Z Orthop Ihre Grenzgeb 2006; 144(3): 241-243
DOI: 10.1055/s-2006-947118
Orthopädie aktuell

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Arthroskopie und Gonarthrose: Nur ein Placebo-Effekt?

J.A.K. Ohnsorge1 , 2 , U. Maus1 , M. Weisskopf1 , R.S. Laskin2
  • 1Orthopädische Universitätsklinik, Aachen
  • 2Hospital for Special Surgery, New York
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Publication Date:
04 July 2006 (online)

 
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Dr. Jörg A.K. Ohnsorge

Seit ihrem Erscheinen wird weltweit in allen Medien der Laien- und der Fachpresse eine höchst fragwürdige klinische Studie immer wieder zitiert und redundant mit der sensationellen Formel resümiert, dass die Arthroskopie des Kniegelenkes überflüssig sei, da Placebo-Operationen denselben Effekt haben. Die Folgen sind gravierend: Die Behandlungskosten werden vielerorts nicht mehr übernommen!

Die besprochene Arbeit trägt den Titel "A controlled trial of arthroscopic surgery for osteoarthritis of the knee", erschienen in The New England Journal of Medicine (N Engl J Med) 2002, Vol. 347, No. 2: 81-88. Die Autoren sind J. Bruce Moseley et al.

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Eine klinische Studie mit Folgen

Gerade im Rahmen der ausufernden Diskussion um Kosten im Gesundheitswesen kommt bestimmten Kreisen die populäre Botschaft offenbar gut zu Pass, um ärztliche Leistungen als solche in Misskredit zu bringen. Doch auch als seriös recherchierend und fundiert argumentierend bekannte Journalisten und nicht zuletzt fachkundige Mediziner sitzen der verführerisch einfachen Schlussfolgerung dieser Studie auf. Das scheinbar über jeden Zweifel erhabene und jeden Widerspruch erschlagende Argument zugunsten dieser Arbeit ist ihre allenthalben zitierte Klassifikation als prospektive, randomisierte, doppelt geblindete und kontrollierte Studie. Im Bemühen, gute und aussagekräftige Studien aus der verwirrenden Vielfalt medizinischer Publikationen zu selektieren, ist ein Bewertungssystem auf Grundlage von Kriterien der Evidenz-basierten Medizin (EBM) geschaffen worden. Wem will man es also verdenken, der sich daran orientiert und eine in dieser Rangfolge höchstplatzierte Studie als valide wissenschaftliche Leistung wertet und darin publizierte Schlussfolgerungen übernimmt?

Dem Laien wohl kaum, doch den Fachleuten kann man dies durchaus verdenken. Deren gibt es immerhin einige, welche sich unkritisch mit dieser Studie auseinandergesetzt haben. Viele andere wiederum haben sich nach Erscheinen dieser Studie entrüstet gezeigt und entsprechende Stellungnahmen publiziert. Jedoch werden diese mit durchaus stichhaltigen Argumenten belegten Äußerungen in der breiten Öffentlichkeit kaum diskutiert.

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Fragwürdiges Studiendesign

Es ist offenbar wenig bekannt, dass diese Studie eines renommierten, verdienten und respektierten orthopädischen Chirurgen und seines Teams von mehreren hochrangigen internationalen orthopädischen Fachzeitschriften wegen gravierender methodischer Mängel abgelehnt worden war, ehe das nicht eben typischerweise mit dem orthopädischen Fachgebiet befasste New England Journal of Medicine das Manuskript veröffentlichte. Diverse Gutachter hatten zuvor unter anderem erkannt, dass das Studiendesign die Aufsehen erregende Schlussfolgerung, arthroskopisches Debridement sei obsolet, gar nicht zuließ.

Die Studie war konzipiert, um die Überlegenheit der Arthoskopie bei der Behandlung der Gonarthrose zu beweisen. Auf dieser Grundlage wurden zunächst die Anforderungen an das Kollektiv und die power der Studie berechnet. End-Punkte und Analyse-Werkzeuge wurden für die Fragestellung speziell definiert und entsprechend erfolgte später die Auswertung. Als sich wider Erwarten keine Unterschiede fanden, wurde die Studie jedoch schlicht umgewidmet. Anhand der unter anderen Vorzeichen gewonnenen Daten wurde post hoc versucht, ein Äquivalenz nachzuweisen. Das ist wissenschaftlich unzulässig.

