Rehabilitation (Stuttg) 2002; 41(1): 40-47
DOI: 10.1055/s-2002-19955
Originalarbeit
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Schnittstellen in der Rehabilitation - Drei Modelle

Interfaces in Rehabilitation: Three ModelsS.  Winge, A.  Mohs, K.  Müller, L.  Nörenberg, L.  Pannicke, B.-P.  Robra
  • 1Forschungsverbund Rehabilitationswissenschaften Sachsen-Anhalt/Mecklenburg-Vorpommern, Halle/Saale
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Publication Date:
06 February 2002 (online)

Zusammenfassung

Schnittstellen können Störungen im Versorgungsablauf verursachen. Sie können aber auch als Zeichen eines ausdifferenzierten und arbeitsteilig spezialisierten Versorgungssystems angesehen werden. Drei Modelle zur Beschreibung von Schnittstellen werden dargelegt und verglichen: ein an der Kontinuität der Versorgung des Individuums orientiertes lineares Modell, das aus der Vertragstheorie stammende Principal-Agent-Modell (PA) und ein komplexes Systemmodell. Als wesentliche Schnittstellen-Funktionen werden in allen drei Modellen Kopplung und Informationsmanagement identifiziert. Im Hinblick auf Optimierungsmöglichkeiten führen das lineare Modell zum Konzept des Case-Managements, das PA-Modell zu integrierten Versorgungsformen und die Systemtheorie zur Kontextsteuerung.

Abstract

Interfaces can cause disruptions in the care provision process. They can, however, also signify a differentiated and specialized division of labour of the care providing system. Three models for the description of interfaces are presented and compared: a linear model oriented towards the continuity of the provision of care for individuals, the Principal Agent (PA) Model from contract theory, and a complex systems model. In all three models coupling and information management are identified as essential interface functions. In regard to optimisation possibilities, the linear model leads to the case-management concept, the PA Model to integrated forms of provision and systems theory to context controlling.

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1 § 10 SGB I: „Wer körperlich, geistig oder seelisch behindert ist oder wem eine solche Behinderung droht, hat unabhängig von der Ursache der Behinderung ein Recht auf die Hilfe, die notwendig ist um:

1 - die Behinderung abzuwenden, zu beseitigen, zu bessern,
ihre Verschlimmerung zu verhüten oder ihre Folgen zu mildern,

1 - ihm einen seinen Neigungen und Fähigkeiten entsprechenden
Platz in der Gemeinschaft, insbesondere im Arbeitsleben,
zu sichern.”

2 Case-Management ist „(...) ein Verfahren, Dienstleistungen patientenorientiert zusammenzustellen, gleichzeitig aber auch eine Methode, die einen mehrstufigen Prozess der Bedarfsermittlung, Zieldefinition (Outreach und Assessment), Organisation des Unterstützungsprozesses (Planning und Monitoring) und Evaluation der professionellen und informellen Hilfen vorsieht” (nach [30]).

3 Diese Funktion wird durch die gesetzliche Rentenversicherung als Reha-Träger übernommen, siehe Diskussion.

4 Dazu gehören außer Patient und Hausarzt der Arzt in der Akutklinik, niedergelassene Fachärzte, Gutachter und weitere Mitarbeiter der Rentenversicherung, Mitarbeiter anderer Kostenträger (wie z. B. Krankenkassen, Arbeitsamt, Sozialamt), Ärzte und andere Mitarbeiter in den Reha-Kliniken, Mitarbeiter teilstationärer und ambulanter Reha-Einrichtungen, Berufsförderungswerke, Berufsbildungswerke, Werkstätten für Behinderte, die Familie sowie Bereiche der Arbeitswelt und Selbsthilfegruppen. Sie alle können im Versorgungsverlauf eines einzelnen Patienten ihren Teil zur Koordination der Leistungen und zum Resultat beitragen und an Meta-Kommunikationen über Struktur, Prozess und Ergebnisse der ganzen Kette beteiligt sein.

