Psychiatr Prax 2005; 32(5): 218-220
DOI: 10.1055/s-2005-866892
Debatte
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Pro und Kontra: Machen Antistigmakampagnen Sinn?

For and Against: Do Anti-Stigma Campaigns Make Sense?
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Publication Date:
28 June 2005 (online)

Table of Contents #

Pro

Wolfgang Gaebel

Entstigmatisierung kann nur durch Bündelung aller gesellschaftlichen Kräfte auf das gemeinsame Ziel gelingen - dieses ist nur mit breit angelegten und langfristigen Gesundheitsprogrammen, „Antistigmaprogrammen”, zu bewältigen. Antistigmaprogramme sind nachweislich effektiv; sie sind ein Muss für jede Gesellschaft, die sich der Ausgrenzung psychisch Erkrankter nachhaltig entgegen stellt.

Jüngste Ergebnisse einer großen Bevölkerungsbefragung mit über 4500 Befragten in Deutschland belegen die Effektivität von Antistigmaprogrammen: Nach drei Jahren Interventionen in den Projektzentren Düsseldorf und München, die das Antistigmaprogramm „Open the doors” im Rahmen des Kompetenznetz Schizophrenie durchgeführt haben, zeigt sich eine signifikante, positive Entwicklung in einer Verbesserung des Wissensstandes über Schizophrenie, einer Verringerung negativer Stereotype und einer Abnahme der sozialen Distanz der Bevölkerung gegenüber schizophren Erkrankten in diesen Städten.

Diese Effekte sind kein Einzelfall: Neben dem Royal College of Psychiatrists in Großbritannien [1] und den nationalen Projektzentren des globalen Antistigmaprogramms „Open the doors” des Weltverbandes für Psychiatrie (WPA) berichten im aktuellen WHO Report „Mental Health Promotion: Case Studies from Countries” weltweit über 30 Initiativen in 19 Ländern von der positiven Wirkung gezielter Aufklärungsmaßnahmen [2]. Dies ist eine Botschaft, die auch bei Betroffenen positiv gesehen wird und so zu ihrer Entstigmatisierung beiträgt: Mit vereinten Kräften wird weltweit gegen das Stigma vorgegangen, und auf allen gesellschaftlichen Ebenen wird mehr und mehr die Notwendigkeit des Abbaus von Stigma und Diskriminierung als eine prioritäre Aufgabe wahrgenommen [3].

Das psychischen Erkrankungen anhaftende Stigma hat schwerwiegende negative Folgen für die hiervon betroffenen Menschen. Wie kaum eine andere Erkrankungsgruppe unterliegen psychische Erkrankungen und die hiervon betroffenen Menschen öffentlicher Abwertung mit den Konsequenzen der Selbststigmatisierung, der sozialen Ausgrenzung und Benachteiligung. Nicht zuletzt die Selbststigmatisierung kann zu einer mangelnden Inanspruchnahme professioneller Hilfe führen und somit zu einer möglichen Beeinträchtigung des Erkrankungsverlaufs. Gleiches gilt für die mit sozialer Ausgrenzung einhergehende Beeinträchtigung des sozialen Netzwerkes der Betroffenen. Für jede Institution, Gruppe oder Einzelperson, die sich eine Verbesserung der Lebensqualität psychisch erkrankter Individuen zum Ziel gesetzt hat, muss es daher geradezu eine Pflicht sein, der Stigmatisierung psychischer Erkrankungen entgegenzutreten.

Die Entstigmatisierung seelischer Erkrankungen zählt also zu den zentralen Aufgaben der mit der psychiatrischen Versorgung befassten verschiedenen Berufsgruppen und Fachgesellschaften, den Nonprofitorganisationen und Gesundheitsbehörden, deren Ziel die Aufrechterhaltung und Verbesserung der seelischen Gesundheit ist. Der Weltverband für Psychiatrie setzt hier Zeichen, nicht nur durch die Einführung und Leitung des weltweiten Antistigmaprogramms Open the doors, das inzwischen Menschen in über 20 Ländern erreicht, sondern auch durch dessen Institutionalisierung und das Einrichten einer neuen Section on Stigma and Mental Health. Nur durch eine solche Positionierung der mit Gesundheitsthemen befassten Weltorganisationen (WHO, WPA) und der nationalen Regierungen kann Antistigmaarbeit den gesellschaftlichen Stellenwert erreichen, der für die Änderung in langer Sozialisation erworbener negativer Vorurteile und ablehnender Verhaltensweisen gegenüber Menschen mit psychischen Erkrankungen unabdingbar ist.