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Austausch der Hypothesen im Nachhinein nicht zulässig

Es ist selbstverständlich, dass im Sinne der Unvoreingenommenheit die Nachweisgrenzen im Vorhinein und insbesondere nicht auf Basis der bereits erhobenen Daten zu berechnen sind. Es ist auch klar, dass diese Grenzen bei einer Äquivalenzstudie nicht dieselben sein können, wie bei einer Überlegenheitsstudie. Überdies benötigt eine Äquivalenzstudie auch ein weitaus größeres Kollektiv, um über ausreichende power zu verfügen. Umgekehrt ist bei gleicher Probandenanzahl die power bei einer Äquivalenzprüfung automatisch geringer, als bei einem Überlegenheitsnachweis. Schließlich entkräftet sich die Studie selbst durch den Austausch der Hypothese nach Abschluss der Datenerhebung. Somit wird nämlich aus einer prospektiven, randomisierten, doppel-geblindeten und kontrollierten klinischen Studie (EBM-Stufe 1) eine retrospektive Auswertung (EBM-Stufe 6), welche überdies den wesentlichen statistischen Anforderungen nicht genügt.

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Fragwürdige Selektion des Patientenkollektivs

Unabhängig davon ist auch die Zusammensetzung des Patientenkollektivs höchst zweifelhaft. Einschluss- und Ausschluss-Kriterien wurden nicht oder unzureichend definiert. Es wurden ausschließlich Veteranen der amerikanischen Armee, also überwiegend männliche Soldaten, einbezogen. Von einem repräsentativen Bevölkerungsschnitt kann dabei kaum die Rede sein, was auch die Autoren selbst einräumen.

Es fällt auf, dass 44% der ursprünglich für die Studie vorgesehenen Patienten nicht mehr zur Verfügung standen, nachdem ihnen mitgeteilt worden war, dass sie möglicherweise einer Placebo-Operation unterzogen würden, die voraussichtlich zu keiner Besserung ihrer Beschwerden führen würde. Man darf also mutmaßen, dass Patienten mit erheblichen Beschwerden nicht in der Studie repräsentiert waren. Weiterhin sollte bedacht werden, dass bei dem selektierten Kollektiv die Frage des Rentenbegehrens, als auch die des militärischen Gehorsams eine nicht untergeordnete Rolle spielen dürfte. Auch dies spricht nicht eben für die Objektivität der Studie, bzw. die Zuverlässigkeit subjektiver Angaben.

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Verschiedene Indikationen, Verfahren und Klassifikation der Resultate

Schließlich wurden in der Studie verschiedene Formen der arthroskopischen Operation bei unterschiedlichster klinischer Symptomatik miteinander verglichen, ohne diese zu spezifizieren oder eine Korrelation zu definieren, so dass eine Vergleichbarkeit oder gar Reproduzierbarkeit nicht gegeben ist. Es wurden kaum klinische Angaben gemacht. So bleibt unklar, ob und wie viele Patienten welche Achsverhältnisse, welchen Grad der Arthrose, Ergussneigung oder mechanische Störungen aufwiesen, oder nicht.

Wenn nicht eine Placebo-Operation durchgeführt wurde, dann wurde je nach individuellem Urteil des Chirurgen unterschiedlich vorgegangen, ohne dass eine Systematik erkennbar wäre. Es gingen also Lavage und Debridement ebenso in die Bewertung ein wie Resektion, Synovektomie und Anbohrungen. Intraoperative Befunde wurden nicht klassifiziert. Ausmaß und Tiefe des Debridement wurde ebenso wenig wie der Zustand von Knorpel, Schleimhaut und Menisken geschildert und bei der Auswertung nicht berücksichtigt. Die demzufolge vermutlich unterschiedlichen individuellen postoperativen Ergebnisse wurden dann wieder gemittelt, so dass die indikations- oder verfahrensspezifischen Unterschiede nicht erkennbar wurden. Die inadäquate Klassifikation klinischer und pathologischer Befunde und fehlende Korrelation mit den operativen Maßnahmen entkräften die Interpretationergebnisse.

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Nicht das Verfahren, sondern die Anwendung bei Gonarthose fragwürdig?

Bei der Diskussion ihrer Ergebnisse sprechen die Autoren zwar einige der Kritikpunkte an, ziehen daraus jedoch keine entsprechende Konsequenzen bei der Interpretation. Tatsächlich fordern sie sogar, dass auf der Grundlage ihrer Studie finanzielle Mittel besser anderweitig und nicht für die Arthroskopie bei Gonarthrose eingesetzt werden. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, zu bemerken, dass die Autoren selbst ihre Schlussfolgerung für die Indikation der Arthroskopie bei Gonarthrose und nicht für das Verfahren als solches ziehen, wie in den Medien häufig falsch wiedergegeben.

