Gesundheitswesen 2005; 67(2): 67-68
DOI: 10.1055/s-2005-857896
Begrüßung

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Gesundheit - Wirtschaftlichkeit und Gerechtigkeit

Health - Economy and FairnessJ. G. Gostomzyk1
  • 1Gesundheitsamt, Augsburg
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Publication Date:
03 March 2005 (online)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, zur 40. Wissenschaftlichen Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention (DGSMP) heiße ich Sie als deren Präsident herzlich willkommen.

Sozialmedizin befasst sich mit den Wechselwirkungen zwischen Gesundheit/Krankheit und Gesellschaft. Die derzeit mit hoher Geschwindigkeit ablaufenden gesellschaftlichen Veränderungen, insbesondere im Bereich unserer Sozialsysteme, werden von einem großen Teil der Bevölkerung als Systemkrise erlebt. Fragen der Wirtschaftlichkeit und der Gerechtigkeit sind dabei treibende, zum Teil aber auch retardierende Kräfte mit einer nicht mehr begründeten Wohlstandsillusion. Das hat Rückwirkungen auf die Gesellschaft im Sinne einer sehr heterogenen gesellschaftlichen Bewertung der Bedeutung von Gesundheit und auf die Vorstellungen über deren Finanzierung.

Vor wenigen Jahren noch prognostizierte Kontratjew das Gesundheitswesen als die wirtschaftliche Innovationskraft des 21. Jahrhunderts. Allerdings wurde bereits seit den 80er-Jahren, u. a. von dem Sozialforscher Meinhard Miegel (Die deformierte Gesellschaft, Ullstein Verlag 2004), auf den sich abzeichnenden, aus der politischen Diskussion aber systematisch verdrängten Konflikt hingewiesen, der sich ergibt aus der Bevorzugung konsumtiver Investitionen im Sozialbereich, insbesondere im Renten- und Gesundheitssystem, zu Lasten zukunftsorientierter Investitionen für Bildung und Forschung sowie für Technologie- und Arbeitsentwicklung. Als neue brennende „soziale Frage” wurden Defizite in der intergenerativen Gerechtigkeit formuliert, sowohl als Defizite in der Zukunftsorientierung für die kommende Generation als auch als biologischer und sozialer Terror einer Altersangst gegen die ältere Generation, die Frank Schirrmacher als Methusalem-Komplott beschreibt (Karl Blessing Verlag 2004).

Der wirtschaftsliberale CDU-Finanzexperte Friedrich Merz hat eine bemerkenswerte Ansicht zur Entwicklung des Gesundheitssystems vor einer Woche in einem Spiegel-Interview (Spiegel Nr. 38/2004, Seite 34) dargelegt, in dem er auf die Notwendigkeit hinwies, „Gesundheitskosten von den Einkommen abzukoppeln und so den größten Kostentreiber gegen Wachstum und Beschäftigung volkswirtschaftlich zu neutralisieren”.

Bezeichnend in diesem Zusammenhang ist auch die politische Diskussion um die gestaffelte und damit vom Raucher moderater empfundene Steuererhöhung für Zigaretten und die Aussetzung ihrer 3. Stufe. Letzteres erschien dem Finanzminister angezeigt, weil die Steuereinnahmen, die der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zufließen sollten, unter der erhofften Summe lagen. Offensichtlich wurden weniger Zigaretten geraucht und man befürchtet einen weiteren Konsumrückgang. Der polemische Appell „Rauchen für die Gesundheit” konterkariert das Anliegen zahlreicher, zum Teil mit öffentlichen Mitteln finanzierter gesundheitsbezogener Präventionsprojekte gegen das Rauchen.

Die wenigen Hinweise auf innere Widersprüche der gesundheitspolitischen Debatte zeigen:

Gesundheit ist offensichtlich kein primäres Politikziel, auch wenn über die Entwicklung unseres Gesundheitssystems zwischen den Parteien heftig gestritten wird. Aus sozialmedizinischer Sicht brauchen wir einen professionellen und einen gesellschaftlichen Diskurs über den Begriff Gesundheit, insbesondere über seinen Inhalt im Rahmen einer solidarisch finanzierten GKV. Die Finanzierungskrise der GKV verschärft die Fragen bezüglich einer gerechten Verteilung von Gesundheitsleistungen. Bei der Suche nach tragfähigen Antworten sind sowohl die objektive Leistungsfähigkeit einer solidarisch finanzierten GKV als auch das Inanspruchnahmeverhalten der Versicherten sowie deren subjektiv gefühlte Verunsicherung und das Verhalten der Leistungserbringer zu diskutieren.