Doch Vorurteile und Einstellungen zu ändern braucht Zeit und verschiedene, abgestimmte Maßnahmen einschließlich deren Evaluation. In den Antistigmaprogrammen wird dies umgesetzt, indem Wissen über psychische Erkrankungen und deren Behandlungsmöglichkeiten vermittelt wird, durch gebündelten Protest gegen diffamierende Darstellungen psychisch Erkrankter zum Beispiel in den Medien, und durch das Kennenlernen und Erfahren subjektiven Erlebens und Bewältigens psychischer Erkrankung im persönlichen Kontakt mit Betroffenen. Alle Maßnahmen sind dabei auf bestimmte Zielgruppen (z. B. Allgemeinbevölkerung, Schüler, Lehrer, Journalisten u. a.) abgestimmt, um eine möglichst hohe Effektivität zu erreichen. Eine weitere wichtige Grundlage für das Gelingen der Maßnahmen ist die enge Kooperation von Experten, Betroffenen und Angehörigen.

Dabei können einzelne Interventionen zwar kurzfristig die Aufmerksamkeit für die Problematik schärfen und in einem gewissen Ausmaß das Wissen über psychische Erkrankungen in einer Zielgruppe verbessern, langfristige Effekte auf das tatsächliche diskriminierende Verhalten können jedoch nur in kontinuierlichen, auf allen gesellschaftlichen Ebenen stattfindenden Bemühungen aller Beteiligten und Betroffenen erreicht werden. Insbesondere kann dies nur gelingen, wenn die beteiligten Akteure gesundheitspolitischen Rückhalt erfahren und das Thema in den akademischen Kanon Eingang findet. Vor diesem Hintergrund ist die jüngste Initiative eines Nationalen Programms zur Entstigmatisierung seelischer Erkrankungen in Deutschland unter Schirmherrschaft des BMGS und in Gründungsmitgliedschaft von DGPPN und Open the doors einzuordnen.

Stigmatisierung und Diskriminierung von Menschen sind inakzeptabel, gleich aus welchem Grund, und jeder Mensch hat das Recht, vor Ungleichbehandlung und Ausgrenzung aus der Gemeinschaft geschützt zu werden. Die Bekämpfung von Vorurteilen und diskriminierenden Verhaltensweisen gegenüber Menschen mit seelischen Erkrankungen geht jeden Bürger an. Sie ist eine gesellschaftliche und historische Aufgabe, die nur mit vereinten Kräften, konsequent und mit langem Atem in einem langfristig angelegten Programm gelingen wird.

Prof. Dr. Wolfgang Gaebel
Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Rheinische Kliniken Düsseldorf
Bergische Landstraße 2
40629 Düsseldorf
E-mail: wolfgang.gaebel@uni-duesseldorf.de

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Kontra

Stefan Priebe

Stigma kann die Versorgung und soziale Eingliederung psychisch Kranker behindern, und dagegen sollte man etwas tun. So weit, so gut. Leider bedeutet die moralisch gute Intention noch nicht, dass die jetzigen Antistigmakampagnen sinnvoll sind. Herkömmliche Kampagnen - und nur um die geht es im Folgenden - beruhen auf der Annahme, die Öffentlichkeit habe falsche Vorstellungen und unbegründete Vorurteile gegenüber psychisch Kranken und deren Erkrankungen. Deshalb müsse die Öffentlichkeit aufgeklärt werden und mehr Informationen über psychische Erkrankungen erhalten. Dies ist vorzugsweise mit der Vermittlung eines medizinischen Krankheitsmodells verbunden, welches beinhaltet, dass psychische Krankheiten zum großen Teil biologisch verursacht sind, sich qualitativ nicht von anderen medizinischen Krankheiten unterscheiden und einer Behandlung bedürfen [4] [5]. Die so aufgeklärte Öffentlichkeit würde - so die Annahme - psychischen Erkrankungen und psychiatrischen Behandlungen gegenüber eine positivere Haltung einnehmen.

Beruht dieser Ansatz auf wissenschaftlicher Evidenz, und entspricht er Prinzipien vernünftiger Öffentlichkeitsarbeit?

