Aktuelle Urol 2006; 37(3): 184-186
DOI: 10.1055/s-2006-948104
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© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Prostatakarzinom - Solide Basis zur Beurteilung der Früherkennung

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Publication Date:
26 July 2006 (online)

 
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Eine prospektive, populationsbezogene Kohortenstudie aus Schweden legt einen klaren Grundstein für das "worst case scenario" beim Prostatakarzinom und erlaubt in Zukunft Aussagen über die Effizienz von Früherkennungsmaßnahmen: Die Überlebensdaten von 8887 Männern mit Prostatakarzinom wurden über 15 Jahre ausgewertet. Obwohl nur 11% eine kurative Behandlung erfuhren, wurden die Männer rund 80 Jahre alt und rund 44% verstarben an ihrem Malignom (Cancer 2005; 103(5): 943-952).

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Radikale Prostatektomie (links vor, rechts nach der Operation). Die Operation hat bessere Erfolgsaussichten als die Radiotherapie (Bild: Urologie, Thieme, 2002).

Frühe Diagnostik und Therapie werden in den USA oft herangezogen, um eine sinkende Mortalität an Prostatakarzinomen zu erklären. Verminderte Sterberaten werden aber auch in Ländern dokumentiert, in denen keine Früherkennungs- programme gefördert werden - etwa England und Frankreich. Wenn die Auswirkungen des Prostatakarzinoms auf die männliche Bevölkerung erfasst werden sollen, müssen einerseits "konkurrierende" todbringende Krankheiten mitbedacht werden, andererseits sollte die Lebenserwartung höher liegen als die mittlere Lebenszeit von Patienten mit Prostatakarzinom.

Auf Basis dieser Überlegungen haben schwedische Wissenschaftler den "status quo" erfasst - die Überlebensdaten aller Patienten, die in einer definierten geographischen Region (Südost-Schweden) zwischen 1987 und 1999 an einem Prostatakarzinom erkrankt sind. Möglich wurde dies durch das populationsbasierte, prospektive Krebsregister und die "persönliche Registrierungsmummer" jedes Einwohners, die eine Nachverfolgung der Patienten erlaubt.

Die wichtigsten Eckdaten: Das Alter bei Diagnosestellung betrug im Mittel 75 Jahre, nur 12% der Betroffenen waren zu diesem Zeitpunkt jünger als 65 Jahre. Zwei Drittel der Karzinompatienten sind inzwischen verstorben. Sie wurden durchschnittlich 80 Jahre alt, in 44% war die Todesursache direkt mit dem Karzinom verknüpft.

Damit ist die krankheitsspezifische Mortalität zwar vergleichsweise hoch - aber es dauert mit 15 Jahren vergleichsweise lang, bis die spezifische Mortalitätsrate 56% erreicht.

Bei metastasierten Formen zum Diagnosezeitpunkt reduziert sich dieser Wert erheblich (Überlebenszeit 2,5 Jahre), abhängig auch von Grading und PSA. Bei Patienten mit T1- bis T3-Tumoren ohne Metastasen liegt die projektierte 15-Jahres-Überlebensrate (krankheitsspezifisch) bei 66%, in der "low-risk"- Gruppe (T1-T2, Grad 1 bis 2, N0, M0) über- leben 93% 10 und 80% 15 Jahre.

Hinsichtlich des PSA-Wertes wurden die Überlebensadten von rund 2000 Patienten ausgewertet: Bei einem Wert von unter 20 ng/ml bei Diagnosestellung berechnete sich bei therapierten Männern eine krankheitsspezifische 10-Jahres- Überlebensrate von 79%.

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Radikaler Eingriff senkt Mortalitätsrate stärker als Radiatio oder Palliation

Die Behandlung erfolgte in mehr als einem Drittel der Fälle (37,4%) durch "watchful waiting", in rund der Hälfte palliativ (Orchiektomie, hormonelle Kastration) - nur in elf Prozent wurde eine kurative Maßnahme (radikale Prostatektomie, Radiotherapie u.ä.) angewandt.

Die radikale Operation schnitt in den projektierten 15-Jahres-Überlebensraten mit 79% signifikant besser ab als die Ra- diotherapie (54%) und nichtkurative Vor- gehensweisen (61%). Das höhere Sterberisiko für die Strahlentherapie blieb auch bestehen, wenn eine Adjustierung nach TNM-Klasse, PSA und Tumorgrading vorgenommen wurde. Möglicherweise, so die Autoren, ist das schlechte Abschneiden dieser Methode jedoch auch in den niedrigen Strahlendosen zu suchen, die zu dieser Zeit eingesetzt wurden (64-70 Gy). Damit stellt sich die Frage: Bewirkt eine inkomplette Radiatio damit mehr Schaden als Nutzen?

Insgesamt werten die schwedischen Wissenschaftler diese Daten als valide Grundlage zur Beurteilung verschiedener Therapieformen: Der Vorteil gegenüber randomisierten, prospektiven Studien ist, dass das Ergebnis den tatsächlichen klinischen Alltag widerspiegelt - die Normalbedingungen in den Kliniken und das Resultat im nicht selektierten Patientenkollektiv. "Obwohl die Daten prinzipiell ein worst-case-Szenario wiedergeben, werden die Patienten trotzdem alt", kommentieren die Autoren. Ein Früherkennungs-Programm sei damit nur dann als sinnvoll einzustufen, wenn sich die Lebenserwartung deutlich erhöht - und wenn "konkurrierende" Mortalitätsursachen (etwa Rauchen) nicht weit verbreitet sind.

Dr. Renate Leinmüller, Wiesbaden.

