Psychiatr Prax 2006; 33(8): 406-407
DOI: 10.1055/s-2006-956989
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Worauf kommt es an? Qualitätssicherung 1837

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Publication Date:
27 November 2006 (online)

 

Im 19. Jahrhundert haben viele Ärzte die psychiatrischen Anstalten im In- und Ausland besucht, um das Anstaltswesen zu studieren, insbesondere wenn sie sich anschickten, eine leitende Stellung anzunehmen. Ihre Berichte geben ein anschauliches Bild und sind eine psychiatriegeschichtliche Quelle. Unter ihnen war auch A. Leopold Köstler. Sein Bericht von 1839 ist über das psychiatriehistorische Interesse hinaus lehrreich. Biografisch ist über Köstler kaum mehr bekannt, als dass er 1836 bis 1839 Primarius am "Narrenturm" und Mitglied der Medizinischen Gesellschaft zu Wien war. Zuvor hatte er als Polizeiarzt eine Arbeit über die Choleraepidemie geschrieben.

Um den zeitlichen Rahmen zu skizzieren: Das Anstaltswesen war auch in Deutschland noch im Aufbau, an einigen Orten aber bereits etabliert mit der Tendenz der Verfestigung. Heinrich Damerow residierte seit 1836 als Professor in Halle. Carl Flemming war seit 1830 in Sachsenberg bei Schwerin. Ernst Albert Zeller begründete 1833 die Anstalt Winnental. Vorbilder waren das englische und französische Anstaltswesen. In England hatte vor nicht langer Zeit (1830) John Conolly einen eingehenden Bericht über die Anstalten verfasst.

Gegenstände der Studienreise 1837 von Köstler waren die Irrenanstalten in England, Frankreich und Belgien, genauer gesagt, die "Heilanstalten", die Kranke bis zu ungefähr 2 Jahren behandelten. Methodisch ging er ungewöhnlich gründlich vor, ermittelte in längeren Aufenthalten zahlreiche Details, die er ausführlich beschrieb, je Anstalt bis zu 10 oder 12 Druckseiten. Er schilderte nicht nur das Übliche wie Gebäude, Räume, Möbel, Sanitäranlagen, Beschäftigungsmöglichkeiten, Verpflegung und Behandlungsverfahren, sondern er gab auch Patientenstatistiken (Diagnose, Verweildauer), des Weiteren Personaldaten, auch Gehälter sowie Kosten und Einnahmen der Anstalten wieder. Die Instrumente der damaligen physischen Behandlung (Zwangsstuhl, Drehstuhl usw.) nannte er "Marterapparate".

In England war Köstler überrascht von dem schlechten Zustand, in dem sich die renommierte Anstalt New Bethlam in London befand (Seite 18), und auch nicht viel besser die sonst als Musteranstalt hervorgehobene Klinik St. Lukes in London; günstiger fiel die Besichtigung der Privatanstalt von Dr. Burrows bei London aus. Die Anstalt Hanwell bei London zeigte günstigere Behandlungsvoraussetzungen (2 Jahre später sollte dort Conolly seine Arbeit beginnen).

In Frankreich besuchte Köstler die berühmten Anstalten von Paris: Bicètre und Salpétrière sowie Charenton, wo er günstige Verhältnisse vorfand, insbesondere aber in Esquirols Modellanstalt Ivry. Schließlich war er in der neuen Anstalt in Rouen. In Belgien war Köstler erschüttert von dem schlechten Zustand der Anstaltspsychiatrie, er besuchte Brüssel und Antwerpen; nur Gent unter dem Anstaltsleiter Joseph Guislain war in der Verbesserung der Behandlungsverhältnisse weiter fortgeschritten. Interessant ist Köstlers Besuch in der Familienpflege in Gheel, der einzigen extramuralen psychiatrischen Institution der damaligen Zeit, ausgefallen. Sein Urteil, teils positiv, teils negativ, ist differenzierter als das der meisten anderen Besucher.

Am besten schnitten in Köstlers Beurteilung die deutschen Irrenanstalten ab, er hatte u.a. Sonnenstein und Siegburg besucht. Hierüber berichtete er allerdings nicht in dieser Schrift.

