Psychiatr Prax 2005; 32(4): 161-162
DOI: 10.1055/s-2004-834756
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Psychiater als Türsteher vor den Töpfen des Sozialstaats?

Psychiatrists - Gatekeepers Guarding Welfare State Benefits?Georg  Schomerus1 , Peter  Spindler1 , Frank  Bröker1
  • 1Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Universität Leipzig
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Dr. Georg Schomerus

Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Tagesklinik

Johannisallee 20

04317 Leipzig

Email: georg.schomerus@medizin.uni-leipzig.de

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Publication Date:
25 April 2005 (online)

Table of Contents

Sozialpsychiater wissen es schon lange: das Umfeld eines Kranken nimmt auf seine Genesung oder die Chronifizierung seines Leidens Einfluss. Dabei bekommt das sozialrechtliche Umfeld in der Psychiatrie ein immer größeres Gewicht. Wir möchten deshalb die Situation älterer, von Arbeitslosigkeit bedrohter Patienten in Deutschland betrachten und dazu folgende Thesen vorstellen:

  1. Durch die Kürzungen im Sozialsystem der BRD drohen vielen psychiatrischen Patienten gravierende finanzielle Einbußen.

  2. Die therapeutische Beziehung in der Psychiatrie wird dadurch belastet, dass paradoxerweise häufig die Gesundung größere finanzielle Not nach sich zieht als eine chronische psychische Krankheit.

  3. Dies ist einem Ungleichgewicht im bundesdeutschen Sozialsystem geschuldet, das durch die Arbeitsmarktreform noch gravierender geworden ist, nämlich der relativen Privilegierung der Rentenversicherung gegenüber den anderen Zweigen der Sozialversicherung.

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Drohende finanzielle Einbußen

Psychisch Kranke sind überdurchschnittlich häufig von Arbeitslosigkeit betroffen oder bedroht, wobei Arbeitslosigkeit sowohl Ursache als auch Folge einer Erkrankung sein kann. Der Anteil Arbeitsloser am erwerbsfähigen Klientel unserer allgemeinpsychiatrischen Tagesklinik im Jahr 2003 betrug beispielsweise 57 % (eigene BADO-Daten) gegenüber einer Arbeitslosenquote in der Stadt Leipzig von 20 %. Die Einführung des Arbeitslosengelds II (ALG II) bedroht nun diejenigen, die länger als 1 Jahr ohne Arbeit sind, mit empfindlichen Einbußen an Einkommen und Status. Das ALG II wird nicht nach dem Versicherungsprinzip, also aufgrund erworbener Ansprüche, sondern nach dem Bedürftigkeitsprinzip gewährt - dies allein bedeutet häufig einen Statusverlust. Dafür wird vorhandenes Vermögen angerechnet und muss verbraucht werden, bevor überhaupt Unterstützung gewährt wird. Aber nicht nur das eigene Vermögen muss zum Unterhalt herangezogen werden, sondern auch das Vermögen und Einkommen des Lebenspartners, was zu einer Verringerung des gemeinsamen Einkommens auf das Niveau der Sozialhilfe führen kann und eine erhebliche Belastung für die Partnerschaft darstellt. Der arbeitslose Partner muss im Zweifelsfall „durchgefüttert” werden [1]. All dies ist besonders für ältere und kranke Arbeitssuchende problematisch, da sie auf dem Arbeitsmarkt weniger Chancen haben als jüngere und gesündere und deshalb ihre Lage kaum aus eigener Kraft verbessern können.

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Rettung durch Rente

Bei drohender oder bestehender Arbeitslosigkeit kann die Diagnose einer chronischen psychischen Krankheit zum rettenden Strohhalm für den Patienten werden, da sie ihm die Chance bietet, Erwerbsminderungsrente zu beantragen und zum Rentenempfänger zu werden. Es ist unter den neuen gesetzlichen Rahmenbedingungen wesentlich attraktiver, sich in die Rente „zu retten”, als den (oft aussichtslosen) Kampf um einen Arbeitsplatz aufzunehmen. In der Rentenversicherung wird die Leistung nicht nach Bedürftigkeit, sondern nach erworbenen Ansprüchen gewährt, ist also bei Patienten, die schon auf ein langes Berufsleben zurückblicken, wahrscheinlich höher als der Satz des ALG II. Außerdem wird in der Rente das angesparte Vermögen geschont, und auch Vermögen und Einkommen des Lebenspartners werden nicht angerechnet [2]. Der Rentner wird also nicht zur Last in der Partnerschaft, und schließlich ist sein Status wesentlich besser als der des bedürftigen Sozialleistungsempfängers.

