PiD - Psychotherapie im Dialog 2007; 8(1): 16-20
DOI: 10.1055/s-2006-951979
Aus der Praxis
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Stationäre psychodynamisch-psychoanalytische Psychotherapie

Henning  Schauenburg
Further Information
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Korrespondenzadresse:

Prof. Dr. Henning Schauenburg

Zentrum Psychosoziale Medizin
Klinik für Psychosomatische und Allgemeine Klinische Medizin

Thibautstraße 2

69115 Heidelberg

Email: Heing.Schauenburg@med.uni-heidelberg.de

Publication History

Publication Date:
13 April 2007 (online)

Table of Contents #

Zusammenfassung

Stationäre psychotherapeutische Behandlungsansätze wurden in Deutschland historisch vor allem von psychodynamisch-psychoanalytischen Klinikern entwickelt. Noch heute arbeiten die meisten Einrichtungen nach entsprechenden Konzepten. In den zurückliegenden Jahren wurden teilweise verhaltenstherapeutische und systemische Interventionsmöglichkeiten als ergänzende Therapieverfahren in die Klinikkonzepte integriert. Im Mittelpunkt der Konzepte steht zum einen die Bearbeitung der „Reinszenierung” zentraler maladaptiver und neurotischer Konfliktmuster im therapeutischen Raum der Station und zum anderen das Verständnis der Psychotherapie-Station als Ort der Unterstützung und Stabilisierung bei schweren strukturellen Beeinträchtigungen. Entsprechend sind Affekte mobilisierende und deutende Vorgehensweisen einerseits und Halt und Struktur gebende, stabilisierende Interventionen andererseits wesentliche Momente der Therapie. Zentral für psychodynamische Konzepte ist außerdem die Betrachtung der Therapie als Gruppenprozess. Die Notwendigkeit der oft zeitaufwendigen Herstellung eines vertrauensvollen Arbeitsbündnisses sowie der personellen Kontinuität sind Besonderheiten des stationären Settings, die den Gedanken der „arbeitsteiligen” Aufteilung in Akut- und Rehabilitations-Behandlung an verschiedenen Orten in den meisten Fällen als nicht sinnvoll erscheinen lassen.

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Henning Schauenburg

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geb. 1954, Prof. Dr. med., Arzt für Psychotherapeutische Medizin, Nervenarzt, Psychoanalytiker (DGPT, DGPM, DKPM, SPR, Arbeitskreis OPD), geschäftsführender Oberarzt der Klinik für Psychosomatische und Allgemeine Klinische Medizin, Universität Heidelberg, dort Leiter des Standortes Bergheim. Sachverständiger im Gremium zur Erarbeitung der Nationalen Versorgungsleitlinien zur Therapie der Depression.

Wissenschaftliche Schwerpunkte: Diagnostik (Mitglied im Koordinationsausschuss der Arbeitsgruppe „Operationalisierte psychodynamische Diagnostik”), klinische Bindungsforschung, Psychotherapieergebnisforschung, Prozessdarstellung in der stationären Psychotherapie, Psychotherapie der Depression, Bindungsstile von Psychotherapeuten, kardiale Auswirkung der Depression.

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Einführung

Dem kürzlich erschienenen neuen Klinikführer für psychosomatisch-psychotherapeutische stationäre Einrichtungen in Deutschland (Schauenburg et al. 2007) kann man entnehmen, dass von den dort gelisteten 138 Kliniken 64 sich als ausschließlich psychoanalytisch-psychodynamisch orientiert charakterisieren, 43 geben ein Mischkonzept aus psychodynamischem und verhaltenstherapeutischem Ansatz an, 21 sind reine VT-Kliniken und 10 machen keine Angaben. Vermutlich spiegeln diese Zahlen nur sehr grob wieder, was in den entsprechenden Kliniken tatsächlich geschieht, aber sie sind angesichts der Richtung der öffentlichen Diskussion interessant und hinsichtlich des deutlichen Überwiegens psychodynamischer Konzepte etwas unerwartet.

