Psychiatr Prax 2006; 33(8): 364-366
DOI: 10.1055/s-2006-940115
Debatte
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Pro und Kontra: Einheitliche Leitung von ärztlichem und Pflegepersonal

For and Against: Integrated Directorate of Medical and Nursing Staff
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Publication Date:
27 November 2006 (online)

Table of Contents #

Pro

Arno Deister

Brauchen wir wirklich eine Debatte zu diesem Thema - und brauchen wir sie ausgerechnet jetzt? Auf beide Fragen eine klare Antwort: Ja, wir brauchen diese Diskussion jetzt. Um es aber gleich vorweg ganz deutlich zu machen: Bei dieser Diskussion kann es nicht darum gehen, die jeweilige fachliche Kompetenz zu ersetzen oder aufzuweichen. Einheitliche Leitung meint hier die einheitliche ökonomische und organisatorische Verantwortung für den therapeutischen Bereich und den Bereich der psychiatrisch-psychotherapeutischen Pflege - so wie sie heute noch definiert sind.

Die sog. „Integrierte Versorgung” ist in den letzten Jahren zu einer regelrechten Zauberformel der Gesundheitspolitik geworden - und dieses Thema wird uns sicherlich die nächsten Jahren begleiten. Man mag das begrüßen oder nicht - diese Diskussion hat auch direkte Auswirkungen auf die organisatorischen Strukturen in der Psychiatrie und Psychotherapie. Es wird in der aktuellen gesundheitspolitischen Diskussion regelmäßig übersehen, dass in der Psychiatrie und Psychotherapie schon seit vielen Jahren sehr umfassende Ansätze einer Integrativen Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen umgesetzt werden. „Integrativ” bedeutet dabei sehr viel mehr als „integriert”. Integrative Therapie hat nämlich den jeweiligen Menschen mit seinen Bedürfnissen, seinem Unterstützungsbedarf und seinen gesunden Ressourcen im Blickfeld - und nicht nur die Überwindung der bestehenden zersplitterten Versorgungsstrukturen.

Integrative Versorgung hat zu den teilweise dramatischen Veränderungen der letzten 20 Jahre in der Psychiatrie und Psychotherapie maßgeblich mit beigetragen. Die durchschnittlichen Verweildauern in der stationären Behandlung haben sich massiv reduziert, das Indikationsspektrum hat sich verschoben von Menschen mit psychotischen Erkrankungen hin zu immer mehr Menschen mit schweren Formen der Persönlichkeitsstörung und affektiven Erkrankungen. Insgesamt sind gerade in den psychiatrischen Krankenhäusern rehabilitative Ansätze heute sehr viel stärker ausgeprägt als noch vor 10 Jahren. Natürlich brauchen auch heute noch viele Menschen mit psychischen Erkrankungen eine längerfristige stationäre Behandlung, aber diese wird verstärkt begleitet von teilstationären und ambulanten Therapiemöglichkeiten.

Viele Kliniken haben sich diesen Veränderungen aktiv angepasst. Sie haben die organisatorischen Strukturen verändert und Teamstrukturen geschaffen, die den integrativen Versorgungsbedarf besser abbilden können. Ärztliche und psychologische Kompetenzen sind in ihrer klinischen Tätigkeit stärker verzahnt als es früher denkbar erschien. Gleiches gilt für die Tätigkeit von Sozialpädagogen, Ergotherapeuten, Musik- und Tanztherapeuten und für weitere therapeutisch tätige Berufsgruppen. Diese Entwicklung geschieht ungeachtet der oft unterschiedlichen Sichtweise auf Menschen mit psychischen Erkrankungen - oder vielleicht auch gerade deshalb. Gemeinsame Leitungsstrukturen für den therapeutischen Bereich im engeren Sinne sind längst etabliert.

Es wird Zeit, gemeinsame Leitungsstrukturen auch für den therapeutischen und den pflegerischen Bereich zu diskutieren. Dabei geht es nicht um eine „Entmachtung” der Pflege und es geht auch nicht um eine Reduzierung der Bedeutung von Ärzten im therapeutischen Prozess. Ganz im Gegenteil - es geht um eine verbesserte Nutzung der Kompetenzen aus beiden Bereichen. Eine solche verbesserte Nutzung kommt aber bei geteilten Leitungsstrukturen schnell an ihre Grenzen.