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Ungleichgewicht im deutschen Sozialsystem

Es existiert also eine Schieflage, in der die Erwerbsunfähigkeit in vielen Fällen attraktiver wird als die Arbeitssuche. Diese Schieflage ist keine Erfindung der jetzigen Regierung, sondern über die letzten 100 Jahre gewachsen. Bei Einführung der Rentenversicherung 1889 betrug die Leistung nach 30 Beitragsjahren weniger als 20 % des durchschnittlichen Einkommens und reichte kaum zur Existenzsicherung aus [3]. Bis in die 70er-Jahre des 20. Jh. expandierten alle Teile der Sozialversicherung (Krankenversicherung, Unfallversicherung, Rentenversicherung und Arbeitslosenversicherung), insbesondere die Rentenversicherung wurde in der Nachkriegszeit erheblich ausgeweitet. Durch zwei Rentenreformen 1957 und 1974 wurde die Rente deutlich erhöht, durch Einführung der „Rentenformel” an vorheriges Einkommen, Beitragsjahre und an die Entwicklung des Durchschnittslohns gekoppelt. Außerdem wurde der Kreis der Bezugsberechtigten (etwa durch die Möglichkeit des vorzeitigen Ruhestandes) erweitert.

In den 80er-Jahren begann angesichts leerer öffentlicher Kassen ein vorsichtiger Umbau des Sozialstaats: Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe wurden gekürzt bzw. ihr Bezug erschwert, während in der Rentenversicherung weitere Verbesserungen, insbesondere für Mütter mit kürzeren Erwerbszeiten stattfanden (Anrechenbarkeit von Erziehungszeiten, Senkung der Mindestbeitragsdauer). Die Leistungen der Rentenversicherung sind also in Relation zu denen der Arbeitslosenversicherung mit der Zeit deutlich attraktiver geworden [3].

Unbestreitbar gibt es ein Bedürfnis nach möglichst umfassender sozialer Absicherung. Umfassende soziale Absicherung ist in der Nachkriegszeit beinahe zum Normalfall geworden. Da diese Absicherung aber in den verschiedenen Zweigen der Sozialversicherung in immer unterschiedlicherem Ausmaß gewährleistet wird, entsteht ein finanzieller „osmotischer” Druck in Richtung Rentenversicherung. Wichtig ist dabei, dass man nicht dem einfachen Fehlschluss erliegen sollte, beim Bemühen um die Rente läge ein schuldhafter Egoismus des Patienten vor. Es handelt sich vielmehr um ein nachvollziehbares, oft (der eigenen Familie gegenüber) sehr verantwortungsvolles Eigeninteresse, unter den gegebenen Umständen die größtmögliche materielle Sicherheit zu erlangen.

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Was tun?

Wie kann man als behandelnder Psychiater mit dieser Situation umgehen? Zunächst ist es wichtig, für das Thema sensibilisiert zu sein. Entscheidend ist dann, über die relevanten Zusammenhänge Bescheid zu wissen, um sie in der Anamnese gezielt erheben zu können. Wie lange kann der Patient noch Krankengeld beziehen, welche weiteren Schritte plant er? Wurde ein Antrag auf Erwerbsminderungsrente gestellt? Muss eine auslaufende Rente verlängert werden? Liegen Gutachten anderer Fachrichtungen vor, die für einen Rentenantrag verwendet werden sollen? Wurde bereits ein „Grad der Behinderung” festgesetzt, der ggf. erhöht werden soll? Sind bereits andere Maßnahmen (Teilhabe am Arbeitsleben) vom Kostenträger in Erwägung gezogen worden? Es ist hilfreich, zur Klärung dieser Fragen einen Sozialarbeiter einzubeziehen. Darüber hinaus ist die genaue Auftragsklärung wichtig. Welches Anliegen hat der Patient selbst? Gibt es andere Auftraggeber für die Behandlung des Patienten, wie z. B. den MDK, eine Berufsgenossenschaft oder den Arbeitgeber? Möglicherweise haben diese ganz andere Anliegen. In all diesen Fragen sollte mit dem Patienten größtmögliche Transparenz hergestellt werden, um eine gemeinsame, ehrliche Arbeitsgrundlage zu finden. Für die dann folgenden konkreten Schritte kann es wohl keine allgemein gültigen Lösungen geben. Wir denken aber, dass es möglich und notwendig ist, den Patienten in seinen gesundheitlichen und sozialen Umständen ernst zu nehmen, ohne sich instrumentalisieren zu lassen.

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Literatur

Dr. Georg Schomerus

Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Tagesklinik

Johannisallee 20

04317 Leipzig

Email: georg.schomerus@medizin.uni-leipzig.de

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