Suchttherapie 2003; 4(1): 25-27
DOI: 10.1055/s-2003-38100
Kasuistik
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Symptomatische Epilepsie als Ausschlusskriterium für die Aufnahme in das Modellprojekt heroingestützte Behandlung - Grenzen einer Studienbehandlung

Symptomatic Epilepsy as an Exclusion Criterion for the Admission to the Model Project of Heroin Based Treatment - Limitations of Study TreatmentPeter Deibler1 , Eva Kleinemeier2 , Alex Frick1
  • 1AWO-Ambulanz Karlsruhe
  • 2Zentrum für Interdisziplinäre Suchtforschung (ZIS) der Universität Hamburg
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Eva Kleinemeier

Zentrum für Interdisziplinäre Suchtforschung (ZIS) der Universität Hamburg, Universitätsklinikum Eppendorf

Martinistraße 52

20246 Hamburg

Email: kleineme@uke.uni-hamburg.de

Publication History

Publication Date:
20 March 2003 (online)

Table of Contents #

Zusammenfassung

Es werden die Krankheits- und Suchtgeschichte eines opiatabhängigen Mannes dargestellt, der sich für die Teilnahme am Modellprojekt zur heroingestützten Behandlung in der AWO-Ambulanz in Karlsruhe beworben hat. Obwohl der Patient alle Einschlusskriterien für die Studie erfüllte, war eine Teilnahme nicht möglich, da er an einer symptomatischen Epilepsie leidet und somit ein Ausschlusskriterium für die Teilnahme an der Studie vorlag. Die Epilepsie ist Folge eines ausgedehnten Hirnabszesses, der sich ausgehend von einem Spritzenabszess am Hals entwickelt hat. Eine kontrollierte heroingestützte Behandlung könnte in der Zukunft bei diesem Patienten nach vielen erfolglosen Therapieversuchen erfolgreich sein.

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Abstract

The case history of an opiate dependent male patient will be presented who applied for admission to the model project of heroin based treatment at the AWO outpatient clinic in Karlsruhe. Although the patient fulfilled all inclusion criteria required by the study design, his admission had to be declined because he suffers from symptomatic epilepsy which is an exclusion criterion for participation in the study. The epilepsy was caused by an extended cerebral abscess which developed from an abscess in the cervical part caused by injecting. The patient could profit in the future from this new treatment after numerous failed treatment attempts.

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Einleitung

Das Ziel der Studie zur heroingestützten Behandlung ist zu untersuchen, ob mit der medizinischen Verordnung von pharmakologisch reinem Heroin bestimmte Gruppen von Heroinabhängigen unterschiedliche Behandlungsziele eher erreichen als mit den bisherigen Standardbehandlungen der Suchttherapie. Ziele einer suchttherapeutischen Behandlung sind u. a. die Verbesserung des gesundheitlichen, psychischen und sozialen Zustands sowie die Integration in das Hilfesystem, die Reduktion des Konsums illegaler Drogen und auch die Überwindung der Abhängigkeit. Die Studie richtet sich an zwei unterschiedliche Zielgruppen: an „Methadon-Substituierte”, die von der Substitution nicht hinreichend profitieren, und an „Nicht-Erreichte”, also Heroinabhängige, die mit dem vorhandenen Therapieangebot bisher nicht ausreichend versorgt und behandelt werden konnten. Es gibt eine Reihe von Einschlusskriterien, die von den Studienteilnehmern erfüllt werden müssen, aber auch Ausschlusskriterien, die eine Teilnahme an der Studie unmöglich machen.

Die folgende Kasuistik zeigt, dass im Rahmen einer Arzneimittelstudie Grenzen bestehen und potenzielle Patienten nicht in die Studie eingeschlossen werden können, obwohl Sucht- und Krankengeschichte zeigen, dass alle vorhandenen Behandlungsmöglichkeiten ohne Erfolg auf die oben beschriebenen Ziele ausgeschöpft wurden.

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Kasuistik

Herr J., ein 31-jähriger Mann, der seit vielen Jahren heroinabhängig ist, bewarb sich für die Teilnahme an dem Modellprojekt zur heroingestützten Behandlung in der AWO-Ambulanz in Karlsruhe als „Methadon-Substituierter”. Bei Erfüllung aller Einschlusskriterien lag das Ausschlusskriterium Epilepsie vor, weshalb eine Teilnahme letztlich nicht möglich war.

