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DOI: 10.1055/s-2005-866970
Pro und Kontra: Gemeindepsychiatrie in der Krise?
For and Against: A Crisis of Community Psychiatry?Publication History
Publication Date:
10 August 2005 (online)
Pro
Bernd Eikelmann, Dirk Richter, Thomas Reker
Gemeindenahe Psychiatrie und Sozialpsychiatrie fokussieren das Phänomen chronisch psychischer Krankheiten und Kranker. Theoretisch ist die Entschlüsselung des Rätsels kaum gelungen, denkt man etwa an die kaum verstandene Negativsymptomatik der Schizophrenie. Die Praktiker waren jedoch in den letzten 30 Jahren sehr wohl erfolgreich und haben ausgesprochen viel erreicht. Zehntausende Plätze im betreuten Wohnen, eine Vielzahl von Selbsthilfe-, Zuverdienst- und Integrationsfirmen, Abteilungen für psychisch Kranke in den Werkstätten für Behinderte, sozialpsychiatrische Dienste, Integrationsfachdienste, Psychiatriereferenten und Gremien, Freizeitclubs, gemeindepsychiatrische Verbünde und vieles andere mehr belegen dies. Es gelang der Übergang von der anstaltszentrierten Versorgung chronisch Kranker zu einer dezentralen Form der Betreuung, die in ihren vielen Facetten vor allem einer Zutat bedarf: der vertraglichen Verpflichtung zur Kooperation und Koordination wie in den gemeindepsychiatrischen Verbünden vorgesehen.
Es gibt begründeten Anlass anzunehmen, dass die Zahl der institutionalisierten Personen durch die Deinstitutionalisierung nicht geringer geworden ist [1]. Es hat eine „große” Migration aus der intensivsten, restriktivsten und teuersten Form der Betreuung, der Langzeitunterbringung im Krankenhaus, in minder aufwändige und restriktive Formen der Betreuung, also Heime, Wohnverbünde, Wohngruppen und Einzelwohnen stattgefunden. So erfolgreich und unverzichtbar gemeindenahe Psychiatrie ist, werden gleichwohl Misserfolge und bedeutende Nachteile sichtbar. Was früher in Konstrukten wie Armut aufging, findet sich heute modern gefasst in sozialer Exklusion wieder. So stehen Erwachsene mit psychischen Störungen (in Großbritannien) nur zu 24 % in Arbeit. Sie tragen doppelt bis dreifach höhere Risiken für Jobverlust, erhebliche Verschuldung, Scheidung, Mietrückstände oder Wohnungsverlust [2]. Vier von zehn Patienten, die in Kontakt mit gemeindepsychiatrischen Institutionen stehen, haben demnach ausschließlich Kontakt zu anderen Patienten und Betreuern, ein Viertel enthält sich fast jeglicher Aktivität in der Gemeinde, und über 80 % der Betroffenen fühlen sich gleichzeitig isoliert, wobei die Situation junger Menschen aus ethnischen Minderheiten besonders negativ ausfällt. Der Zugang zu Wohnungen, zum Sozial- und Rechtssystem gilt als weitgehend verschlossen. Vor allem durch Stigmatisierung und Diskriminierung zähle diese Gruppe zu den am meisten ausgeschlossenen Gruppen in der Gesellschaft. Die jährlichen Kosten für Betreuung, ökonomische Einbußen und vorzeitigen Tod werden auf über 100 Milliarden Euro geschätzt [3]. Aus Sicht der Betroffenen liegen die Defizite ebenfalls klar auf der Hand: es fehle an geeigneter Arbeit, sozialen Kontakten und intimen Beziehungen [4] [5]. Die Gemeindepsychiatrie hat die anfangs in sie gesetzten Hoffnungen nicht erfüllt. Die dort Betreuten bleiben abhängig von Einrichtungen und Therapeuten, sie kommunizieren und verkehren unter ihresgleichen und schaffen es selten oder nie, sich in „normale” Biografien einzufügen. Das Leben bleibt blass, die Lebensqualität wird eingeschränkt nicht zuletzt durch finanzielle Restriktionen, innere und äußere Distanz zu der „Gemeinschaft der Gesunden”.