Unabhängig von der mehr oder weniger eindeutigen konzeptuellen Zuordnung ist stationäre Psychotherapie in den letzten Jahren allerdings vor allem zu einem Ort der Integration unterschiedlicher therapeutischer Ansätze geworden: Der offensichtliche Nutzen verhaltenstherapeutischer Expositionsbehandlungen oder Selbstmanagementstrategien oder die gezielte Einbeziehung von Angehörigen in die stationäre Behandlung (vgl. die Beiträge von Volker Köllner und Roland Vauth sowie Jochen Schweitzer et al. in diesem Heft) wird von psychodynamisch orientierten Kliniken breit akzeptiert und diese Interventionen kommen (hoffentlich) durchgängig zur Anwendung. Umgekehrt ist die Fokussierung auf interpersonelle Konflikte und Muster, wie auch die Tatsache der Reinszenierung solcher Muster in der Therapie, welche wesentliche psychodynamische Verstehenselemente sind, in verhaltenstherapeutischen Kontexten ein häufiges Thema.

Hinsichtlich der genauen Ausgestaltung der entsprechenden Ansätze sei auf die vielfältigen Informationsquellen verwiesen, die im Beitrag von Christiane Eichenberg aufgelistet sind. Aus diesem Grunde wird hier auf eine detaillierte Schilderung stationärer Abläufe in einem psychodynamischen Konzept verzichtet. Eher soll der spezifisch psychoanalytische Beitrag zur beeindruckenden Entwicklung der stationären Psychotherapie in Deutschland dargestellt werden. Dabei soll insbesondere thematisiert werden, wie sehr aus psychoanalytischer Sicht (stationäre) Psychotherapie sich von anderen nicht-psychotherapeutischen Krankenbehandlungen unterscheidet und unterscheiden muss. Insbesondere wird es darum gehen, warum die „Beziehungsorientierung” von Psychotherapie bestimmten Ökonomisierungs- und „Modularisierungs”tendenzen zwangsläufig Grenzen setzt.

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Geschichte der stationären Psychotherapie in Deutschland

Die Situation der stationären Psychotherapie in Deutschland ist international einzigartig. Ihre Geschichte ist dabei eng mit der Entwicklung der psychoanalytischen Therapie verbunden.

Hotel-Psychotherapie. Im Zuge der realen Etablierung psychoanalytischer Therapieangebote in den 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts fiel rasch eine Patientengruppe auf, deren Beeinträchtigungen „infolge der Schwere und Ausdehnung ihres neurotischen Symptombildes ambulant entweder gar nicht behandelt werden können, oder bei denen sich die ambulante Behandlung alleine als unzureichend erweist, um den Heilerfolg - in den gegebenen zeitlichen Grenzen - zu erzielen” (Simmel 1928). Simmel erkannte, dass es sich um „Problempatienten [handelte], die aufgrund ihrer Beeinträchtigung ohne Behandlung Gefahr liefen, krank zu werden und ein Leben zu führen, das sie von Arzt zu Arzt oder durch die üblichen Sanatorien” führen würde (Simmel 1928). So kam es 1927 zur Gründung einer „Psychoanalytischen Klinik” in Berlin-Tegel, die seither mit dem Begriff der „Hotel-Psychotherapie” verknüpft ist. Patienten begaben sich in einen geschützten Raum, ein Sanatorium, um dort ihre individuelle Einzeltherapie zu absolvieren. Die Notwendigkeit der „Milieuveränderung” für eine bestimmte Gruppe von Patienten, die gleichzeitig mit einer höheren „Dosis” an psychotherapeutischen Interventionen einhergeht, ist seither zentral für stationäre Angebote.

Unabhängig hiervon wurden im Bereich der Psychiatrie in den 20er-Jahren arbeits- und milieutherapeutische Ansätze populär (H. Simon, Gütersloh) und auch in der Inneren Medizin sah man die Notwendigkeit, für eine bestimmte Gruppe psychosomatischer Patienten stationäre psychotherapeutische Behandlungsmöglichkeiten zu schaffen (Viktor von Weizsäcker, Heidelberg).

