physioscience 2006; 02(3): 128-129
DOI: 10.1055/s-2006-926939
Veranstaltungsbericht

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National Congress der Australian Physiotherapy Association (APA) vom 26. - 27. Mai 2006 in Melbourne - Physiotherapy at the Front Line

B. van der Heide
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Publication Date:
23 August 2006 (online)

Vom 26. - 27. Mai 2006 fand in Melbourne der National Congress der Australian Physiotherapy Association (APA) mit dem Thema Physiotherapy at the Front Line statt, an dem ca. 530 Besucher teilnahmen.

Da der Schwerpunkt des Kongresses diesmal nicht auf klinischen Themen lag, kann nicht von neuesten Erkenntnissen oder wissenschaftlichen Studien aus Australien berichtet werden. Vielmehr standen professionelle Inhalte zur Debatte, wie der derzeitige Stand der Physiotherapie in Australien, die Krise des Gesundheitswesens und was die Zukunft bringt. Zudem war der Kongress Anlass, das 100-jährige Bestehen der APA zu feiern.

Die APA wurde 1906 als „Verband für Massagetherapie” gegründet. Zurzeit sind ca. 13.000 Physiotherapeuten in Australien registriert, von denen ca. 10.000 Mitglied im Berufsverband sind. Der Verband ist sehr proaktiv und setzt sich für seine Mitglieder ein. Wie die derzeitige Präsidentin des WCPT, Sandra Mercer-Moore, berichtete, war Australien das 1. Land, das den Status des First contact practitioner (d. h. Patienten können ohne Arztüberweisung einen Physiotherapeuten aufsuchen) im Rahmen des WCPT einführte. Seit dessen Gründung hatten 3 Australier das Präsidentenamt inne.

Der 1. Teil des Kongresses befasste sich mit der Frage Wie wird das Gesundheitssystem in 10 Jahren aussehen? Zur Beantwortung wurde zunächst einmal die derzeitige Situation dargestellt. Das derzeitige Gesundheitswesen befindet sich in einer Krise und erfüllt nicht die Bedürfnisse der australischen Bevölkerung. Außerdem besitzt die Regierung keine adäquaten Pläne zur Lösung der Work force (Arbeitskräftepotenzial). In einer Umfrage gaben 60 % der Befragten an, die Änderung des Gesundheitswesens sei die wichtigste politische Agenda, und 75 % sähen es lieber, wenn gesparte Regierungsgelder (Überschuss in 2006: 8 Billionen Dollar) anstatt in Form von Steuererleichterungen für das Gesundheitswesen ausgegeben würden.

Vor allem im Outback besteht ein Mangel an Ärzten, Pflegepersonal, Physiotherapeuten und anderen Berufen im Bereich der Allied health. In öffentlichen Krankenhäusern sind die Notaufnahmen überfüllt, es fehlen Betten und die Wartelisten für nicht gerade lebensgefährliche Operationen sind immens (z. B. 3 Jahre Wartezeit für ein neues Hüftgelenk), und sogar Hausärzte haben Wartezeiten.

Im Falle von Physiotherapie beträgt die Wartezeit in öffentlichen Kliniken ca. 2 - 3 Monate. Privatbehandlungen werden vom Staat jedoch nicht bezahlt, sodass die Patienten in die eigene Tasche greifen müssen. Manche besitzen zwar eine private Versicherung, die aber nur einen Teil der Kosten abdeckt. Für die physiotherapeutische Behandlung von Verletzungen aufgrund eines Berufs- oder Autounfalls kommen entsprechende Versicherungen auf.

Diese Tatsachen verdeutlichen, dass das System sehr unfair ist, da nicht jeder Zugang zu entsprechenden Leistungen erhält (ganz abgesehen davon, dass es in Rural and remote areas bzw. im Outback unter Umständen gar keine Physiotherapeuten oder Ärzte gibt). Im Jahr 2004 hat die Regierung nach unendlichem Lobbyismus der APA und anderen Berufsverbänden die neue Regelung erlassen, dass Patienten mit chronischen und komplexen Syndromen unter Umständen 5 Behandlungen pro Jahr im Bereich Allied health bezahlt werden -, das ist ein Tropfen auf den heißen Stein!

Der schlechte Zustand des Gesundheitswesens beruht teilweise auf Unstimmigkeiten zwischen den einzelnen Staaten und der Regierung bezüglich der Zuständigkeiten. Da private Krankenhäuser nicht mit öffentlichen Häusern kooperieren, verdoppeln sich manche Dienste, was den Staat ca. 2 - 4 Billionen Dollar pro Jahr kostet.

Der Trend geht dahin, dass Patienten statt im Krankenhaus besser in ihrer Gemeinde/zu Hause betreut werden. Die Australian Division of General Practice (Abteilung der allgemeinmedizinischen Hausärzte) schlägt vor, die einzelnen Abteilungen (in Australien ca. 120) zu einer Transformation in eine Division of Primary Health Care zu bewegen. Für eine Betreuung der Patienten in einem multidisziplinären Team sollen Ärzte, Apotheker, Pflegepersonal und Allied-health-Personal Primary health care partnerships bilden.