Ist dieser Ansatz an seine Grenzen gestoßen? Was kann folgen? Ein Blick auf die gesamte Kulisse der Versorgung ist hier erforderlich. Psychiatrische Versorgungskliniken, Tageskliniken, Institutsambulanzen und die oben genannten vielfältigen Dienste sind im Schwerpunkt mit chronisch Kranken befasst. Einer Regel des italienischen Ökonomen W. Pareto folgend erhält somit eine kleine Gruppe besonders betreuungsintensiver Patienten einen Großteil der Ressourcen. Die Kosten werden teils von den Krankenversicherungen, vielfach aber von der Sozialhilfe und den Betroffenen bzw. ihren Familien selbst aufgebracht. Sie erhalten unschwer Zugang zu Behandlungseinrichtungen, zu den gemeindenahen Institutionen und Diensten aber mit teils erheblicher Latenz und Mühe. Dort werden sie zum Teil in Doppelbetreuung hier im Wohnen, da bei der Arbeit und wieder da in der Freizeit zumeist mit sozialarbeiterischen und pädagogischen Konzepten angeleitet, unterstützt und motiviert. Die Erfolge bestehen vermutlich häufig in der Vermeidung psychiatrischer Hospitalisierungen und können sich sehen lassen, bedeuten jedoch vielfach einen Verbleib in dieser Psychiatriegemeinde. Bleibt zu erwähnen, dass für wenige Patienten die Rehabilitationseinrichtungen für psychisch Kranke (RPKs, [6]) offen stehen, viele chronisch psychisch Kranke werden dagegen gar nicht (z. B. Wohnungslose) oder nicht psychiatrisch betreut (z. B. Seniorenzentren, Strafvollzug).
Daneben existiert eindrucksvoll die institutionelle psychiatrische und psychosomatische Rehabilitationsmedizin, zumeist gemeindefern im deutschen Mittelgebirge oder in Erholungsgebieten, die sich zunehmend als Ergänzung oder Alternative zu den konventionellen (teil-)stationären Angeboten geriert. Allein die psychosomatische Rehabilitation umfasst 15 400 Betten, in denen im Jahr 2001 etwa 125 000 Patienten mit im Schwerpunkt psychotherapeutischen Mitteln rehabilitiert wurden. Die mittlere Verweildauer dafür betrug etwa 38 Tage. Es kamen noch etwa 11 400 Betten in der psychiatrischen Rehabilitation hinzu, in denen etwa 44 000 Suchtkranke in einer mittleren Liegezeit von 84 Tagen entwöhnt wurden [7]. Während psychiatrische Versorgungskliniken ihre Bettenzahl erheblich reduzieren konnten, ist es bei den psychosomatischen Rehabilitationsbetten zwischen 1991 und 2001 zu einem Anstieg von über 80 % gekommen. Diese sind mit den gemeindepsychiatrischen Verbünden und Institutionen nicht vernetzt. Rehabilitation in der Psychiatrie und Psychosomatik scheint in praxi dreierlei zu bedeuten: a) gemeindebasierte Betreuung chronisch Kranker und b) klinische, psychotherapiezentrierte Rehabilitation (zur Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit) von reisefähigen Patienten und c) Entwöhnung Suchtkranker außerhalb der großen Zentren. Übergänge zwischen a), b) und c) fehlen ebenso wie Übergangsinstitutionen in b).