Therapeutische Gemeinschaft. Aus bekannten historischen Gründen konnten diese „Linien” nach dem Exodus psychoanalytischer Therapeuten während des Faschismus nicht weiterverfolgt werden. Unmittelbar nach dem Krieg kam es dann allerdings rasch zur Gründung erster psychoanalytisch orientierter stationärer Einrichtungen in Deutschland (1948 Wiegmann-Klinik in Berlin, 1949 Tiefenbrunn bei Göttingen, 1950 Klinik Wittgenstein in Bad Berleburg). Diese Kliniken waren inspiriert von der Idee der „Therapeutischen Gemeinschaft”, die sich während des Zweiten Weltkriegs unter der Impulsgebung von Gruppentherapeuten entwickelte. Die Grundidee der therapeutischen Gemeinschaft war die Herstellung eines Milieus, in dem im Gruppenkontext neurotische Probleme und Konflikte der Patienten sich entfalten und zu einer Lösung gelangen konnten. Hierzu war es nötig, die psychotherapeutische Station als ein Gruppenganzes zu verstehen, in dem Patienten und Teammitglieder jenseits von traditionellen Hierarchien dergestalt miteinander umgingen, dass Erfahrungen von Gemeinsamkeit und Unterstützung möglich wurden, andererseits aber auch ein Resonanzboden zur Verfügung gestellt wurde, der die „Reinszenierung” lebensrelevanter Konfliktbereiche im Kontakt mit anderen Menschen ermöglichte.

Bipolares Konzept. Das Konzept der therapeutischen Gemeinschaft kollidierte zu Beginn der stationären Psychotherapien unweigerlich mit dem Gedanken der individuellen Übertragungsneurose in der einzeltherapeutischen Beziehung. Eine Lösung für dieses Spannungsverhältnis bot zunächst das bipolare Modell (Enke 1965), in dem zwischen einem „Therapieraum” und einem „Realraum” unterschieden wurde. Im alltäglichen Kontakt („Realraum”) sollte insbesondere das Pflegeteam versuchen, einen überwiegend alltagsnormalen Kontakt zu den Patienten herzustellen. Die hieraus erwachsenden Konflikte sollte dann in den therapeutischen Kontakten deutend bearbeitet werden. Zudem sollte der „Realraum” des Lebens auf der Station ein Durcharbeiten und Erproben der in der Therapie gewonnenen Einsichten ermöglichen.

Integratives Konzept. Diese idealtypische Trennung von Therapie und Realraum beschrieb allerdings das Geschehen auf Psychotherapiestationen unzureichend und führte gehäuft zu unproduktiven Spaltungen in den therapeutischen Teams. Das insbesondere von Janssen (1987) vorgeschlagene Modell der integrativen stationären Therapie setzte verstärkt auf die Kommunikation innerhalb des Teams sowie auf ein besseres Verständnis therapeutischer und realer Anteile in allen Interaktionen des therapeutischen Alltags. Patienten sehen sich angesichts der Vielfalt der Persönlichkeiten im therapeutischen Team mit unterschiedlichsten Übertragungsangeboten konfrontiert und es ist Aufgabe des Teams, mit ihnen gemeinsam die jeweils zentrale Thematik der Patienten herauszuarbeiten (Senf 1988).

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Entwicklungen in der psychoanalytisch-psychodynamischen stationären Psychotherapie

Neben dieser methodenimmanenten Entwicklung war die Entwicklung der psychodynamischen stationären Psychotherapie insbesondere seit den 80er-Jahren durch die zunehmende Integration von Elementen aus anderen Therapieverfahren gekennzeichnet. Zu nennen sind hier verhaltenstherapeutische Elemente wie Angstexpositionstraining, Therapieverträge bei Essstörungen, Tagebuchführen, Integration von paar- und familientherapeutischen Ansätzen in der Arbeit mit Angehörigen sowie sozialtherapeutische Interventionen. Einige dieser Verfahren sind in anderen Beiträgen dieses Heftes beschrieben.

„Ich-schwache” Patienten. Eine hiervon zum Teil unabhängige konzeptionelle Modifizierung im Bereich stationärer Psychotherapie betrifft den Umgang mit schwer persönlichkeitsgestörten Patienten. Für diese hatten schon Heigl und Heigl-Evers in ihrem Göttinger Modell der Gruppenpsychotherapie ein modifiziertes therapeutisches Vorgehen vorgeschlagen (Heigl u. Heigl-Evers 1983): Für solche in der traditionellen Terminologie „ich-schwache” Patienten ist das landläufige konfliktzentrierte, „aufdeckende” Vorgehen überfordernd, kontraproduktiv und vor allem wenig erfolgreich. Das therapeutische Team sollte deshalb „Hilfs-Ich-Funktionen” übernehmen. Dies heißt konkret, dass stärkere Strukturierung angeboten und teilweise direkte Unterstützung gewährleistet wird bzw. im Kontakt nicht nur auf innerseelisches Erleben, sondern gleichermaßen auf Interaktion und beobachtbares Verhalten fokussiert wird.