Der tatsächliche Wert der Arthroskopie bei Gonarthrose lässt sich auch nach Meta-Analyse der Fachliteratur nur schwer fassen. Zu uneinheitlich sind die Kollektive, zu wenig vergleichbar die Studien. Diese sind in den meisten Fällen weder kontrolliert noch randomisiert und oft nur retrospektiv. Doch soll eine niedrige Bewertung nach EBM-Kriterien dazu führen, dass diese Studien nicht länger beachtet werden? Zwar variierten die jeweiligen Patientenzahlen und Methoden stark, doch wurde von verschiedenen Autoren über deutliche Verbesserung der Symptome der Gonarthrose im frühen Stadium sowohl durch Lavage als auch durch Debridement berichtet.

In einer Placebo-kontrollierten und randomisierten Multicenterstudie konnte Ravaud (1999) einen eindrucksvollen Effekt der arthroskopischen Lavage auf den Knieschmerz nachweisen. Zu gleichem Ergebnis kam Kalunian (2000) im Rahmen einer sehr ähnlich angelegten Studie mit entsprechend hohem EBM-Niveau. Ein Erguss im Kniegelenk deutet auf Abrieb-Partikel, freie Gelenkkörper oder mechanische Probleme hin, welche arthroskopisch beseitigt werden können. Als häufige Ursache für eine schmerzvolle Synovialitis werden Calciumphosphat-Kristalle und deren Entfernung mittels Lavage darum als indiziert angesehen. Im Falle schwerer entzündlicher Hypertrophie gilt die Synovektomie als sinnvoll. Hsieh (2004) konnte nachweisen, dass die Matrix-Metalloproteinasen MMP2 und MMP9 in Kulturen arthrotischer Läsionen deutlich erhöht sind, was eine enzymatische Andauung als Ursache für das Fortschreiten der Erkrankung nahelegt und den positiven Effekt der Lavage erklärt. Hingegen konnte Brenner (2004) eine Proportionalität zwischen dem Titer von Enzündungsmarkern oder Enzymen und dem Grad der Arthrose nicht nachgewiesen werden.

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Debridement häufig sinnvoll

Wai (2002) berichtete, dass nach Arthroskopie im frühen, aber symptomatischen Stadium, ein Kniegelenkersatz nach einem Jahr nur in 10% der Fälle, nach drei Jahren nur in 18% der Fälle notwendig war. Bei Bernard (2004) waren es 18% nach fünf Jahren und in der Altersgruppe unter 60 Jahre sogar nur 11% nach diesem Zeitraum. Das so genannte Debridement wird von den meisten Autoren bei primär mechanischen Problemen für sinnvoll erachtet, wobei die genauen chirurgischen Maßnahmen, die jeweiligen Strukturen und die speziellen Indikationen nicht ohne weiteres zu vereinheitlichen sind. Fond (2002) berichtete in diesem Zusammenhang über deutliche Schmerzreduktion und verbesserte Gelenkfunktion nach Entfernung von Osteophyten. Harwin (1999) hatte bereits auf die Bedeutung pathologischer Veränderungen des Meniskus und den Wert arthroskopischer Abtragung zur Beseitigung mechanischer Hindernisse hingewiesen. Die reine Knorpelglättung wird kontrovers diskutiert. Es bleibt weiterhin unklar, ob die beobachteten positiven Effekte allein durch die Lavage erklärt sind, oder aber tatsächlich durch einen Placebo-Effekt.

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Einheitliche Arthrosestadieneinteilung nicht möglich

Das Studium der Literatur wirft weitere Fragen auf. In erster Linie erscheint eine einheitliche Stadieneinteilung unmöglich. Fife (1991) konnte keine Relation feststellen zwischen der radiologischen Gelenkspaltverschmälerung und dem arthroskopisch inspizierten Zustand des Knorpels. Brismar (2002) wies gar eine unzureichende Intra- und Interobserver-Verlässlichkeit bei der arthroskopischen Beurteilung und Stadieneinteilung der frühen Gonarthrose nach.

