Fortschr Neurol Psychiatr 2004; 72: 1-2
DOI: 10.1055/s-2004-818538
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Konzeptuelle Weiterentwicklungen im Umkreis der strukturdynamischen Psychopathologie von Werner Janzarik

Influences of the Structural-Dynamic Approach on Contemporary PsychopathologyCh.  Mundt1 , H.  Sass1
  • 1Psychiatrische Universitätsklinik Heidelberg
Further Information

Publication History

Publication Date:
07 October 2004 (online)

Werner Janzarik, Jahrgang 1920, war von 1973 bis 1987 Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg. Nach seinem Medizinstudium in Würzburg hatte er bereits erste klinische Erfahrungen an der damals von Kurt Schneider geleiteten Heidelberger Klinik gesammelt, bevor er noch in den 50er Jahren mit seinem vormaligen Oberarzt Kranz nach Mainz ging, wo er sich mit einer Monographie über die Varianten dynamischer Auslenkungen bei endogenen Psychosen habilitierte und später auf eine Professur für Forensische Psychiatrie berufen wurde. Dort erreichte ihn 1973 der Ruf nach Heidelberg, kurz später ein weiterer Ruf nach Lübeck. Bald nach seinem Amtsantritt in Heidelberg wählte ihn die damalige Fakultät für Klinische Medizin II zu ihrem Dekan, einige Jahre später wurde er in die naturwissenschaftliche Akademie Leopoldina gewählt. Janzarik hat mit seinem umfangreichen wissenschaftlichen Werk und in vielen intensiven persönlichen Diskussionen die deutschsprachige klinische Psychopathologie über vier Jahrzehnte nachhaltig beeinflusst.

Die vorliegende Sammlung von Vorträgen über Einflüsse, Auswirkungen, Querverbindungen von Janzariks Werk zu zeitgenössischen psychopathologischen Strömungen wurde aus Anlass seines 80. Geburtstags zusammengestellt. Die Autoren, frühere Mitarbeiter und Schüler oder von seinen Arbeiten inspirierte Psychopathologen zeigen, in welcher Weise Janzariks Denken und Werk die eigenen Forschungen beeinflusst hat. Ein zehn Jahre zuvor veranstaltetes Symposium aus Anlass seines 70. Geburtstages hatte sich mit Janzariks Konzept der Einheitspsychose befasst, das damals von unterschiedlichen Forschungsfeldern behandelt wurde wie Psychopathologie, Genetik, Epidemiologie, Psychopharmakologie [1]. Die zwischenzeitliche Entwicklung der psychopathologischen Forschung seit etwa 1990 ist geprägt durch die starke Beachtung der experimentellen Neuropsychologie mit einem immensen Anwachsen von Faktenwissen, zunehmendem Einfluss auf die klinische Psychopathologie und die psychotherapeutischen Ansätze. Entsprechend haben einige der hier gesammelten Arbeiten Querverbindungen von Janzariks Werk zu den Themen und Befunden der aktuellen neuropsychologischen Forschung bearbeitet.

Der Kinderpsychiater F. Resch hat Janzariks strukturdynamisches Kohärenzmodell mit dem empirischen Wissensstand der heutigen Entwicklungspsychopathologie zusammengebracht. Dabei hat er die Entstehung von Repräsentationen beschrieben, die aus proceduralen Lernprozessen der Interaktionsmuster in der Mutter-Säuglings-Dyade erwachsen. Sie entsprechen den „strukturellen Bereitschaften” und stellen eine Grundlage von Autopraxis und Desaktualisierungsfähigkeit im Sinne einer Affektregulation dar. Zu diesen sich verfestigenden strukturellen Repräsentationen von interaktionellen Erfahrungen treten später die bildhaften und symbolischen Repräsentationen hinzu, die insgesamt das Verhalten der entstehenden Persönlichkeit beeinflussen. Reschs Arbeit bereichert die Sichtweise Janzariks um die speziellen Effekte der frühen Traumatisierung auf die Affektbindung in den entstehenden Strukturen. Beeinträchtigungen der Strukturentwicklung und der Affektregulation durch frühe Traumatisierung zeitigen dann wiederum besondere Vulnerabilität gegenüber neuen Belastungen.