Das Klima auf Psychotherapiestationen ist regressionsfördernd (partielles Aufgeben von Alltagsverantwortung) was auch gewünscht ist, insofern es zusammen mit der therapeutischen Konzentration auf die Intensivierung von Affekten habituelle Abwehrkonstellationen „aufweicht”. Dies kann bei strukturell stärker beeinträchtigten Patienten zu ungünstigen, „malignen” Regressionen führen. Deshalb wird für diese eine alternative Therapiestrategie gefordert, in der großes Gewicht auf eine möglichst enge Orientierung an konkretem Verhalten und Schwierigkeiten in der alltäglichen Interaktion sowie auf Förderung stabilisierender Interventionen gelegt wird. Therapeutisches Verhalten ist eher auf Realitätsprüfung ausgerichtet. Es wird weniger davon ausgegangen, dass Patienten aufgrund neurotischer Konflikte bestimmte eigene Impulse abwehren und deshalb über die „versagende” therapeutische Interaktion ein besseres Verständnis dieser abgewehrten Inhalte erreicht werden soll. Vielmehr wird angenommen, dass Patienten aufgrund ihrer strukturellen Beeinträchtigung nicht in der Lage sind, Interaktionen günstig zu gestalten, weshalb sie eher direkte Hilfe und Unterstützung (z. B. in Form der Hilfe bei der Differenzierung von Affekten oder der Steuerung von Impulsen) erhalten sollten (Rudolf 2006).

Trauma-Folgestörungen. Zu einem besonderen Aufschwung dieser Sicht schwerer beeinträchtigter Patienten verhalf der stationären Psychotherapie das verbesserte Verständnis von Trauma-Folgestörungen, bei denen wesentliche interaktionelle Schwierigkeiten des Patienten auf die beeinträchtige Verarbeitung konflikthafter Situationen infolge traumatisch bedingter Erlebensweisen (Arousal, Flashbacks und Vermeidungsverhalten) zurückgeführt werden.

Die Entwicklung eigenständiger Settings für Patienten mit schweren Persönlichkeitsstörungen (Borderline-Störungen) und Trauma-Folgestörungen ist auch insofern interessant, als sich hier Berührungspunkte mit vergleichbaren Entwicklungen im Rahmen der Verhaltenstherapie zeigen (dialektisch-behaviorale Therapie bei Borderline-Störung).

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Indikation zur stationären Psychotherapie

Jede stationäre Psychotherapie konzentriert sich auf jene Patienten, die ambulant noch nicht oder nicht mehr behandelt werden können. Die in den aktuellen Kostenträger-Auseinandersetzungen immer wieder aufgeworfene Frage, ob nur akut erkrankte Patienten für eine begrenzte Zeit eine „kurative” Krankenhausbehandlung erhalten sollten sowie die damit zusammenhängende Frage der differenziellen Indikation zwischen akuter Krankenhausbehandlung und Rehabilitationsbehandlung gilt für die stationäre Psychotherapie nur begrenzt.

Akutheit wie auch aktuelle Schwere einer Erkrankung sind nur ein Indikationskriterium. Ein weiterer, in der Diskussion oft zu kurz kommender Indikationsaspekt ist das zu entwickelnde Krankheitsverständnis aufseiten der betroffenen Patienten. So kann selbst eine chronisch verlaufende somatoforme Störung oder depressive Entwicklung dennoch eine Krankenhausbehandlung nötig machen, weil nur im intensiven und multimodalen Setting ein Krankheitsverständnis mit dem Patienten erarbeitet werden kann, das weitergehende ambulante Psychotherapie aussichtsreich erscheinen und chronifizierte Prozesse unterbrechen lässt.