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Erster Kommentar

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Radikale Prostatektomie ist die beste Behandlungsoption

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E. Becht

Der Artikel "Survival in Prostate Carcinoma - Outcomes from a Prospective, Population-Based Cohort of 8887 men with up to 15 Years of Follow-Up / Results from Three Counties in the Population-Based National Prostate Cancer Registry of Sweden” von G. Aus et al. für die South East Region Prostate Cancer Group publiziert in Cancer 103 (2005) 943 - 952 hebt sich in seiner wissenschaftlichen Methodik, der Datenbasis und der klaren Diktion deutlich ab von den vielfach oft nur polemisierend wirkenden Artikeln über den Wert der Früherkennung beim Prostatakarzinom und des PSA-Screenings, insbesondere in der "nichturologischen" Literatur. Dies war verschiedentlich bereits Anlass für unsere wissenschaftliche Gesellschaft und oft auch jedes Urologen, gegenüber Kollegen und Patienten Stellung zu beziehen. Vielfach musste dabei eine Verteidigungsposition für die Durchführung einer Früherkennung eingenommen werden. Der vorliegende Artikel bietet jetzt weitere gute wissenschaftliche Daten und Argumentationshilfe.

Der Grund für die vielfachen Missverständnisse ist in der Biologie des Prostatakarzinoms zu suchen mit häufig langem Krankheitsverlauf und Vorkommen in höherem Lebensalter. Der Schlussfolgerung, die aus dem vorliegenden Artikel zu ziehen ist, muss zugestimmt werden: Die Früherkennung ist sinnvoll unter der Voraussetzung, dass die Lebenserwartung einer Population sich erhöht. Und wer bezweifelt dies bei den derzeitigen epidemiologischen Daten.

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Ganz nebenbei wird bestätigt, dass die radikale Prostatektomie die beste Behandlungsoption beim Prostatakarzinom ist, mit besseren Ergebnissen als die externe Strahlentherapie und das Vorgehen nach "wait and see".

Prof. Dr. med. Dr. h. c. Eduard Becht

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Zweiter Kommentar

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Das Dilemma wird vergößert

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T. Paiss

Das große Dilemma mit dem wir bezüglich des Stellenwerts der PSA-Früherkennung konfrontiert sind, wird durch die Studie von Aus et al. weiter vertieft. Welche Relevanz kann PSA-Screening überhaupt haben, wenn ohne Screening das Prostatakarzinom im Median erst im Alter von 75 Jahren klinisch manifest wird? Welche Relevanz können eine Frühdiagnose im asymptomatischen Stadium und eine anschließende kurative Therapie überhaupt haben, wenn nach symptomgetriggerter Diagnose die karzinomspezifische 15-Jahres-Überlebensrate bei 44% liegt, obwohl knapp 40% der Patienten gar keine und ca. 50% der Patienten lediglich eine palliative Behandlung erhielten? Dass eine Senkung der Mortalität durch PSA-Screening überhaupt erreicht wird, ist schwer vorstellbar, wenn bei natürlichem Verlauf der Erkrankung, d.h. ohne PSA, die Prostatakarzinompatienten im Median 80 Jahre alt werden. Hat man die Mortalität als Endpunkt vor Augen, muss man tatsächlich befürchten, dass eine hohe Rate an Patienten durch PSA-Früherkennung überdiagnostiziert wird.

Doch genau in diesem Punkt sollten sich Urologen von Epidemiologen unterscheiden. Wer Patienten mit sekundären Komplikationen eines fortgeschrittenen, hormonrefraktären Prostatakarzinoms betreut, weiß, dass man sich nicht damit begnügen darf, die Mortalität der Erkrankung zu senken. Das Ziel muss vielmehr sein, die Morbidität durch das Prostatakarzinoms zu reduzieren. Mehr als 50% der Patienten in der Studie von Aus et al. starben an dem Prostatakarzinom oder mit den Symptomen eines fortgeschrittenen Prostatakarzinoms. Interessant wäre es zu evaluieren, wie häufig in diesem Kollektiv symptomatische oder interventionspflichtige Komplikationen, wie Obstruktionen des unteren und oberen Harntrakts, unterer Einflussstau bei Lymphknotenmetastasen, analgetikapflichtige Schmerzen bei ossären Metastasen usw. waren und auch wie lange der Leidensweg der Patienten bis zu ihrem Tod anhielt.

Die PSA-Früherkennung erhöht beim Prostatakarzinom eindeutig den Anteil an organbegrenzten Tumorstadien und an kurativen Therapieoptionen [1]. Durch eine Optimierung der kurativen Behandlungstechniken sind in den letzten Jahren die Komplikationsraten der radikalen Prostatektomie [2] und der primären Strahlentherapie kontinuierlich gesunken [3]. Die PSA-Früherkennung verbessert die Voraussetzung für eine kurative Therapie mit geringer Morbidität.

Wer an das PSA nur den Anspruch stellt, die Mortalität des Prostatakarzinoms zu reduzieren, muss weiterhin auf die Ergebnisse der diversen Screeningstudien, die aktuell in Gang sind, warten. Wer zum Ziel hat, die karzinomspezifische Morbidität zu senken, sollte mithilfe der PSA-Früherkennung die Chance auf eine kurative Therapieoption wahren.

Literatur beim Autor

PD Dr. med. Thomas Paiss, Ulm

 
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Radikale Prostatektomie (links vor, rechts nach der Operation). Die Operation hat bessere Erfolgsaussichten als die Radiotherapie (Bild: Urologie, Thieme, 2002).

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E. Becht

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T. Paiss