Um die Wartezeiten bei Orthopäden zu reduzieren, führte ein Krankenhaus ein neues Projekt durch. Ähnlich dem englischen Prinzip des Extended scope practitioner wurde ein Physiotherapeut eingesetzt, der die Patienten auf der Warteliste untersuchte und entschied, ob sie für eine Operation oder besser für andere Behandlungen infrage kommen. Die bisherigen Ergebnisse klingen sehr viel versprechend, da sich die Wartelisten erheblich verringerten und alle Teilnehmer (Patienten, Therapeuten, Orthopäden) sehr zufrieden sind.

In ähnlicher Weise werden Physiotherapeuten zunehmend in der Notfallaufnahme eingesetzt, um überfüllte Krankenhäuser zu vermeiden. Es ist anzunehmen, dass in der Zukunft wesentlich mehr derartige Stellen eingerichtet werden.

Die APA setzt sich weiter dafür ein, dass die Regierung für mehr Physiotherapiebehandlungen aufkommen soll (Es gibt z. B. starke wissenschaftliche Evidenz, dass die physiotherapeutische Behandlung der Inkontinenz erfolgreich und weniger kostenaufwändig als entsprechende Operationen ist). Des Weiteren fordert APA, Physiotherapeuten im privaten Sektor die Erlaubnis zu erteilen, Patienten direkt zu Spezialisten (z. B. Orthopäden) überweisen zu dürfen (bisher können dies nur Hausärzte), um somit die Kosten für den Hausarztbesuch einzusparen.

Ein weiterer Punkt: Patienten bekommen die vollen Kosten für Röntgenaufnahmen eines peripheren Gelenks nur dann von der staatlichen Krankenkasse ersetzt, wenn die Überweisung durch Ärzte und nicht durch Physiotherapeuten erfolgte. Dagegen wird die Überweisung von Physiotherapeuten für Röntgenbilder der Wirbelsäule voll erstattet. Die Kostenerstattung für das Röntgen peripherer Gelenke im Falle der Überweisung seitens der Physiotherapeuten würde im Jahr 1 Million Dollar plus das Gehalt für 2 vollzeitbeschäftigte Hausärzte einsparen.

Ein weiteres Thema des Kongresses betraf die Physiotherapieausbildung. Zurzeit gibt es in Australien 13 (+ 3) Universitäten, die 18 verschiedene Physiotherapieprogramme anbieten. Zwar werden immer mehr Therapeuten ausgebildet (2003: 836; 2007: ca. 1.290), das Problem ist jedoch, dass ein Mangel an Clinical placements herrscht. Es gibt nicht genügend Krankenhäuser, an denen Studenten Praktika in Patientenbetreuung absolvieren können. Möglicherweise muss das Training auf den privaten Sektor übertragen und/oder so genannte Skills centres als Trainingszentren eingesetzt werden. In Queensland existiert bereits ein Zentrum, an dem Intensivstation-Physiotherapie auf simulierten Intensivstationen gelehrt wird.

Ein anderes Dilemma besteht darin, dass die Anzahl von Physiotherapeuten zunimmt, die weitere Studiengänge belegen (Masters, PhD; in Australien: ca. 80 - 95 Physiotherapeuten mit PhD, über 100 Studenten sind eingeschrieben). Für die besser qualifizierten Absolventen gibt es jedoch nicht genügend entsprechend honorierte Arbeitsplätze.

Einige Vorträge und Studien legten dar, dass viele Therapeuten mit ihrem Job unzufrieden sind und sogar aus der Physiotherapie aussteigen, z. B. wegen großem Stress aufgrund von Personalmangel, fehlenden Karriereaussichten, mangelnder Unterstützung und Anerkennung durch Manager, zu geringem Einkommen. Dabei fielen einige Parallelen zu den deutschen Kollegen auf [1].

Am Ende des Kongresses fand eine große Paneldiskussion statt The big debate: how much should evidence dictate practice? Die von einer bekannten Journalistin des ABC moderierte Debatte war sehr unterhaltsam. Die übereinstimmende Meinung war, dass Evidence-based practice zwar wichtig und als Guideline anzusehen ist, aber nicht die tägliche Arbeit der Therapeuten diktieren sollte.

In Australien hat Physiotherapie zwar einen höheren Stellenwert als in Deutschland und ist auf wissenschaftlichem Gebiet wohl der Vorläufer, dennoch stehen die Physiotherapeuten beider Länder vor der gleichen Problematik: der Kampf mit den Politikern um mehr Verständnis und Akzeptanz für den Berufsstand.

Literatur

Brigitte van der Heide, PT, Grad. Dip. Manip. Ther., Msc

Unit 3, School of Physiotherapy

15, Parry Street

Fremantle, Western Australia 6160

Email: bvdh@freophysio.com.au