Arbeitsunfähigkeitstage durch psychische Störungen haben zwischen 1997 und 2001 um über 50 % zugenommen, Frühberentungen wegen Erwerbs- und Berufsunfähigkeit sind seit 1983 sogar um 50 % bei Männern und 300 % bei Frauen angestiegen [8]. Sind die kleinen, von tausend verschiedenen Trägern betriebenen, gemeindenahen Einrichtungen in der Lage, sich für diese Noch-nicht-chronisch-Kranken zu öffnen, die gleichwohl an sich abzeichnenden Behinderungen leiden? Oder muss die große Rehabilitationspsychiatrie und -psychosomatik sich dieser Menschen annehmen? Besteht der beste personenzentrierte Ansatz nicht in einer Form der Betreuung, die auf Institutionsanbindung weitestgehend verzichten kann? Als Beispiel gilt das supported employment (SE), dessen Rationale darauf basiert, dass Patienten in (Teil-)Remission mit Unterstützung eines „job coaches” an einen kompetitiven und realistischen Arbeitsplatz vermittelt werden. Dieses Modell künftiger Rehabilitation („first place then train”) profitiert von naturalistischen Reha-Bedingungen und einer nicht allzu großen Nähe zu psychiatrischen Institutionen [9]. Die wissenschaftliche Evidenz für den Erfolg des SE ist überwältigend [10]. Es liegt folglich nahe, für weitere Aufgaben der Rehabilitation einen „life coach” zu fordern, der assoziiert an eine psychiatrische Institution die Betreuung psychisch Kranker übernimmt und sie dabei unterstützt, sich im familiären Umkreis oder im gesellschaftlichen Umfeld, in der Partnerschaft, im Straßenverkehr zu bewähren. Ähnlichkeiten zum so genannten Case manager sind rein zufällig, da es sich bei dem „Life coach” um einen im Umgang mit psychisch Kranken erfahrenen und geschulten Sozialarbeiter o. ä. handeln sollte, der als unmittelbarer Betreuer, als Vorbild und Vermittler intensiv, nahezu täglich zur Verfügung stehen sollte. Es unterbliebe somit die Einbindung in psychiatrische Institutionen oder Gemeinschaften. Stigmatisierung und Kostenproblematik ließen sich vermutlich enger eingrenzen. Kooperationen der Träger wären hier denkbar, wenngleich der tägliche Umgang mit chronisch psychisch Kranken bezüglich künftiger Chancen und Entwicklungen Demut und Bescheidenheit lehrt.
Prof. Dr. med. Bernd Eikelmann
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin
Städtisches Klinikum Karlsruhe
Kaiserallee 10
76135 Karlsruhe
E-mail: bernd.eikelmann@klinikum-karlsruhe.com
Kontra
Peter Brieger
Das Ziel ist klar: Die Teilhabe von Menschen mit psychischen Störungen am gesellschaftlichen Leben soll uneingeschränkt und selbstbestimmt ermöglicht werden. Hilfen werden gemeindenah und bedarfsgerecht gestaltet, sie folgen den Prinzipien „ambulant vor stationär”, der Gleichstellung psychisch Kranker mit somatisch Kranken, dem Normalisierungsprinzip und dem Prinzip des „Empowerment” - der Stärkung von Selbstbestimmung. Das „rein biomedizinische Modell”, das Defizite in Form von Störungen, Behinderungen und Beeinträchtigungen als zentral erachtet hat, wurde durch eine „ressourcenorientierte Herangehensweise” abgelöst: In der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der WHO werden die Fähigkeiten der Betroffenen in Vordergrund gestellt [11]. Damit werden Behinderungen und gesundheitsbedingte Beeinträchtigungen nicht als statisch, sondern als dynamische Interaktionen mit der Umwelt verstanden [12].
Bedeutet das, dass Behinderung verschwindet, wenn wir diese Umwelt optimieren, indem wir eigene Hilfsangebote für psychisch kranke Menschen abschaffen? Wir lösen Wohnheime, Tagesstätten, Kontaktstellen und Sozialpsychiatrische Dienste auf, stattdessen nutzen psychisch kranke Menschen Volkshochschulen, Bürgervereine und Bibliotheken, schon kann echte Normalisierung greifen: Psychiatrische Patienten werden wieder zu Bürgern …. Hinter solchen Gedanken scheinen alt bekannte Mythen zu stehen, wie etwa dass psychische Erkrankungen soziale Konstrukte seien [13] oder dass chronisch psychisch kranke Menschen eigentlich nur „echter” psychosozialer Unterstützung bedürften, während medizinische Behandlung ihnen im Verlauf eher abträglich wäre [14]. Unzweifelhaft führt das „real existierende” psychiatrische Versorgungssystem oft ein Eigenleben jenseits der breiten Öffentlichkeit. Seine Hilfeangebote können den Anspruch auf gesellschaftlicher Teilhabe nur begrenzt einlösen. Die fassbaren Mauern der Anstalt sind unsichtbaren Mauern „komplementärer” Angebote gewichen: Isolierung, Stigmatisierung und Bevormundung erleben Nutzer auch dort [15]. Die Gemeindepsychiatrie hat außerdem in den letzten zehn Jahren ein Anwachsen von Heimplätzen und forensischen Betten erlebt [16], wohl auch aufgrund eines wachsenden Sicherheits- und Ordnungsbedürfnisses der Gesellschaft.