5 Siehe Wesche [32] für eine Skizze der Reha-Kette in der gesetzlichen Unfallversicherung.

6 Vgl. [16] und „Der Medizinische Code” in [19].

7 „Von sozialen Systemen kann man immer dann sprechen, wenn Handlungen mehrerer Personen sinnhaft aufeinander bezogen werden und dadurch in ihrem Zusammenhang abgrenzbar sind von einer nicht dazugehörigen Umwelt” (Luhmann zit. nach [31], S. 30).

8 Soziale Systeme lassen sich auf verschiedenen Ebenen (Referenzebenen) betrachten: Jedes System kann in Subsysteme zerlegt werden, die auch zu Bezugsebenen werden können. Subsystembildung ist demnach Wiederholung der Systembildung in Systemen. Ein System bringt somit interne System-/Umwelt-Differenzen hervor. „Das bedeutet, dass innerhalb eines Systems andere Teilsysteme des Gesamtsystems in der Umwelt des jeweiligen Teilsystems vorkommen und dass das Gesamtsystem damit die Funktion einer internen Umwelt für die Teilsysteme, und zwar für jedes Teilsystem in je spezifischer Weise gewinnt” ([14], S. 112).

9 „Rehabilitation umfasst alle Maßnahmen, die das Ziel haben, den Einfluss von Bedingungen, die zu Einschränkungen oder Benachteiligungen führen, abzuschwächen und die eingeschränkten und benachteiligten Personen zu befähigen, eine soziale Integration zu erreichen. Rehabilitation zielt nicht nur darauf ab, eingeschränkte und benachteiligte Personen zu befähigen, sich ihrer Umwelt anzupassen, sondern auch darauf, in ihre unmittelbare Umgebung und die Gesellschaft als Ganzes einzugreifen, um ihre soziale Integration zu erleichtern” (WHO, zit. nach [11], S. 37). Weniger weitreichend § 10 SGB I (s. Fn. 1).

10 § 10 SGB VI.

11 Nicht alle Zusammenhänge und Wechselbeziehungen innerhalb komplexer Systeme können vom Betrachter erfasst werden. Deshalb ist es notwendig - in Orientierung an der Fragestellung - einen Bezugsrahmen herzustellen, der das System sinnvoll abgrenzt. So können z. B. aus der Perspektive der Leistungserbringer andere Bezüge, Schnittstellen und Optimierungsaufgaben hervortreten als aus der Sicht von Selbsthilfegruppen.

12 Auch wenn Krankheit oder Behinderung Vorbedingung für Reha-Leistungen der Rentenversicherung sind (§ 9 SGB VI), sprechen Rechtsbegriffe wie Rechtsanspruch (§ 38 SGB I), Leistungsvoraussetzungen oder Leistungsausschluss (§§ 9 ff. SGB VI) sowie Verfahrensordnungen im Reha-System für eine Dominanz der sozialen Sicherung über das medizinische System.

13 Aus Sicht der Systemtheorie sind Verträge strukturelle Kopplungen ([17], S. 443 ff.).

14 Eine systemische Unvereinbarkeit von Rehabilitation und kurativem Medizinsystem mag zunächst erstaunen. Denn das Reha-System gehört aus Sicht vieler Mediziner auf den ersten Blick dem Medizinsystem an. Betrachtet man aber die Aufgaben der Rehabilitation unter dem Blickwinkel der sozialen Sicherung, erscheint eine Einordnung des Reha-Systems in das Wohlfahrtssystem (oder das System der sozialen Sicherung, [8]) mindestens ebenso sinnvoll. Die Gemeinsamkeiten zwischen der Rentenversicherung als Reha-Träger und der gesetzlichen Krankenversicherung werden leichter erkennbar, wenn man beide als Subsysteme der sozialen Sicherung auffasst (der Auftrag der gesetzlichen Krankenversicherung ist, Krankenversicherungsleistungen bereitzustellen).

15 Mayntz und Scharpf [20] bescheinigen der autopoietischen Systemtheorie „Steuerungspessimismus”.

Dipl.-Soz. Susanne Winge

Forschungsverbund Rehabilitationswissenschaften S-A/M-VP
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Medizinische Soziologie

Harz 42-44
06097 Halle/Saale

Email: reha-verbund.geschaeftsstelle@medizin.uni-halle.de

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