Weitere Kriterien stationärer Aufnahme sind krisenhafte Zuspitzungen mit zunehmender Unmöglichkeit der Alltagsbewältigung (z. B. schwere depressive Entwicklungen, ausgeprägte Agoraphobie bzw. Zwangsstörung und posttraumatische Belastungsstörungen).

Andere Indikationen liegen in der Entfernung aus pathogenen Milieus (Arbeitsplatzsituation, Familie). Gelegentlich ist es unabdingbar, Patienten stationär aufzunehmen, bei denen eine längere Wartezeit auf einen ambulanten Therapieplatz zu einer Verschlimmerung ihrer psychischen Situation führen würde.

Nicht zuletzt erfordern Krankheitsbilder eine stationäre Aufnahme, die ärztliche und therapeutische Überwachung benötigen (selbstverletzendes Verhalten, schwere Essstörungen, schwere Zwangsstörungen).

All diese Indikationen sind nicht spezifisch für psychoanalytisch-psychodynamische Konzepte. Ob es hier differenzielle Kriterien gibt, ist umstritten. Zumindest zeigen Arbeiten aus dem deutschsprachigen Raum, dass die jeweiligen psychodynamischen und verhaltenstherapeutischen Vorgehensweisen im stationären Setting sich klar unterscheiden lassen (Watzke et al. 2006).

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Psychoanalytische Aspekte einer typischen stationären Psychotherapie

Über stationäre Psychotherapie gibt es sowohl aufseiten der Patienten als auch bei Überweisern oftmals ungenaue Vorstellungen. So erwarten sich manche ein kurzes Intensivprogramm, das sie rasch wieder „instand” setzt, ihren Alltag zu bewältigen. Andere versprechen sich eine Heilung durch Schonung und Ruhe, wieder andere kommen eher widerwillig, weil sie durch ihre Umgebung zu diesem Schritt gezwungen werden, und fürchten manipulative und erzwungene Interventionen. Nur wenige haben bereits ein realistisches Verständnis psychotherapeutischer Prozesse: Forschungen zur Ausgangssituation stationärer Psychotherapiepatienten ergaben, dass die wenigsten ein einigermaßen greifbares Bild von Ausmaß und Charakter ihrer innerpsychischen bzw. interpersonellen Schwierigkeiten hatten. Deshalb ist stationäre psychodynamische Psychotherapie oft der erste Ort, an dem die Betreffenden sich bewusster mit sich selbst und ihrer Geschichte auseinander setzen. In dem Maß, in dem dies geschieht, kann auch ein Arbeitsbündnis entstehen, das es den Patienten erlaubt in einen therapeutischen Prozess „einzuwilligen”.

Hier findet sich ein weiterer Punkt, der in der „Kostenträgerdiskussion” selten erwähnt wird: Grundlage jeder Psychotherapie ist ein vertrauensvoller Kontakt zu Therapeuten und Behandlungsteam. Ein solcher Kontakt kann nicht einfach willentlich hergestellt werden, sondern wird stark von Wünschen und vor allem Befürchtungen bestimmt, die die Patienten ja gerade in ihre schwierige Situation gebracht haben. Die Herstellung eines Arbeitsbündnisses braucht in den meisten Fällen Zeit. Aus diesem Grund erscheinen auch die teilweise geforderten modularen Modelle (kurze akute Krankenhausbehandlung und dann rasche Weiterleitung in eine stationäre Rehabilitationsbehandlung) wenig praktikabel. Sie würden in einzelnen Fällen von Patienten als traumatischer Beziehungsabbruch gewertet werden bzw. grundsätzlich die Entstehung eines Vertrauensverhältnisses erheblich behindern und einen therapeutischen Prozess gar nicht erst zustande kommen lassen.

Dieser umfasst eine komplexe Mixtur aus affektivem und sozialem Lernen, Erfahrung von Unterstützung, Üben vermeidender Entwicklungsschritte, Erfahrung von Angenommensein in einer Gruppe, die alle zur Entwicklung von verbessertem Selbstgefühl und hoffnungsvolleren Lebensperspektiven beitragen können.

Dies ist eine deutlich andere Vorgehensweise, als in einem, offensichtlich auch in der Diskussion mit Krankenkassen immer wieder unterschwellig vorausgesetzten, „medizinischen Modell”, das Identifikation und Beseitigung einer Störungsursache als einen linearen und durch die Anwendung bestimmter Therapiedosen zu erledigenden Prozess konzipiert.