Die Epilepsie ist direkte Folge eines hochriskanten Konsummusters. Aufgrund des intravenösen Drogenkonsums war es zu einem Spritzenabszess am Hals gekommen, der zu einem ausgedehnten Hirnabszess mit akuter linksseitiger Hemiparese führte. Auch nach dieser schweren Erkrankung gelang es dem Patienten nicht, sein Konsumverhalten zu ändern, so dass weiterhin Hautinfektionen auftreten und ein hohes Risiko für neue Komplikationen besteht.

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Suchtanamnese

Herr J. konsumiert seit seinem 17. Lebensjahr regelmäßig intravenös Heroin, seit dem 20. Lebensjahr besteht zusätzlicher Kokainkonsum. Aktuell nimmt er beide Substanzen vorrangig als so genannten Cocktail zu sich, d. h. eine Mischung aus Heroin und Kokain. Herr J. hat bereits viele Abstinenzversuche in unterschiedlichen Behandlungssettings unternommen. So hat er ca. 30 Selbstentzüge versucht und sich in vier qualifizierte stationäre Entzüge und drei Entwöhnungsbehandlungen begeben, von denen er nur die letzte 1999 regulär nach 10 Monaten abschloss. Die Rückfälle erfolgten jeweils prompt. Auch der Versuch, in einer christlich orientierten Selbsthilfeeinrichtung Fuß zu fassen, scheiterte 1997.

Herr J. befand sich seit 1995 immer wieder in Substitutionsbehandlungen mit Methadondosen zwischen 70 und 90 mg. Während der Substitution gab es regelmäßigen Beikonsum von Straßenheroin und Kokain überwiegend in der Form von Cocktails. Als Begründung hierfür gab er Müdigkeit, Antriebslosigkeit und depressive Verstimmungen an. Um die beschriebenen Beschwerden zu lindern und ein heroinartiges Anflutungserlebnis zu haben, ging er dazu über, das für den Trinkgebrauch präparierte Methadon zu injizieren. Wegen des kontinuierlich hohen Beikonsums kam es zu mehreren Praxiswechseln. Die Behandlung war zudem durch Inhaftierungen und die o. g. Entzüge und Therapieversuche unterbrochen. Seit September 2001 befindet sich Herr J. wieder in Substitutionsbehandlung mit einem hohen Beikonsum.

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Konsumbedingte Komplikationen

Das Konsumverhalten von Herrn J. ist als sehr riskant zu bewerten, da er sich alle Substanzen i. v. verabreicht. Durch Injektion insbesondere von Cocktails sowie von nicht injizierbarem präparierten Methadon kam es immer wieder zu Hautabszessen, von denen insgesamt fünf chirurgisch behandelt werden mussten.

Während einer Inhaftierung im Mai 1999 erfolgte aufgrund eines hühnereigroßen Spritzenabszesses an der linken Halsseite eine Abszessspaltung im Justizvollzugskrankenhaus. Zurück in U-Haft entwickelte er zwei Wochen später einen Meningismus, trübte ein und zeigte eine linksseitige Hemiparese. In der neurochirurgischen Abteilung des Klinikums Ludwigsburg fand sich im CCT ein großer rechtsparietaler Hirnabszess mit kompletter Kompression des rechten Seitenventrikels und deutlicher Mittellinienverlagerung (Abb. [1]). Nach notfallmäßiger Drainage wurde eine 4fach-Antibiotikabehandlung u. a. mit Gentamycin eingeleitet. Eine seither bestehende linksseitige Innenohrschwerhörigkeit könnte durchaus auf die notwendige Gentamycintherapie zurückzuführen sein.

Die Hemisymptomatik bildete sich zwar zurück, Herr J. leidet aber seitdem an symptomatischer Epilepsie. Aufgrund mehrfacher generalisierter zerebraler Krampfanfälle wurde eine Behandlung mit Carbamazepin begonnen. Als sich hierunter zwei weitere Grand-mal-Anfälle ereigneten, wurde die Therapie um Valproat erweitert. Zehn Monate nach der schweren Erkrankung begann Herr J., wieder Heroin zu konsumieren. Aufgrund der unregelmäßigen antikonvulsiven Behandlung kam es zu einer Reihe weiterer Krampfanfälle.