Zunächst die Evidenz: Dem Ansatz der Kampagnen folgend, müsste die Akzeptanz eines biologischen Krankheitsmodells zu einer positiveren Haltung gegenüber psychisch Kranken führen. In der Tat hat die deutsche Bevölkerung zwischen 1990 und 2001 ein eher biologisches Krankheitsmodell der Schizophrenie angenommen. Im gleichen Zeitraum hat der Wunsch nach sozialer Distanz zu psychisch Kranken aber nicht ab-, sondern zugenommen [6])! Auch andere Evidenz spricht dafür, dass Antistigmakampagnen und biologische Krankheitserklärungen ablehnendes Verhalten psychisch Kranken gegenüber fördern und vor allem die Vorstellung verstärken, psychisch Kranke seien besonders gefährlich [7] - genau also jene Ideen, die die soziale Eingliederung psychisch Kranker mehr behindern als alles andere [8]. Wahrscheinlich werden psychisch Kranke eher als andersartig und deshalb unberechenbar eingeschätzt, wenn man sie für biologisch erkrankt hält [4]. Interessanterweise gibt es durchaus Hinweise, dass die Vermittlung nicht-medizinischer alternativer Erklärungsmodelle, d. h. dass psychiatrische Störungen keine Erkrankungen, sondern verständliche Reaktionen auf schwierige Lebensergeignisse darstellen, positivere Einstellungen gegenüber psychisch Kranken auslösen [9]. Dies ist aber nicht das Prinzip gegenwärtig dominierender Kampagnen. Die Gründe, warum die Kampagnen entgegen wissenschaftlicher Evidenz auf potenziell schädlichen Strategien beharren, sind wahrscheinlich komplex und nicht das Thema dieser Stellungnahme.

Eine vollständige Aufklärung der Bevölkerung durch Psychiater kann - logischerweise - nicht mehr Wissen vermitteln, als Psychiater selbst haben. Wenn dieses Wissen mit einer positiveren Haltung zu psychisch Kranken verbunden wäre, müssten Psychiater selbst das Idealbild von Vorurteilsfreiheit und Stigmalosigkeit darstellen. Tatsächlich sind Psychiater psychisch Kranken gegenüber im Schnitt etwas positiver eingestellt als die Allgemeinbevölkerung, was als Selektionseffekt erklärt werden kann, denn ein Mediziner mit besonders negativer Haltung zu psychisch Kranken wird sich kaum für eine Karriere in der Psychiatrie entscheiden. In einigen Punkten zeigen Psychiater aber nicht etwa positivere, sondern negativere Einstellungen als die Allgemeinbevölkerung. Aussagen wie „Ein Mann (eine Frau) wäre dumm, eine(n) psychisch Kranke(n) zu heiraten, selbst wenn diese(r) vollständig geheilt erscheint” und „Ich möchte nicht neben einem psychisch Kranken wohnen” können als Zeichen von Stigma gewertet werden. Diese stigmatisierenden Aussagen werden häufiger von der Bevölkerung „stark abgelehnt” als von Psychiatern [10]. Selbst wenn Antistigmakampagnen es also schaffen würden, die gesamte Bevölkerung so umfassend aufzuklären, dass alle den Wissenstand psychiatrischer Fachärzte erreichen, wären Stigma und soziale Diskriminierung von psychisch Kranken nicht ausgeräumt, sondern in manchen Aspekten vielleicht sogar verstärkt.

Nun zu den Prinzipien von Öffentlichkeitsarbeit: Die Tatsache, dass ein Teil der Kampagnen von der Pharmaindustrie bezahlt wird, ist an sich zwar noch nicht ehrenrührig, sollte aber doch zur Vorsicht mahnen. Geht es hier vielleicht eher darum, dass möglichst vielen Menschen verständlich gemacht wird, sie sollten Pharmaka zur Behandlung ihrer psychischen Störungen einnehmen, als um eine Überwindung von Stigma zur Förderung der sozialen Integration? Antistigmakampagnen haben einen vorwürflichen Ausgangspunkt: Die Bevölkerung hat stigmatisierende Vorurteile, und das ist falsch. Jeder Psychotherapeut weiß, dass man mit Vorwürfen und Beschuldigungen selten Verhaltensänderungen erreicht. Wie kommen wir als Psychiater eigentlich dazu, „die Bevölkerung als stigmatisierend zu stigmatisieren” [11]? Warum beginnen wir mit einer Kritik und nicht mit einem bewundernden Lob für die insgesamt positive Haltung psychisch Kranken gegenüber, die in der Bevölkerung immer noch dominiert, oder für die zahlreichen Bürger- und Laienhelfer, die sich jeden Tag in Deutschland unentgeltlich für psychisch Kranke einsetzen und einen Teil ihrer Freizeit im Kontakt mit psychisch Kranken verbringen?

Wenn die gegenwärtigen Antistigmakampagnen also keinen Sinn machen, muss man dann die Flinte ins Korn werfen und der weiteren Entwicklung gesellschaftlichen Stigmas psychisch Kranker tatenlos zusehen? Überhaupt nicht! Aber anstatt Werbekampagnen zu konzipieren, sollten sich Psychiater darauf konzentrieren, die Lage psychisch Kranker und ihre soziale Integration in der täglichen Realität zu verbessern. Erforderlich sind nicht Vorwürfe an die Bevölkerung, sie sei mit ihrer Stigmatisierung an der Ausgrenzung psychisch Kranker Schuld, sondern effektivere Behandlungen, um Krankheitsverläufe und soziale Integration psychisch Kranker tatsächlich zu verbessern.