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Adaptive Indikationen und differenzielle Therapiestrategien

Die Erfahrung lehrt, dass stationäre Psychotherapien einen mehrphasigen Prozess durchlaufen, dessen Gestalt in vielfältiger Weise von der Persönlichkeit der Betreffenden abhängt. Die meisten Patienten erleben die stationäre Aufnahme zunächst als Entlastung hinsichtlich ihres Symptomdruckes und der Anforderungen des Alltags. Die Krankenhausaufnahme demonstriert, gerade bei den häufig schwer zu greifenden oder schambesetzten psychischen Erkrankungen die Krankheitswertigkeit des eigenen Erlebens. Auf der anderen Seite gibt es Schuld- bzw. Versagensgefühle, die sich in Selbstvorwürfen ausdrücken und die in einigen Fällen auch zu einer Verschlechterung des Befindens nach stationärer Aufnahme führen können. In vielen Fällen besteht nur ein rudimentäres Verständnis der Entstehungsbedingungen für die zutage getretene persönliche Krise bzw. Dekompensation.

Typischerweise werden äußere Belastungsfaktoren herangezogen, die aber alleine selten ausreichen, die Situation zu erklären. Deshalb gilt es zu Beginn einer stationären Psychotherapie nach neuerem Verständnis darum wie oben beschrieben, zu klären, ob Hintergrund einer Erkrankung eher das Scheitern der Abwehr konfliktbezogener Befürchtungen ist (Indikation für konfliktorientiertes Vorgehen) oder ob der Mangel an strukturellen Bewältigungsmöglichkeiten die Dekompensation bewirkt hat (Indikation für strukturbezogenes Vorgehen).

Aus dieser Differenzierung ergibt sich, ob therapeutisch z. B. an der Spezifität der auslösenden Situation, der Art der dadurch aktivierten Impulse und insgesamt am „eigenen Anteil” an der Zuspitzung gearbeitet wird. Das psychoanalytische Neurosenmodell bietet hier einen großen Erfahrungsschatz zum Verständnis der entsprechenden Interaktionen und ihrer teils konfrontativen, teils verstehenden Bearbeitung und Überwindung.

Im anderen Fall sind Patienten ihren eigenen Affekten und Impulsen, aber auch den Belastungen ihres Lebens eher schutzlos ausgeliefert und es geht zuvorderst um die Stabilisierung und Stärkung versagender Bewältigungsmöglichkeiten.

Insgesamt ist angesichts einer solch basalen Unterscheidung die Vielfalt der angewendeten Methoden sehr wichtig, weil so schnell Wahlmöglichkeiten bestehen, für jede Patientin, jeden Patienten das ihr bzw. ihm gemäße Vorgehen zu finden. Einzel- und Gruppentherapie können auf beide Strategien ausgerichtet durchgeführt werden (konflikt- und affektmobilisierend bzw. stabilisierend und supportiv), für nonverbale Verfahren wie Kunst/Gestaltungstherapie, Musiktherapie und Bewegungs- bzw. Körpertherapie gilt Ähnliches. Psychoedukative Elemente haben strukturierenden Charakter, konfrontative Interventionen wie Expositionstherapie sind für weniger strukturell beeinträchtigte Patienten geeignet. Die Einbeziehung von Angehörigen ermöglicht eine „Verbreiterung” des Behandlungskontextes.

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Die besondere Bedeutung des therapeutischen Teams

In jedem Fall wird vom psychoanalytischen Grundverständnis ausgegangen, dass „Abwehr” und „Widerstand” gegen Veränderung sinnvolle Phänomene zum Selbstschutz sind, die erst dann aufgegeben werden können, wenn eine vertrauensvolle Basis zum therapeutischen Gegenüber entstanden ist und innere Sicherheit und Stabilität „riskante” Schritte erlaubt. Ein solches dynamisches Verständnis schützt vor der häufig anzutreffenden Sicht, dass Patienten grundsätzlich als widerständig angesehen werden und ihre Abwehr zu brechen ist. Hier ist es hilfreich, sich die Überlegungen von Autoren wie Weiss und Sampson (1986) zu eigen zu machen, dass Patienten prinzipiell mit einem Veränderungswunsch in die Therapie gehen, allerdings hierbei insofern auf die Mithilfe des therapeutischen Gegenüber angewiesen sind, als sie sich erhoffen, dass diese nicht in der den Patienten gewohnten und bekannten (entwertenden, zurückweisenden o. ä.) Weise reagieren.