Solche (Fehl?)Entwicklungen können grundlegende Erfolge einer modernen Gemeindepsychiatrie aber nicht infrage stellen [17]. Die WHO [18] empfiehlt wohlhabenden Staaten eine abgestimmte Differenzierung ihrer gemeindepsychiatrischen Hilfen. Sie sieht diesen Prozess - nach Aufstieg und Fall der psychiatrischen Anstalten - als dritte Periode in der Geschichte psychiatrischer Versorgung. Ein Abschaffen der gestuften Versorgungsangebote für psychisch kranke Menschen empfiehlt sie nicht. Es ist vielmehr darauf hinzuwirken, dass die Angebote weiter an den Bedarf der psychisch Kranken angepasst werden. Es gibt nämlich heute ausreichende Evidenz dafür, dass differenzierte sozialpsychiatrische Versorgungsangebote den Betroffenen helfen [19]. Kann auch die Volkshochschule dem chronisch psychotisch kranken Mann ein seinen Bedürfnissen angemessenes Angebot machen? Wahrscheinlich öfter als wir „Profis” denken. Jedoch wird absehbar ein relevanter Teil der Betroffenen dort nicht die vollständige Hilfe finden, die sie sich wünschen und die sie benötigen. Gut gestaltete psychosoziale Hilfen für psychisch kranke Menschen gewähren dagegen einen Begegnungsraum, der Hilfen vorhält oder vermittelt, die bedarfsgerecht sind und bei denen die Qualität stimmt - der aber auch Schutz und Rückzugsmöglichkeit bietet, indem die Angebote den Fähigkeiten der Betroffenen angepasst sind.
Im Gesundheits- und Sozialsystem werden gerade in letzter Zeit Leistungskürzungen mit Etiketten wie Autonomie oder Qualität verschleiert. Wohlgemeinte sozialpsychiatrische Ideen laufen dann Gefahr, als trojanisches Pferd für Sparmaßnahmen missbraucht zu werden, obwohl gute Gemeindepsychiatrie nicht viel kostengünstiger ist als die „alte Anstaltspychiatrie” [18]. Die Kritik an der „Psychiatriegemeinde” kann dann als Aufforderung missverstanden werden, die Gemeindepsychiatrie zurückzubauen. Gesellt sich dazu noch eine utilitaristische Theorie der sozialen Gerechtigkeit [20], die eine breit angelegte psychiatrische Basisversorgung für die Gesamtbevölkerung auf Kosten des Ausbaus der Spezialversorgung besonders benachteiligter Gruppen (z. B. chronisch psychisch Kranker) fordert, dann ist ein versorgungspolitisches „Roll-back” absehbar. Man denke an das Beispiel USA: Dort wies der „Surgeon General” darauf hin, dass es unter anderem durch Einsparungen bei öffentlichen Gesundheits- und Sozialleistungen zu einem überproportionalen, Besorgnis erregenden Abbau in der psychiatrischen Versorgung gekommen ist. Stehen dafür in Deutschland nicht auch schon manche Kostenträger in den Startlöchern?
Trotz mancher Fehlentwicklungen sind die Errungenschaften der Gemeindepsychiatrie groß. Ihre unsichtbaren Mauern weiter abzubauen ist wichtig - hier muss sich manches ändern: Das bestehende Versorgungskonzept deswegen grundsätzlich infrage zu stellen, ist nicht nur unangemessen, es scheint auch politisch unklug.
#Danksagung
Dr. H.-J. Kirschenbauer (Frankfurt/Main) für Hinweise und Diskussion.
Priv.-Doz. Dr. med. Peter Brieger
Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
06097 Halle/Saale
E-mail: peter.brieger@medizin.uni-halle.de
Literatur
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