Im klinischen Alltag haben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Pflege längst eine zentrale Stellung im multiprofessionellen Behandlungsteam. In der Sicht der Patienten sowieso - aber nicht nur dort. Der Therapiebegriff ist im Übrigen längst nicht mehr so eindeutig. Die Grenzen zwischen Therapie im engeren Sinne und Pflege sind fließender denn je. Mehr als die Hälfte der personellen Ressourcen werden in der Regel im pflegerischen Bereich eingesetzt. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Pflege bedingen in ihrer Tätigkeit einen großen Anteil an Ressourceneinsatz auch bei den sog. medizinischen Sachmitteln. Die ökonomische Verantwortung bekommt heute ein immer stärkeres Gewicht in der Steuerung und Organisation von therapeutischen Prozessen. Es kann also nur im Sinne unserer Patientinnen und Patienten sein, wenn ökonomische Verantwortung wieder in die Hände derjenigen kommt, die die therapeutische Verantwortung tragen und die in direktem Kontakt zu den Patienten stehen. Ökonomische Verantwortung heißt dabei nicht primär die Übernahme von administrativer Verantwortung im Sinne von „Verwaltungstätigkeit”. Ökonomische Verantwortung heißt verantwortlich zu sein für Ressourceneinsatz und für Ressourcensteuerung im therapeutischen Bereich. So - und nur so - können die nicht erst seit heute knappen personellen Ressourcen im Sinne einer integrativen Versorgung sinnvoll eingesetzt werden.

Geht das mit getrennten Leitungs- und Verantwortungsstrukturen? Vielleicht ja. Viele Kliniken beweisen es ja. Meines Erachtens ginge es mit einer einheitlichen Leitungsstruktur aber deutlich besser. Es funktioniert heute, wenn es in allen Berufsgruppen eine allgemein akzeptierte und gelebte therapeutische Atmosphäre gibt. Es funktioniert heute, wenn alle in die gleiche Richtung wollen. Aber es wird auch heute schon schwierig, wenn einschneidende und manchmal auch schmerzhafte Entscheidungen zu treffen sind. Solche Entscheidungen betreffen nämlich in erster Linie alle Bereiche einer Klinik, unabhängig von der jeweiligen Berufsgruppe. Gemeinsame Leitungsstrukturen lösen dabei nicht unsere zahlreichen Probleme. Aber eine gemeinsame Leitungsstruktur kann ein hilfreiches Instrument bei der Steuerung und Organisation sein.

Eine einheitliche Leitungsstruktur ist auch Voraussetzung für ein gemeinsames internes Budget, das alle Kosten einer Klinik - also Personalkosten sowohl im therapeutischen als auch im pflegerischen Bereich sowie alle Sachkosten - umfasst. Nur so können Einsparungen, die in einem Bereich zu verwirklichen sind, auch in den anderen Bereichen genutzt werden. Nur so kann verhindert werden, dass nicht genutzte Budgetmittel aus der Psychiatrie abgezogen werden.

Es ist mir durchaus bewusst: Die Etablierung gemeinsamer Leitungsstrukturen kann auch Sorgen hervorrufen, vielleicht sogar Angst machen. Davon sind in erster Linie sicherlich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Pflegebereich betroffen. Deshalb muss eine gemeinsame Leitungsstruktur gekoppelt werden an kompetente inhaltliche Führungsverantwortung. Diese muss selbstverständlich in den jeweiligen Bereichen weiterhin eigenständig bleiben, um die hohe professionelle Kompetenz nicht zu gefährden.

Gemeinsame Leitungsstrukturen könnten ein Signal sein, das von der Psychiatrie und Psychotherapie ausgeht: Wir meinen es ernst mit einer integrativen Versorgung und wir wollen unsere organisatorischen Strukturen anpassen an die veränderten Bedürfnisse von Menschen mit psychischen Erkrankungen. Im Bereich der Psychiatrie und Psychotherapie könnte es funktionieren - wenn nicht hier, wo sonst?