Nur wenn ein therapeutisches Team versteht, inwieweit es selbst in fest gefügte Beziehungsmuster eingebunden wird, ist es in der Lage, „anders” zu reagieren, als dies die alltäglichen Bezugspersonen der betreffenden Patienten können. Nur indem Beziehungsstörungen sich „reinszenieren” dürfen und dies nicht „strafend” bzw. vorwürflich und entwertend beantwortet wird, sondern aus einer Haltung des Verstehenwollens heraus, kann es zu Veränderungen kommen. Auf dieser Grundlage entsteht erst die Möglichkeit für den Patienten, eigene Begrenzungen und dysfunktionale Interaktionen zu überwinden.

Der Selbstreflexion und der intensiven Supervision therapeutischer Teams besonders viel Raum zu geben, ist deshalb ein zentraler Bestandteil psychoanalytisch-psychodynamischer Behandlungseinrichtungen. Diese scheinbar „patientenferne” Komponente wird in manchen Einrichtungen in ihrer Wichtigkeit u. U. unterschätzt, nicht zuletzt, weil sie auch Kostenträgern schwerer zu vermitteln ist.

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Fazit

Zusammengefasst ist psychoanalytisch-psychodynamische stationäre Psychotherapie durch die Grundannahme gekennzeichnet, dass die besonderen Möglichkeiten des stationären Settings weniger in der Anwendung hoch dosierter störungsspezifischer Interventionen liegen, als vielmehr in der umfassenden Verschränkung Schutz gewährender und unterstützender sowie herausfordernder und konfrontativer Elemente. Dabei wird besonders auf die dysfunktionale Beziehungsgestaltung als Kernelement neurotischer Erkrankung fokussiert. Dies ermöglicht, eine Verbindung zwischen zurückliegenden Beziehungserfahrungen und aktuell beeinträchtigten Interaktionen herzustellen und diese im intensiven Zusammenleben im Rahmen des stationären Settings aufzulösen. Dass es dennoch fast bei allen stationär-psychotherapeutisch Behandelten zur Empfehlung einer weiterführenden ambulanten Therapie kommt, ist aus der beharrenden Tendenz menschlicher Verhaltensweisen sowie aus den Einflüssen des familiären und Umgebungskontextes auf die Patienten leicht erklärbar. Im Sinne des psychoanalytischen „Wiederholens und Durcharbeitens” ist es auch bei gelungener stationärer Psychotherapie meist nötig, dass das veränderte Verhalten in weiterer Therapie gefestigt und stabilisiert wird, um sich in unausweichlichen Krisensituationen zu bewähren.

Angesichts der Erfolge psychoanalytisch-psychodynamischer stationärer Psychotherapie (vgl. Franz et al. 2000) und der breiten Rezeption des von ihr entwickelten beziehungsdynamischen Verständnisses sollten weitere Restriktionen im Bezug auf die Dauer und den Umfang der Behandlungen sehr kritisch abgewogen werden. Die weitere Entwicklung der Verzahnung von stationären, teilstationären und ambulanten Behandlungsangeboten, u. U. auch im Sinne der integrierten Versorgung (vgl. den Beitrag von Hendrischke et al. in diesem Heft) ist jedoch unbedingt zu begrüßen.