Soweit die kurze Inhaltsangabe der 85 Seiten starken Broschüre. Wenn hier an Köstlers Schrift erinnert wird, so aus einem bestimmten Grunde: Er hat wie kein anderer Psychiatriereisender seiner Zeit das Wesentliche hervorzuheben gewusst. Was er für wesentlich hielt, kann unser heutiges Interesse beanspruchen. Aus seinem Bericht gehen vor allem folgende Punkte hervor: Die Milieutherapie, die konsequente Absonderung der Patienten für die Zeit der Behandlung, die ärztliche Behandlung neben der pflegerischen Versorgung und dabei die Anwesenheit eines Arztes, die selbst in den Musteranstalten nicht immer gewährleistet war; von Esquirol z.B. erfuhr er, dass dieser nur 3-mal wöchentlich seine Privatanstalt Ivry aufsuchte. Liest man Köstlers Ausführungen, so merkt man, dass er aus der Sicht des Patienten die Verhältnisse beurteilte. Hier zeigt Köstler eine konsequente kritische Einstellung, von der er selbst den berühmten Esquirol nicht herausnahm: "So instruktives ist, Esquirol bei seinen Visiten in Charenton zu begleiten, so sehr man dabei Gelegenheit findet, seinen diagnostischen Scharfblick zu bewundern, so wird man doch auf der anderen Seite von einer gewissen Sorglosigkeit um die geistige und gemüthliche Verfassung der Kranken etwas unangenehm afficiert" (Seite 67).

Worauf kommt es an? Ein Beispiel: Als Köstler in Hanwell erfuhr, dass die Anstalt von 600 auf 1000 Kranke erweitert werden sollte, schrieb er:"...auch ist kaum zu erwarten, dass bei einer solchen Anzahl der Kranken, die der dirigierende Arzt unmöglich gehörig übersehen und leiten kann, nicht eine große Vernachlässigung derselben eintreten sollte" (Seite 34).

Offensichtlich gibt es in der Psychiatrie Probleme, die uns über die Jahrhunderte hin erhalten bleiben. Gegenwärtig führen wir eine anhaltende Qualitätssicherungsdebatte. Wir müssen uns kritisch fragen, ob nicht auch heute noch die Anwesenheit des Arztes auf der Krankenstation und die Präsenz des Klinikdirektors in der Klinik Probleme bereiten; des Weiteren ob wir alle die Aktivitäten, die man zusammenfassend Milieutherapie nennt, unseren Möglichkeiten entsprechend pflegen usw. Oder ist anderes wichtiger geworden? Setzen wir unsere Mittel an der richtigen Stelle ein?

Köstler betonte vor 167 Jahren die "lebhafte werktätige Theilnahme für die Irren [...], damit in jedem Lande diese unglücklichen die so wohltuende Liebe und Sorgfalt finden und ihnen Anstalten zur Heilung oder doch wenigstens Erleichterung eines leider oft unabwendbaren Übels eröffnet werden" (S. 4). Es folgt das, worauf es ankommt: "Hierzu sind aber nicht außerordentliche Summen erforderlich; denn der Wert einer Irrenanstalt wird nicht durch ihre Größe und pomphafte Ausstattung bedingt, sondern Wissenschaft, Religion und Liebe sind es, welche hier die Früchte bestimmen" [...], die den Kranken am meisten zugute kommen.

Es geht also um den therapeutischen Umgang mit Patienten, eine Aufgabe, die heute nicht weniger aktuell ist als zu Köstlers Zeit. Er griff sein Hauptanliegen 1840 erneut auf: "Vor allem muss der Arzt bemüht seyn, Liebe und Vertrauen bey dem Kranken zu erwecken, jeder Geisteskranke ist psychisch leidend; er sehnt sich nach Trost, nach Hülfe [...] Fühlt der Kranke, dass der Arzt ihm mit Liebe zugethan ist, dass er ihm zu helfen wünscht, dann wird er sich gerne nähern, ihm seine Leiden anvertrauen [...]" (KöstIer 1840, S. 526). Hierauf kommt es mehr an als auf die schönsten Gebäude und Ausstattungen.

Prof. Dr. med. Rainer Tölle, Münster

Köstler AL. Bemerkungen über weitere Irrenanstalten von England, Frankreich und Belgien. Wien: Mechitaristen-Congregations-Buchhandlung, 1839: 85 S

Köstler AL. Einige Worte über Geisteskranke. Mediz. Jahrb. des Österr. Staates 1840; 22: 513-528