Prof. Dr. med. Arno Deister
Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatische Medizin des Klinikums Itzehoe
Robert-Koch-Straße 2
25524 Itzehoe
E-mail: a.deister@kh-itzehoe.de

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Kontra

Hilde Schädle-Deininger

Die Diskussion um eine einheitliche Leitung von ärztlichem und pflegerischem Dienst scheint zunächst erst einmal neutral zu sein. Die Argumente leuchten ein, Integrierte Versorgung, die veränderte Klientel und ein gut ausgebautes Versorgungsnetz brauchen andere Strukturen, auch in der Leitung, zumal Synergieeffekte, fachliches Know-how und Einsparungen noch mehr gekoppelt und genutzt werden sollen. Dass insgesamt auch die Verwaltungskosten reduziert werden sollen, ist seit langem in der Diskussion. Deshalb ist es verwunderlich, dass Wirtschaftlichkeit und Ökonomie nur in Euro und Cent gesehen und weniger in den Diskussionen um volkswirtschaftliche Dimensionen erweitert wird. Der Verwaltungsapparat wird in den Einrichtungen des Gesundheitswesens immer umfangreicher und auch im Treffen von Entscheidungen mächtiger, fachlich-inhaltliche Aspekte spielen zunehmend eine zweitrangige Rolle in der Versorgung von kranken Menschen und von Randgruppen.

Dass eine integrierte und kontinuierliche Versorgung zu gewährleisten ist, bestreitet hoffentlich keiner mehr. Ob allerdings der Dreh- und Angelpunkt das psychiatrische Krankenhaus dabei sein sollte, muss kritisch diskutiert und hinterfragt werden. Dass sich das Angebot der Kliniken in den komplementären und ambulanten Bereich immer mehr ausweitet, hat sicher nicht nur am psychisch kranken Menschen orientierte Motive, sondern auch finanzielle und absichernde. Die Gewährleistung von Kontinuität in der Betreuung von psychisch kranken Menschen erfordert eine Abstimmung der Versorgungsleistung und Handlungsziele im Sinne von ambulant vor stationär.

Eine kooperative Versorgungsgestaltung scheitert vielerorts nicht selten an der Hierarchie und dem Statusgefälle der Professionen. Wenn eine einheitliche Leitung und integrierte kooperative Versorgung gestaltet werden soll, müssen hierarchische Muster der Zusammenarbeit zugunsten aufgabenförmiger Modelle der Verantwortungs- und Arbeitsteilung aufgegeben werden. Das bedeutet bisherige Machtstrukturen und eingefahrene Wege müssen im Versorgungsgeflecht verlassen werden sowie herkömmliche Professionsgrenzen verschoben und abgebaut werden. In diesem Zusammenhang wäre auch der Frage nachzugehen, inwieweit sich in den alltäglichen Absprachen, in der Teamarbeit vor Ort zeigt, dass in der Praxis die Berufsgruppen oft keinesfalls gleichberechtigt zusammenarbeiten, z. B. um exakte Behandlungspläne zu erstellen, ernst zu nehmen und effizient umzusetzen. Es bestehen berechtigte Zweifel, dass sich dies auch durch eine gemeinsame Leitung nicht erledigt. Die in letzter Zeit häufiger dargestellte und diskutierte Forderung nach einer zentralen Therapiesteuerung heißt aus meiner Sicht in erster Linie veränderte Arbeitsweisen wie beispielsweise die Erfassung der unterschiedlichen Leistungen in Zeitrastern, mehr stations- und institutionsübergreifende (Therapie-)Angebote und keinesfalls zuvorderst eine zentrale einheitliche - angedacht wohl in der Regel - ärztliche Leitung.

Bei aller Beteuerung, wie wichtig pflegerische Fachlichkeit sei und dass es nicht um Entmachtung gehen könne, stellt sich die Frage, warum diese Diskussion gerade jetzt so dringlich und vehement geführt wird, wo es um Verteilungskämpfe von Personalstellen in den einzelnen Berufsgruppen geht, wenn auf allen Ebenen gespart werden muss. Kann ein Grund dafür sein, dass durch die Akademisierung der Pflege sowie durch die Etablierung von Pflegewissenschaft und -forschung die Pflegenden bildungspolitisch gesehen zu mächtig zu werden drohen und dann gleichrangiger in den Bildungsabschlüssen sind? In der Pflegepraxis sind akademisch ausgebildete Pflegekräfte, die als Pflegeexperten arbeiten, in der Regel nicht sehr willkommen. Die Tendenz geht eher dahin, dass die Rahmenbedingungen in der Ausübung des Pflegeberufes schlechter und schwieriger werden [1].