M. Schmidt-Degenhardt beginnt seine Auseinandersetzung mit Janzarik mit der Nachzeichnung seines „Denkweges”, dessen Charakteristik er darin sieht, dass die Kluft zwischen der formalen deskriptiven Phänomenologie von Jaspers und den interpretativen Ansätzen der anthropologischen Phänomenologie zu schließen sei. Auf diesem Wege sei eine Anthropologie der „kreatürlichen Voraussetzungen” für die Entwicklung des Individuums entstanden. Schmidt-Degenhardt, der sich in eigenen Arbeiten ausgehend vom Oneiroid von Paraplegikern mit der Funktion der Imagination des Seelenlebens für die Wirklichkeitskonstitutierung auseinandergesetzt hat, sieht in Janzariks Autopraxisbegriff eine starke Aufwertung der Imaginationsfunktion für die Welterschließung. Er habe ihr den Charakter der ontologischen Schwäche, des Defizitären und des Nicht-Realen genommen und im Gleichklang mit Kant gewissermaßen den Arbeitscharakter der Imagination für die Realitätsgewinnung betont.

H.-L. Kröber setzt sich ebenfalls mit dem Konzept der Autopraxis, des spontanen Andrängens von Phantasien, Impulsen, Affekten für die forensische Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit auseinander. Janzarik hat mit seinen klinischen Beobachtungen bezüglich struktureller Schwächungen und affektdynamischer Unstetigkeiten im Vorfeld vor allem von Affekttaten einen wesentlichen Beitrag zum besseren Verständnis des Überschreitens der Schwelle zur Tat erarbeiten können. Kröber setzt sich auch mit dem Begriff der Selbstkorrumpierung für die Endstrecke dieser Entwicklung zum Affektdelikt hin auseinander, ein Begriff, mit dem Janzarik dem Forensiker wiederum ein Element der Verantwortlichkeit des Täters gegenüber seiner strukturdynamischen Imbalance an die Hand gibt.

Mundt und Weisbrod haben versucht, mit einer systematischen Gegenüberstellung der Begrifflichkeit von Janzarik und neuropsychologischen Befunden die frappanten Entsprechungen der jeweiligen Forschungen darzustellen. Hierbei wurde insbesondere auf das Konzept der Desaktualisierungsschwäche Bezug genommen, aber auch auf die Leistungen der Gedächtnis-Encodierung und des Abrufs, die nach Janzarik wesentlich durch Ordnen, Einsortieren, also Strukturierung der Gedächtnisinhalte einerseits und ihre emotionale Befrachtung andererseits zustande kommen. Ferner wurden die Begriffe der Autopraxis, also des spontanen Andrängens von Werten, Zielvorgaben, Einfällen sowie das Konzept der Strukturverformung bearbeitet. Es wird gezeigt, dass die neuropsychologisch-experimentell erhobenen Befunde und Konzepte zu Filter- und Gating-Störungen, zur Unterscheidung von automatischen und kontrollierten mentalen Prozessen, zur zentralen Exekutive und der exekutiven Kontrollfunktion zum Teil eine minutiöse Entsprechung zu den ausschließlich aus klinischer Beobachtung gewonnenen Befunden und Konzepten von Janzarik zeigen und seine Beobachtungen im Wesentlichen bestätigen. Diese Arbeit weist damit auch auf das Verdienst Janzariks hin, die in der experimentellen psychopathologischen Literatur gefundenen Funktionen und ihre Störungen aus der Sicht des Klinikers in Zusammenhang mit der subjektiven Erfahrungswelt des Patienten zu bringen.

Die wissenschaftlichen Wegfährten P. Berner, G. Gross und G. Huber zeichnen in ihren Arbeiten noch einmal die lebhafte wechselseitige Auseinandersetzung von Janzariks strukturdynamischer Psychopathologie mit Befunden und Konzepten der Wiener und Bonner Gruppierungen nach. Berner sieht zwar in der affektdynamischen Entgleisung nach wie vor das Kernphänomen der produktiv psychotischen klinischen Phänomene, stellt der einheitspsychotischen Auffassung der idiopathischen Psychosen durch Janzarik aber die differenzierende Konzeption des Wiener Achsensyndroms mit Überlappungen, aber doch definierbaren Unterscheidungen im Sinne einer dichotomen Psychosenauffassung gegenüber. Die Bonner Gruppe um Gross und Huber stellt in einer systematischen Weise die Begrifflichkeit Janzariks anhand der klinischen Phänomenologie idiopathischer Psychosen dar, einschließlich der Erläuterungen, die insbesondere die Konzepte der dynamischen Insuffizienz und Desaktualisierungsschwäche für das Entstehen von Basissymptomen aufzeigen können.