Im ursprünglichen Sinne bedeutet Gerechtigkeit lediglich die Übereinstimmung mit dem geltenden Recht. Ohne die enge Beziehung zum geltenden Recht aufzugeben, hat Gerechtigkeit seit längerem eine Differenzierung erfahren, u. a. als Besitzstandsgerechtigkeit, Leistungsgerechtigkeit, soziale Gerechtigkeit mit den Vorstellungen über Chancengerechtigkeit und Bedürfnisgerechtigkeit und sie hat dabei stärkere moralische Bedeutung entwickelt (Walter Kerber, Sozialethik, Kohlhammer Verlag 1998).

Soziale Gerechtigkeit wurde bislang zunehmend als Bedürfnisgerechtigkeit verstanden: Die Gesellschaft gewährt all ihren Mitgliedern die Erfüllung bestimmter, als grundlegend erkannter Wünsche. Soziale Gerechtigkeit in der GKV entspricht explizit der Bedürfnisgerechtigkeit (SGB V, § 27, Krankenbehandlung) und weist dazu komplementär in § 1 SGB V Solidarität und Eigenverantwortung als Pflichten der Versicherten aus.

Allerdings enthält ein auf dem Bedürfnisprinzip aufgebautes Verteilungssystem wenig Anreize, mit den Mitteln sparsam umzugehen, welche die Solidargemeinschaft zur Verfügung stellt.

Bislang erfolgte Leistungsbegrenzungen in der GKV sowie weitere absehbare Leistungsreduzierungen, z. B. im Rahmen einer Basisversicherung, verschärfen die Gerechtigkeitsdebatte. Was soll bzw. muss finanziert werden? Reicht in Zukunft für eine gerechte Lösung wie bisher die Beschreibung der medizinischen Diagnose? Oder sind in Zukunft im Sinne eines erweiterten Krankheitsbegriffes, auch im Rahmen der GKV, weitere personen- und umweltbezogene Kontextfaktoren zu berücksichtigen, entsprechend dem Konzept der Klassifikation der Funktionsfähigkeit bei Behinderung (ICF)? Ansätze dazu sind in der GKV die Feststellungen der Voraussetzungen für Freistellungen von der Praxisgebühr oder von Zuzahlungen bei chronischer Krankheit.

Zahlreiche im Programm ausgewiesene Vorträge und Poster unserer Tagung bekunden den Beitrag der Sozialmedizin für Wirtschaftlichkeit und Gerechtigkeit in der gesundheitlichen Versorgung der Bevölkerung. Die Mitarbeit an der Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit gehört zu den primären Aufgaben gutachterlich tätiger Sozialmediziner in den Medizinischen Diensten. Sie geben in ihren Gutachten eine am jeweiligen Stand der Wissenschaft orientierte Darstellung medizinischer Befunde, in Zukunft möglicherweise mit entscheidungsrelevanten Kontextfaktoren angereichert, zur sozialrichterlichen Überprüfung der Vereinbarkeit von Ansprüchen auf solidarisch finanzierte Leistungen mit dem geltenden Recht.

Es bleibt mir abschließend die angenehme Aufgabe, bereits heute Herrn Prof. Robra, Herrn Prof. Felder und ihren Mitarbeitern im lokalen Organisationskomitee, Frau Dr. Brinkschulte, Frau Prof. Dathe, Herrn Schumann sowie im Sekretariat Frau Peters für die intensive Vorbereitung der Tagung zu danken. Mit Ihrer Arbeit haben Sie einen großen Beitrag für das Ansehen unseres Faches in Magdeburg und weit darüber hinaus geleistet. Herrn Prof. Geiger danke ich herzlich für die Gastfreundschaft an der Hochschule Magdeburg/Stendal.

Unserer Tagung wünsche ich einen erfolgreichen Verlauf.

Prof. Dr. Johannes Gostomzyk
Präsident der DGSMP

Prof. Dr. Johannes G. Gostomzyk

Gesundheitsamt

Hoher Weg 8

86152 Augsburg

Email: johannes.gostomzyk@a-city.de