Ein Blick in internationale Erfahrungen und Pflegeforschung zeigt, dass der Pflege in der integrierten Versorgung ein zentraler Anteil zukommt und über zahlreiche integrative Potenziale verfügt, die in der bundesdeutschen Diskussion weniger gesehen werden. Dazu gehört beispielsweise, dass Pflege chronisch erkrankten Menschen im Auf und Ab ihrer Krankheit, auf dem Weg durch die Versorgungslandschaft begleiten, Einblick in den Alltag des Betroffenen, in Veränderungen des Versorgungsbedarfes und des Krankheitsverlaufes haben. „International gilt sie [die Pflege] daher als die geeignete Instanz unter den Gesundheitsprofessionen, um versorgungssteuernde Funktionen wahrzunehmen - eine Erkenntnis, die in vielen Ländern ihren Niederschlag darin gefunden hat, dass der Pflege (und nicht der Medizin) zentrale Integrations-, Steuerungs- und Koordinationsfunktionen zugeschrieben wurden - sei es im Rahmen von generellen Integrationsbemühungen, bei der Entwicklung und Implementierung multidisziplinärer klinischer Pathways, der Umsetzung von Disease- oder auch Care- und Casemanagementprogrammen” ([2] zitiert nach [3], S. 205).

Ein zweiter Aspekt, der in diesem Zusammenhang dringend beleuchtet werden muss ist, wie Führungsstrukturen und Entscheidungen dann zu sehen sind. Bei aller kollegialen Führung wird im Zweifelsfall oder bei Uneinigkeit doch die Entscheidung in „letzter Instanz” getroffen werden müssen. Derzeit werden Medizin und Pflege von Geschäftsführern verwaltet und budgetiert. Ob sich daran etwas durch eine einheitliche Leitung ändert, ist eher zu verneinen.

„[…] die Bedeutung der professionellen Pflege für die Sicherstellung einer integrierten und kontinuierlichen Versorgung sowie ihre Potenziale zur Übernahme zentraler Steuerungs- und Versorgungsfunktionen werden in der integrierten Versorgung nach deutschem Muster unterbewertet. Als ,caring profession‘ ist die Pflege im Interesse der Patienten herausgefordert, diese Engführung zu überwinden und in der aktuellen Diskussion über integrierte Versorgung eine aktive Rolle zu übernehmen. […]” ([3], S. 197).

Weitere Aspekte wären:

  • Welche Qualifikationen für eine Leistungsposition werden gebraucht, wie wurden sie bisher erworben und was muss sich künftig daran verändern?

  • Welche Prioritäten werden gesetzt, beispielsweise was Stellenbesetzung, Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen oder Stellenkürzungen betrifft?

  • Wie werden die Mehrkosten durch die bereits abgeschlossenen oder noch abzuschließenden Tarifverträge im Ärztestreik eingespart? (Bisher werden nicht Stellenkürzungen im therapeutischen sondern im pflegerischen Bereich diskutiert.)

Solidarisches Handeln ist angesagt, wenn es in diesen schwierigen Zeiten um kreative Lösungen gehen soll und nicht nur um Macht und wer das Sagen hat.

Hilde Schädle-Deininger
Aus-, Fort- und Weiterbildung Haus 57
der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main
Theodor-Stern-Kai 7
60590 Frankfurt am Main
E-mail: Hilde.Schaedle@kgu.de

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Literatur

  • 1 Höhmann U, Müller-Mundt G, Schulz B. Qualität durch Kooperation - Gesundheitsbedürfnisse in der Vernetzung. Frankfurt am Main; Mabuse 1998
  • 2 Zander K. Integrated care pathways eleven internationals trends.  Journal of Integrated Care Pathways. 2002;  6 101-107
  • 3 Schaeffer D, Ewers M. Integrierte Versorgung nach deutschem Muster.  Pflege & Gesellschaft. 2006;  11 197-209
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Literatur

  • 1 Höhmann U, Müller-Mundt G, Schulz B. Qualität durch Kooperation - Gesundheitsbedürfnisse in der Vernetzung. Frankfurt am Main; Mabuse 1998
  • 2 Zander K. Integrated care pathways eleven internationals trends.  Journal of Integrated Care Pathways. 2002;  6 101-107
  • 3 Schaeffer D, Ewers M. Integrierte Versorgung nach deutschem Muster.  Pflege & Gesellschaft. 2006;  11 197-209