Der Psychoanalytiker J. Küchenhoff, in seiner Zeit an der Heidelberger Psychiatrie von Janzariks Strukturdynamik beeindruckt, hebt die Offenheit und Integrationsfähigkeit von Person und Konzept hervor. Er weist auf die Querverbindungen zur Psychoanalyse hin, die auf den großen, von Janzarik organisierten Psychopathologiekongressen vor allem von H. Lang, L. Ciompi und S. Mentzos hergestellt worden sind. Küchenhoff betont, dass die Psychoanalyse mit ihren großen Erfahrungen bezüglich der entwicklungspsychologisch früh entstehenden Repräsentationen in einen fruchtbaren Dialog mit der strukturdynamischen Konzeption eintreten könnte. Ein weiteres gemeinsames Thema sei die Dynamik, die sich in der Psychoanalyse im Triebbegriff finde, später aber eine Entbiologisierung etwa als „Kraft zur Sinnsuche” durchgemacht habe. Küchenhoff weist auf die grundsätzliche Bedeutung des strukturdynamischen Modells als einer eigenständigen Anthropologie hin, die der Psychiatrie Festigkeit geben könne in der Unstetigkeit von Paradigmenwechseln und konzeptionellen „Moden”.

Das wissenschaftliche Werk Janzariks zeichnet sich durch eine ausschließlich aus klinischer Erfahrung und wahrscheinlich wie bei vielen bedeutenden Psychologen aus Introspektion gespeiste minutiöse Beschreibung von funktionalen Zusammenhängen mentaler Phänomene aus. Es geht damit über die deskriptive Phänomenologie von Karl Jaspers und Kurt Schneider insofern weit hinaus, als es eben funktionale Zusammenhänge darstellt, die dem strukturdynamischen Kohärenzmodell den Charakter einer allgemeinen Anthropologie einschließlich entwicklungspsychologischer Perspektiven verleihen. Andererseits hat sich Janzarik stets von der Auseinandersetzung mit konkreten Inhalten des Seelenlebens ferngehalten und sich damit von der anthropologischen Phänomenologie und Psychoanalyse unterschieden. Ihnen setzt er die strenge formale Deskription mentaler Funktionsabläufe entgegen, die eben von den Inhalten durch eine höhere Abstraktionsebene abhebbar sein müssen. Nicht zuletzt dieser Strategie, einerseits von der statischen Beschreibung von Symptomen zur Analyse von Funktionen mentaler Abläufe fortzuschreiten und andererseits aber bewusst eine höhere Abstraktionsebene einzuhalten, als sie den Inhalten entsprechen würde, hat wohl dazu beigetragen, dass Janzariks Befundanalysen und psychopathologische Konzepte eine solch frappante Entsprechung in der modernen experimentellen neuropsychologischen Forschung erfahren konnten.

Janzariks Werk wird daher zusammen mit den experimentell geprägten Psychotherapieschulen, die damit auch verfeinerte Psychopathologie betreiben, in Zukunft außerordentlich wichtig bleiben für den Brückenschlag von der experimentellen psychopathologischen Forschung zur klinisch anschaulichen und den Zusammenhang mit dem einzufühlenden Selbsterleben der Patienten herausarbeitenden Psychopathologie.

Christoph Mundt, HeidelbergHenning Sass, Aachen
im Juni 2004

Literatur

  • 1 Mundt C, Sass H. (Hrsg) .Für und Wider die Einheitspsychose. Stuttgart: Thieme 1992

Prof. Dr. med. Ch. Mundt

Psychiatrische Universitätsklinik

Voss-Straße 2

69115 Heidelberg

Email: christoph_mundt@med.uni-heidelberg.de