Zoom Image

Abb. 1 Computertomographische Darstellung mittels Kontrastmittel: rechtsparietal deutlich abgegrenzter Hirnabszess.

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Situation des Patienten bei der Anmeldung für das Modellprojekt

Er wurde wegen Methadonunverträglichkeit auf Polamidon® umgestellt. Die Tagesdosis beträgt 70 mg, was 140 mg Methadon entspricht. Der behandelnde Arzt ist nicht darüber informiert, dass der Patient das leichter zu injizierende Polamidon® intravenös konsumiert. Bei einer begrenzten Take-home-Regelung injiziert er derzeit das Polamidon® mehrfach in der Woche. Herr J. konsumiert täglich Heroin und an ca. fünf Tagen im Monat zusätzlich Kokain i. v. Die derzeitige antikonvulsive Monotherapie mit Carbamazepin wird vom substituierenden Arzt überwacht. Seit sieben Monaten sind keine weiteren Krampfanfälle aufgetreten. Der allgemeine körperliche und psychische Gesundheitszustand wurde als sehr schlecht beurteilt.

Die sozialen Kontakte von Herrn J. sind auf Menschen aus der Drogenszene beschränkt. Er wohnt mit seiner ebenfalls opiatabhängigen Lebensgefährtin zusammen, die ein Kind von ihm erwartet. Er hat mehrere Ausbildungen begonnen, jedoch keine abgeschlossen. Sein längstes Beschäftigungsverhältnis war die Tätigkeit während des Zivildienstes. Den Hauptlebensunterhalt bezieht Herr J. über Sozialhilfe. Den Drogenkonsum finanziert er über gelegentliche Schwarzarbeit und Diebstähle.

Obwohl der Patient die Einschlusskriterien für die Studienbehandlung erfüllt, ist es aufgrund der symptomatischen Epilepsie nicht möglich, Herrn J. in die Studie einzuschließen. Er reagierte darauf enttäuscht und verständnislos. Bei einer aktuellen Nachfrage befand er sich weiter in Substitutionsbehandlung mit Polamidon®. Sein Konsummuster habe sich nicht geändert, es bestünden weiterhin erhebliche Injektionsprobleme. Schwerere Hautinfekte seien nicht aufgetreten. Er klagte über Antriebslosigkeit und depressive Verstimmungen, die er auf seine allgemeine Perspektivlosigkeit zurückführte.

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Diskussion

Herr J. leidet unter einem schlechten Gesundheitszustand und es liegt gemäß den Leitlinien der Bundesärztekammer ein eindeutig negativer Verlauf der Substitutionsbehandlung vor [1]. Die Substitutionsbehandlung besteht seit mehr als sechs Monaten und die vorgeschriebene Mindestdosis von 60 mg Methadon ist gewährleistet. Der Patient erfüllt auch alle anderen Einschlusskriterien der Studie, leidet aber an einer symptomatischen Epilepsie. Diese ist eine direkte Folge des hochriskanten Konsumverhaltens unter illegalen Bedingungen. Bei Fortbestehen des beschriebenen Konsummusters muss trotz einer gewissen Stabilisierung unter Polamidonsubstitution weiterhin von einem hohen Komplikationsrisiko ausgegangen werden.

Herr J. hat eine langjährige, trotz häufiger Neuanfänge letztlich negativ verlaufende Substitutionstherapie mit Methadon und Polamidon® hinter sich. Bei ihm ist derzeit keine Motivation für ein abstinenzorientiertes Therapieverfahren vorhanden. Wenn das Verfahren der heroingestützten Behandlung für ihn verfügbar wäre, ließe sich in dem geschilderten Fall sicherlich eine Indikation dafür stellen. Das Risiko erneuter Hautabszesse könnte durch die Injektion von reinem injizierbaren Heroin unter hygienisch einwandfreien Bedingungen drastisch reduziert werden. In der Literatur werden neben unhygienischen Injektionsbedingungen auch andere injektionsbedingte Risikofaktoren für Hautabszesse angegeben. Gerade die Injektion der Cocktails kann zu Abszessen führen. Grund hierfür ist eine starke vasokonstriktorische Wirkung von Kokain, die Gewebsnekrosen verursacht und zudem die lokale Immunabwehr beeinträchtigt [2] [3]. Auch die subkutane Injektion von Drogen stellt einen Risikofaktor für Hautabszesse dar [4]. Bei schlechten Venenverhältnissen kommt es häufig zu subkutanen Injektionen, wenn das Gefäß nicht getroffen wird.