Prof. Dr. Stefan Priebe
Academic Unit
Newham Centre for Mental Health
London E13 8SP, UK
E-mail: S.Priebe@qmul.ac.uk

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Literatur

  • 1 Crisp A, Cowan L, Hart D. The College's Anti-Stigma Campaign, 1998 - 2003. A shortened version of the concluding report.  Psychiatr Bull. 2004;  28 133-136
  • 2 Saxena S, Garrison P J (Hrsg). Mental Health Promotion. Case Studies from Countries. Geneva; WHO 2004
  • 3 Gaebel W, Möller H J, Rössler W (Hrsg). Stigma - Diskriminierung - Bewältigung. Der Umgang mit sozialer Ausgrenzung psychische Kranker. Stuttgart; Kohlhammer 2005
  • 4 Corrigan P, Watson A. At Issue: Stop the Stigma: Call Mental Illness a Brain Disease.  Schizophrenia Bulletin. 2004;  30 477-479
  • 5 Otey E, Fenton W. Building mental illness stigma research.  Schizophrenia Bulletin. 2004;  30 473-475
  • 6 Angermeyer M, Matschinger H. Causal beliefs and attitudes to people with schizophrenia - Trend analysis based on data from two population surveys in Germany.  The British Journal of Psychiatry. 2005;  186 331-334
  • 7 Read J, Law A. The relationship of causal beliefs and contact with users of mental health services to attitudes to the „mentally ill”.  International Journal of Social Psychiatry. 1999;  45 216-229
  • 8 Priebe S, Badesconyi A, Fioritti A, Hansson L, Kilian R, Torres-Gonzales F, Turner T, Wiersmar D. Reinstitutionalisation in mental health care: comparison of data on service provision from six European countries.  British Medical Journal. 2005;  330 123-126
  • 9 Morrison J, Teta D. Reducing students' fear of mental illness by means of seminar-induced belief change.  Journal of Clinical Psychology. 1980;  36 275-276
  • 10 Kingdon D, Sharma T, Hart D. and the Schizophrenia Subgroup of the Royal College of Psychiatrists' Changing Minds Campaign . What attitudes do psychiatrists hold towards people with mental illness?.  Psychiatric Bulletin. 2004;  28 401-406
  • 11 Dörner K. Persönliche Mitteilung. 
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Literatur

  • 1 Crisp A, Cowan L, Hart D. The College's Anti-Stigma Campaign, 1998 - 2003. A shortened version of the concluding report.  Psychiatr Bull. 2004;  28 133-136
  • 2 Saxena S, Garrison P J (Hrsg). Mental Health Promotion. Case Studies from Countries. Geneva; WHO 2004
  • 3 Gaebel W, Möller H J, Rössler W (Hrsg). Stigma - Diskriminierung - Bewältigung. Der Umgang mit sozialer Ausgrenzung psychische Kranker. Stuttgart; Kohlhammer 2005
  • 4 Corrigan P, Watson A. At Issue: Stop the Stigma: Call Mental Illness a Brain Disease.  Schizophrenia Bulletin. 2004;  30 477-479
  • 5 Otey E, Fenton W. Building mental illness stigma research.  Schizophrenia Bulletin. 2004;  30 473-475
  • 6 Angermeyer M, Matschinger H. Causal beliefs and attitudes to people with schizophrenia - Trend analysis based on data from two population surveys in Germany.  The British Journal of Psychiatry. 2005;  186 331-334
  • 7 Read J, Law A. The relationship of causal beliefs and contact with users of mental health services to attitudes to the „mentally ill”.  International Journal of Social Psychiatry. 1999;  45 216-229
  • 8 Priebe S, Badesconyi A, Fioritti A, Hansson L, Kilian R, Torres-Gonzales F, Turner T, Wiersmar D. Reinstitutionalisation in mental health care: comparison of data on service provision from six European countries.  British Medical Journal. 2005;  330 123-126
  • 9 Morrison J, Teta D. Reducing students' fear of mental illness by means of seminar-induced belief change.  Journal of Clinical Psychology. 1980;  36 275-276
  • 10 Kingdon D, Sharma T, Hart D. and the Schizophrenia Subgroup of the Royal College of Psychiatrists' Changing Minds Campaign . What attitudes do psychiatrists hold towards people with mental illness?.  Psychiatric Bulletin. 2004;  28 401-406
  • 11 Dörner K. Persönliche Mitteilung.