In der MRT können pathologisch veränderter von gesundem Knorpel mit einer Spezifität von 90% unterschieden und frühe gonarthrotische Zeichen nachgewiesen werden. Andererseits wurde von Blackburn (1996) vor Unterschätzung des Ausmaßes von Knorpelveränderungen in der MRT gewarnt und im Zweifel zur invasiven, aber sensitiveren arthroskopischen Befunderhebung geraten. Neuere rechnergestützte Technologie ermöglicht mittlerweile verbesserte Beurteilung und Quantifizierung von Knorpelschäden im MRT mit guten Ergebnissen hinsichtlich der Korrelation mit intraoperativen Befunden.

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Vorteile der Arthroskopie

Im Hinblick auf die Behandlungskosten bietet die Arthroskopie durchaus Vorteile. Sie ist in der Regel weniger kostenintensiv, als die einjährige konservative Behandlung einer Gonarthrose mittels Physiotherapie und Medikamenten. Im Falle einer erfolgreichen Arthroskopie können gebesserte Beschwerden und gesteigerte Funktion mit entsprechend geringen Behandlungskosten einer Multiplikation der Kosten und der Leiden des über mehrere Jahre konservativ geführten Patienten gegenüberstehen. Solange die jeweiligen Indikationen sauber voneinander getrennt werden, erübrigt sich zumindest bei der frühen Gonarthrose der Vergleich mit den Kosten für einen Gelenkersatz, welcher mittel- oder langfristig in jedem Fall notwendig werden kann.

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Komplikationen durch Arthroskopie

Zu berücksichtigen sind mögliche Komplikationen der Arthroskopie. Hämarthros, Infektion, septische Arthritis und Osteomyelitis beinträchtigen direkt die Überlebensdauer des Gelenks. Fälle letaler Sepsis sind beschrieben. Thrombose, Nerven- und Gefäßverletzung, Kompartment-Syndrom und Reflex-Algodystrophie sind ebenfalls möglich. Allerdings muss heute nur mit einer mittleren Infektionsrate von ca. 0,1 % und einer allgemeinen Komplikationsrate von 1,68 % gerechnet werden.

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Schmerz allein ist keine Indikation

Bei der Indikationsstellung müssen individuelle Lebensumstände, Aktivitätsniveau, Erwartungshaltung und Compliance des Patienten ebenso berücksichtigt werden, wie seine Größe und sein Gewicht. Gravierende Achsfehlstellungen wie auch multikompartimentelle Beteiligung stellen relative Kontraindikationen dar, da in den meisten Studien signifikant schlechtere Ergebnisse verzeichnet sind. Höhergradige Bewegungseinschränkung und insbesondere eine Flexionskontraktur gelten als Kontraindikationen. Im Einzelfall kann eine Extensionssperre durch arthroskopische Abtragung eines anteromedialen Osteophyten der Tibia beseitigt werden. Bei Patienten über 60 Jahre und nach einer Vor-Operation hat sich die Arthroskopie zur Behandlung der Gonarthrose nicht bewährt. Wegen der ohnehin schlechten Prognose für das Gelenk ist in diesen Fällen eine Arthroskopie zu rein diagnostischen Zwecken obsolet. Eine solche kommt überhaupt nur dann infrage, wenn anders kein Aufschluss über die Beschaffenheit des Gelenkes zu erhalten ist. Schmerz allein indiziert keine Operation.

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Arthroskopie probates Mittel bei der frühen Gonarthrose

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass, anders als in der eingangs diskutierten Studie, eine unspezifische, nicht zielgerichtete arthroskopische Operation bei unbekannter Pathologie nicht erfolgen darf. Die Indikation ist umso kritischer zu stellen, wenn radiologische Zeichen einer Pangonarthrose bestehen und setzt eine präzise, individuelle Befunderhebung voraus. Bestimmte mechanische Hindernisse, freie Gelenkkörper, Meniskusdeformitäten, lokalisierte osteochondrale Läsionen oder auch der massenhafte Nachweis von Calciumphosphat-Kristallen rechtfertigen den Versuch der arthroskopischen Behandlung. Eine Exazerbation der Erkrankung ist dadurch möglicherweise aufzuhalten und eine Beschwerdereduktion zumindest für einen längeren Zeitraum realistischerweise zu erwarten. Dies vorausgesetzt, kann die Arthroskopie auch im Sinne der Kosteneffizienz weiterhin als probates Mittel bei der problemorientierten Behandlung der frühen Gonarthrose gelten.

Literatur beim Verfasser

 
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Dr. Jörg A.K. Ohnsorge