Hautabszesse sind wiederum gefährliche Infektherde, die wie im geschilderten Fall durch eine Bakteriämie zu Abszedierungen in anderen Körperregionen führen können, die aber auch in der Lage sind, über immunologische Phänomene Glomerulonephritiden und rheumatisches Fieber zu verursachen [5].

Bei einer heroingestützten Behandlung würde Herr J. auch mehrfach täglich das Behandlungszentrum aufsuchen, was in Hinblick auf das Anfallsleiden engmaschige Kontrollen und damit mehr Sicherheit für den Patienten ermöglichen würde.

Es ist aber aus ethischen Gründen nicht möglich, Patienten mit einer schweren chronischen Erkrankung wie der Epilepsie mit einem bislang experimentellen Therapieverfahren zu behandeln.

Dies liegt insbesondere daran, dass Opiate generell die Krampfschwelle senken. Außerdem können im Entzug, der sich vor allem in der Eindosierungsphase nicht immer vermeiden lässt, Krampfanfälle auftreten.

Eine Aufnahme in die Studie ist aus den genannten Gründen also nicht möglich. Es ist jedoch nach aktuellem Wissensstand und auch im Hinblick auf andere Opiate, die in der Substitutionsbehandlung verwendet werden, davon auszugehen, dass Epilepsie keine Kontraindikation für eine heroingestützte Regelbehandlung darstellen würde.

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Literatur

  • 1 Bundesärztekammer. Leitlinien der Bundesärztekammer zur Substitutionstherapie Opiatabhängiger.  Deutsches Ärzteblatt. 1997;  94 401-403
  • 2 Spijkerman I JB, van Ameijden E JC, Mientjes G HC. et al . Human immunodeficiency virus infection and other risk factors for skin abscesses and endocarditis among injection drug user.  Journal of Clinical Epidemiology. 1996;  49 (10) 1149-1154
  • 3 Bergstein J M, Baker E J, Aprahamian C. et al . Soft tissues abscesses associated with drug abuse: Presentation, microbiology and treatment.  The American Surgeon. 1995;  12 (61) 1105-1108
  • 4 Murphy E L, DeVita D, Lui H. et al . Risk factors for skin and soft tissue abscesses among injection drug users: A case-control study.  The Journal of Infection Diseases. 2001;  33 35-40
  • 5 Probst W, Blumberg A. Glomerulonephritis in chronical bacterial infections.  Schweizerische Medizinische Wochenschrift. 1987;  17 (8) 265-269

Eva Kleinemeier

Zentrum für Interdisziplinäre Suchtforschung (ZIS) der Universität Hamburg, Universitätsklinikum Eppendorf

Martinistraße 52

20246 Hamburg

Email: kleineme@uke.uni-hamburg.de

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Literatur

  • 1 Bundesärztekammer. Leitlinien der Bundesärztekammer zur Substitutionstherapie Opiatabhängiger.  Deutsches Ärzteblatt. 1997;  94 401-403
  • 2 Spijkerman I JB, van Ameijden E JC, Mientjes G HC. et al . Human immunodeficiency virus infection and other risk factors for skin abscesses and endocarditis among injection drug user.  Journal of Clinical Epidemiology. 1996;  49 (10) 1149-1154
  • 3 Bergstein J M, Baker E J, Aprahamian C. et al . Soft tissues abscesses associated with drug abuse: Presentation, microbiology and treatment.  The American Surgeon. 1995;  12 (61) 1105-1108
  • 4 Murphy E L, DeVita D, Lui H. et al . Risk factors for skin and soft tissue abscesses among injection drug users: A case-control study.  The Journal of Infection Diseases. 2001;  33 35-40
  • 5 Probst W, Blumberg A. Glomerulonephritis in chronical bacterial infections.  Schweizerische Medizinische Wochenschrift. 1987;  17 (8) 265-269

Eva Kleinemeier

Zentrum für Interdisziplinäre Suchtforschung (ZIS) der Universität Hamburg, Universitätsklinikum Eppendorf

Martinistraße 52

20246 Hamburg

Email: kleineme@uke.uni-hamburg.de

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Abb. 1 Computertomographische Darstellung mittels Kontrastmittel: rechtsparietal deutlich abgegrenzter Hirnabszess.