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Literatur

  • 1 Enke H. Bipolare Gruppenpsychotherapie als Möglichkeit psychoanalytischer Arbeit in der stationären Psychotherapie.  Psychother Psychosom Med. 1965;  21 116-121
  • 2 Franz M, Janssen P, Lentsche H, Schmidtke V, Tetzlaff M, Martin K, Wöller W, Hartkamp N, Schneider G, Heuft G. Effekte stationärer psychoanalytisch orientierter Psychotherapie.  Z Psychosom Med Psychother. 2000;  46 242-258
  • 3 Heigl F, Heigl-Evers A. Das interaktionelle Prinzip in der Einzel- und Gruppentherapie.  Z Psychosom Med Psychoanal. 1983;  29 1-14
  • 4 Janssen P. Psychoanalytische Therapie in der Klinik. Stuttgart; Klett-Cotta 1987
  • 5 Rudolf G. Strukturbezogene Psychotherapie. 2. Aufl. Stuttgart; Schattauer 2006
  • 6 Schauenburg H, Hildenbrand G, Koch U, Mattke D, Neun H, Rüddel H. Klinikführer - Stationäre psychosomatisch-psychotherapeutische Einrichtungen. Stuttgart; Schattauer 2007
  • 7 Senf W. Theorie der stationären Psychotherapie. In: Becker H, Senf W (Hrsg) Praxis der stationären Psychotherapie. Stuttgart; Thieme 1988
  • 8 Simmel E. Die psychoanalytische Behandlung in der Klinik.  Int J Psychoanal. 1928;  14 352-370
  • 9 Watzke B, Koch U, Schulz H. Zur theoretischen und empirischen Unterschiedlichkeit von therapeutischen Interventionen, Inhalten und Stilen in psychoanalytisch und verhaltenstherapeutisch begründeten Psychotherapien.  Psychosom Psychother med Psychol. 2006;  56 234-248
  • 10 Weiss J, Sampson H. The Mount Zion Psychotherapy Research Group .The psychoanalytic process: Theory, clinical observations and empirical research. New York; Guilford Press 1986
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Korrespondenzadresse:

Prof. Dr. Henning Schauenburg

Zentrum Psychosoziale Medizin
Klinik für Psychosomatische und Allgemeine Klinische Medizin

Thibautstraße 2

69115 Heidelberg

Email: Heing.Schauenburg@med.uni-heidelberg.de

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Literatur

  • 1 Enke H. Bipolare Gruppenpsychotherapie als Möglichkeit psychoanalytischer Arbeit in der stationären Psychotherapie.  Psychother Psychosom Med. 1965;  21 116-121
  • 2 Franz M, Janssen P, Lentsche H, Schmidtke V, Tetzlaff M, Martin K, Wöller W, Hartkamp N, Schneider G, Heuft G. Effekte stationärer psychoanalytisch orientierter Psychotherapie.  Z Psychosom Med Psychother. 2000;  46 242-258
  • 3 Heigl F, Heigl-Evers A. Das interaktionelle Prinzip in der Einzel- und Gruppentherapie.  Z Psychosom Med Psychoanal. 1983;  29 1-14
  • 4 Janssen P. Psychoanalytische Therapie in der Klinik. Stuttgart; Klett-Cotta 1987
  • 5 Rudolf G. Strukturbezogene Psychotherapie. 2. Aufl. Stuttgart; Schattauer 2006
  • 6 Schauenburg H, Hildenbrand G, Koch U, Mattke D, Neun H, Rüddel H. Klinikführer - Stationäre psychosomatisch-psychotherapeutische Einrichtungen. Stuttgart; Schattauer 2007
  • 7 Senf W. Theorie der stationären Psychotherapie. In: Becker H, Senf W (Hrsg) Praxis der stationären Psychotherapie. Stuttgart; Thieme 1988
  • 8 Simmel E. Die psychoanalytische Behandlung in der Klinik.  Int J Psychoanal. 1928;  14 352-370
  • 9 Watzke B, Koch U, Schulz H. Zur theoretischen und empirischen Unterschiedlichkeit von therapeutischen Interventionen, Inhalten und Stilen in psychoanalytisch und verhaltenstherapeutisch begründeten Psychotherapien.  Psychosom Psychother med Psychol. 2006;  56 234-248
  • 10 Weiss J, Sampson H. The Mount Zion Psychotherapy Research Group .The psychoanalytic process: Theory, clinical observations and empirical research. New York; Guilford Press 1986
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Korrespondenzadresse:

Prof. Dr. Henning Schauenburg

Zentrum Psychosoziale Medizin
Klinik für Psychosomatische und Allgemeine Klinische Medizin

Thibautstraße 2

69115 Heidelberg

Email: Heing.Schauenburg@med.uni-heidelberg.de

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