachtung inakzeptable Interpretationen der Rolle des ÖGD, z. B. durch Pürckhauer (1954) und durch E. Pfau (1988), wie von Donhauser dargestellt. In der Nachkriegszeit bis in die späten 70er-Jahre wurde von Amtsärzten, von denen viele auch vor dem Zusammenbruch des NS-Regimes bereits in Gesundheitsämtern tätig waren, die Zeitschrift auch als „Der blaue Dunst” tituliert. War das ein Hinweis darauf, dass das Erinnern und die Auseinandersetzung mit der eigenen NS-Vergangenheit weder von den Ärzten im öffentlichen Gesundheitsdienst noch von Herausgebern und Autoren in der Zeitschrift nicht offen angepackt wurde bzw. besser im Nebel bleiben sollte?

    Nach dem Zusammenbruch wurden die Jahrgänge 1 - 10 der Zeitschrift weder von den für Beiträge verantwortlichen Autoren noch von anderen am Vollzug der NS-Bevölkerungspolitik beteiligten Ärzten im ÖGD systematisch genutzt, um die ideologiegeprägten Inhalte zu entlarven und deren gnadenlose Auswirkungen für viele Menschen nunmehr aus einer anderen wissenschaftlichen, politischen und moralischen Perspektive, d. h. nach den Maßstäben der Gegenwart und zu den Bedingungen der Gesellschaft, in der man nun lebte, kritisch neu zu beurteilen. Dazu passen die Inhalte der Rubriken „Nachrichten aus den Verbänden” und „Personalien”. Hier wird eher Kontinuität in den Aufgaben des Gesundheitsschutzes und in Personalien beschrieben als Neubeginn und Aufbruch, trotz der politisch radikalen Zeitenwende zwischen NS-Diktatur und Kapitulation einerseits und Neuanfang mit Demokratieimport, aber auch viel Restauration andererseits. Da das Gedächtnis an das Leben gebunden ist, ging die Chance für eine Aufarbeitung unter Einbezug von lebendigen Erinnerungen im Laufe der Zeit für immer verloren. Die Haltung der Schuldverdrängung in der Gesellschaft allgemein wurde Anfang der 50er-Jahre unterstützt durch gesetzliche Regelungen, durch die sich NS-Täter, sofern sie sich nicht eindeutig des Mordes schuldig gemacht hatten, auf die durch Nazi-Gesetze gedeckte Pseudolegalität berufen konnten, pauschal war Straffreiheit zugesichert. Ferner wurden Personen, die nach 1945 wegen ihrer Verstrickung in den Nationalsozialismus aus dem öffentlichen Dienst entfernt worden waren, nun wieder in ihre früheren Rechte eingesetzt (J. Willms: Die deutsche Krankheit, Carl Hanser Verlag 2001).

    Das Erinnern und die Verständigung darüber mit anderen lässt Vergangenheit entstehen. Wo Vergangenheit nicht mehr erinnert und gelebt wird, beginnt die Geschichte. Die Geschichte ist die Entlegitimierung der Vergangenheit. Geschichte ist nicht mehr Inbegriffen in den Bereichen, in den sich noch das Denken aktueller Gruppen erstreckt (J. Baberowski, 2005). Für die heutigen Mitarbeiter des ÖGD gehören die ersten zehn Jahrgänge der Zeitschrift „Der öffentliche Gesundheitsdienst” zur Geschichte, ebenso die in der Nazi-Zeit herausgehobene Rolle des ÖGD als reichseinheitliche staatliche Sonderbehörde und der spätere Umgang der Beteiligten mit der Frage der eigenen persönlichen Schuld. Den Folgegenerationen im ÖGD fällt die Aufgabe der Geschichte zu, die Sammlung und Sicherung in Gesundheitsämtern und Archiven ruhender Akten, ihre Sichtung einschließlich kritischer Reflexion. Es ist offen zu legen: Was hat der Dienst während der NS-Zeit getan und unter welchen Bedingungen haben seine Mitarbeiter versagt? Diesen Fragen hat sich Donhauser gestellt, im Zuständigkeitsbereich seines Gesundheitsamtes und darüber hinaus in Archiven und in der einschlägigen Literatur.

    1968 wurde der Titel der Zeitschrift in „Das öffentliche Gesundheitswesen” geändert mit den Untertiteln „Präventivmedizin und Rehabilitation. Sozialhygiene und öffentlicher Gesundheitsdienst.” Der Organschaft für den Bundesverband der Ärzte des öffentlichen Gesundheitsdienstes waren im Laufe der Zeit 6 weitere Gesellschaften bzw. Verbände beigetreten. Die Gesundheitspolitik der Bundesländer hatte im Laufe der Zeit die Rolle der Gesundheitsämter als staatliche Sonderbehörden durch föderale Regelungen meist in Richtung Kommunalisierung mit Abwertung des ÖGD verändert. Das Gesetz zur Vereinheitlichung des Gesundheitswesens von 1934 und seine drei Durchführungsverordnungen wurden allerdings erst am 14.8.2006 als Bundesrecht aufgehoben.

    Seit 1992 lautet der Titel der Zeitschrift „Das Gesundheitswesen” mit den Untertiteln: „Sozialmedizin, Gesundheitssystemforschung, Public Health, Öffentlicher Gesundheitsdienst, Medizinischer Dienst”. Sie integriert als wissenschaftliche Zeitschrift Inhalte, Probleme und Strukturen öffentlicher Gesundheit im erweiterten Sinn in Theorie und Praxis. Aufgrund ihrer eigenen Historie mit enger Verbindung zum ÖGD kann die Zeitschrift Fixpunkt im kollektiven Gedächtnis des ÖGD sein, nicht nur für das Erinnern seiner aktuellen Vergangenheit, sondern darüber hinaus auch bezüglich seiner Geschichte.

    Donhauser, Jahrgang 1962, kann sich nicht auf Erinnerung berufen. Er befasst sich mit der Geschichte, die naturgemäß nach Analyse und kritischer Reflexion verlangt. Mit der Herausgabe eines Sonderheftes der Zeitschrift „Das Gesundheitswesen” unterstützen Redaktion und Verlag das vom Autor seit Jahren offensiv vertretene Anliegen der Offenlegung des grauenvollsten Kapitels in der Geschichte des ÖGD in Deutschland. Die jahrelange Arbeit hat jetzt auch gesundheitspolitische Anerkennung gefunden durch die Förderung des Sonderheftes durch das Bundesministerium für Gesundheit, das Bayerische Staatsministerium für Umwelt, Gesundheit und Verbraucherschutz und dem Bundesverband der Ärzte im öffentlichen Gesundheitsdienst.

    Im Jahr 1935 hat Viktor von Weizsäcker auf die Frage, in wessen Namen denn der Therapeut seine Macht ausübe, eine einfache Antwort gegeben: „Er übe sie im Namen des Staates und der Wahrheit aus, nämlich Kraft ärztlicher Approbation, die der Staat erteile und Kraft Wissenschaft, die sich allein aus der Wahrheit legitimiere”. Er fügte hinzu: „Zweifellos wird in nächster Zukunft der Staat den Umfang seiner Forderungen noch ausdehnen, zweifellos auch der Umkreis der Konflikte mit dem Eigenwohl, auf das die medizinische Wissenschaft bisher weit überwiegend eingestellt war, sich erweitern.” Er folgert daraus: „Es wird Ärzte geben müssen, welche die Forderungen des Staates, und solche, welche die des Einzelnen verwirklichen können.” Mit direktem Bezug zur Rassenhygiene schrieb er damals weiter: „Der Wissenschaft, welche der Staatsmedizin dient, ist eben um dieses Dienstes willen auferlegt, nicht gegen ihre Bindung an ihre eigene Wahrheit untreu zu werden, denn sie würde den politischen Führer täuschen, wo immer sie von ihrem Gewissen abwiche.” (Zitiert nach Ch. Stehr, Spurensuche, Thieme Verlag 1986). Donhauser hat am Ende seiner Zusammenfassung auf aktuelle Aspekte dieser Problematik für Ärzte im ÖGD hingewiesen.

    Bei der Zwangssterilisation und bei der Euthanasie waren die Gesundheitsämter zuarbeitende Behörden. Die von Medizinern zur Euthanasie selektierten Kranken und Behinderten und ihre Angehörigen wurden über die vorgesehene „Behandlung” getäuscht. Die wahre Todesursache der Opfer wurde gegenüber den Angehörigen verschleiert, falsche Angaben zur Todesursache wurden offiziell bestätigt. In der NS-Tötungsanstalt Grafeneck (Baden-Württemberg), eine von insgesamt sechs Tötungsanstalten, wurden 1940 zwischen Januar und Dezember 10654 Menschen in der Gaskammer ermordet. In der 1990 errichteten Gedenkstätte liegt ein Buch auf, in dem früher oder später die Namen aller Opfer verzeichnet sein sollen. Diese Art der Erinnerung soll den entrechtet gemordeten Opfern durch Nennung ihres Namens und Gedenken an ihren Tod einen Teil ihrer Würde zurückgegeben. Eine Eintragung in das Besucherbuch vom 5.10.2006 lautet: „Ich habe mich sehr gefreut, dass ich nach vielen Jahren erleben durfte, meine Schwester im Buch der Geschichte zu finden” (Süddeutsche Zeitung Nr. 266, 18./19. November 2006, Mordfabrik im Grünen). Können Mitarbeiter des ÖGD heute durch Archivarbeit in ihrem Gesundheitsamt, in ihrer Stadt oder in der Region dazu beitragen, Anonymität und Lüge aufzuheben, den Euthanasie-Opfern Namen zu geben oder zumindest ein allgemeines Gedenken?


    Prof. Dr. Johannes G. Gostomzyk
    Das Gesundheitswesen, Hauptschriftleiter