Psychiatr Prax 2001; 28(8): 361-364
DOI: 10.1055/s-2001-18617
EDITORIAL
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Die deutsche Psychiatrie - aus London gesehen

German Psychiatry - A London PerspectiveStefan Priebe
  • Unit for Social & Community Psych., Barts and the London School of Medicine, London
Further Information

Prof. Dr. Stefan Priebe

Barts and the London School of Medicine

West Smithfield
London EC1A 7BE, U.K.

Email: S.Priebe@qmw.ac.uk

Publication History

Publication Date:
26 November 2001 (online)

Table of Contents

Will man die gegenwärtige deutsche Psychiatrie bewerten, braucht man einen Maßstab zum Vergleich. Der Vergleich mit der Situation in einem anderen Land ist der Ansatz dieses Beitrages. Er beruht auf mehrjährigen Erfahrungen des Autors in der praktischen Gestaltung psychiatrischer Versorgung und in der akademischen Psychiatrie in Berlin und London sowie auf Erfahrungen mit nationalen psychiatrischen Initiativen in beiden Ländern.

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Psychiatrie in England

Es ist unmöglich, in einem Editorial die englische Psychiatrie angemessen darzustellen und einem mit dem System nicht vertrauten Leser verständlich zu erläutern [1]. Deshalb sollen hier nur schlaglichtartig einige Aspekte angesprochen werden, um dann davon ausgehend die Außenperspektive auf die deutsche Psychiatrie vornehmen zu können.

England hat ein staatliches Gesundheitssystem, das allein von Steuergeldern finanziert wird. Die jeweilige Regierung trägt die Verantwortung für die Qualität des Systems. Das Interesse der Öffentlichkeit und der Medien an der Gesundheitsversorgung ist sehr hoch, und bei der Parlamentswahl im Jahr 2001 war die Sorge um den National Health Service (NHS) laut Umfragen wichtigster Gesichtspunkt für das Wahlverhalten. Unzulänglichkeiten des Systems, Ressourcenknappheit, gravierende Versäumnisse und ärztliche Kunstfehler finden sich daher häufig in den Schlagzeilen der Medien und werden schnell zum Politikum. Die Psychiatrie genießt dabei besondere Aufmerksamkeit, und Berichte über neue Behandlungsverfahren, vor allem aber über Tötungsdelikte psychisch Kranker, erscheinen auf den Frontseiten der Tagespresse. Psychiater leben ständig mit der Aussicht, persönlich ins Licht der Öffentlichkeit zu geraten, wenn z. B. ein von ihnen betreuter Patient ein Verbrechen begeht. In einem solchen Fall können sie namentlich in der Presse genannt werden, und zwar entweder unmittelbar nach dem Ereignis oder aber später, wenn ein öffentlicher Untersuchungsausschuss einen Bericht über das Ereignis publiziert [2]. In der Erwartung solcher Szenarien ist die psychiatrische Versorgung sehr auf die Verminderung von Risiken fokussiert, d. h. im Wesentlichen auf die Vermeidung von Suiziden und vor allem Tötungsdelikten psychisch Kranker, und dies, obwohl die Zahl dieser Delikte durch psychisch Kranke im Zuge der gemeindepsychiatrischen Reformen nachweisbar nicht zugenommen hat [3].

Das große Interesse an der Psychiatrie macht sie aber auch zu einer politischen Priorität, so dass sie neben der Onkologie und Kardiologie der dritte große Schwerpunkt nationaler Forschungsförderungsprogramme in der Medizin ist. Als wesentliche Aufgabe universitärer Forschung werden dabei auch Studien mit unmittelbarer Versorgungsrelevanz betrachtet, die zum großen Teil, aber nicht nur durch spezielle Forschungsgelder des NHS finanziert werden.

Insgesamt wird in England viel weniger Geld für die gesundheitliche und damit auch psychiatrische Versorgung ausgegeben als in jedem anderen westeuropäischen Land. Dadurch gibt es in fast allen Berufsgruppen deutlich weniger Stellen, die aber nicht einmal alle besetzt werden können. In allen Einrichtungen des NHS in England arbeiten zur Zeit in unterschiedlichen Voll- oder Teilzeitpositionen zusammengenommen etwa 2800 psychiatrische Fachärzte aller Spezialisierungen für die Versorgung von ca. 50 Millionen Einwohnern, und mehr als 350 weitere Stellen sind offiziell unbesetzt. Der eklatante Mangel an ausgebildeten Psychiatern, Krankenpflegekräften, Sozialarbeitern und klinischen Psychologen führt dazu, dass praktisch alle Einrichtungen ständig um Rekrutierung von Personal bemüht sind, um ihren Bestand bangen und häufige Personalwechsel bewältigen müssen.

Der Aufbau des Versorgungssystems ist klar gegliedert. Unterschieden wird zwischen einer primären, sekundären und tertiären Versorgung. Die primäre Versorgung wird ausschließlich von Hausärzten übernommen, die für alle Patienten erste Anlaufstelle sind und gegebenenfalls an die sekundäre Versorgung weiter verweisen können [4]. Alle Fachärzte sind in der sekundären Versorgung angesiedelt. Niedergelassene Fachärzte gibt es nicht. Die sekundäre psychiatrische Versorgung weist regionale Unterschiede auf. Zumeist sind multiprofessionelle gemeindepsychiatrische Teams die Eingangsstelle zu allen spezialisierten Einrichtungen und versorgen ein definiertes Einzugsgebiet, wobei ein psychiatrischer Facharzt für ein Gebiet von ungefähr 30 000 Einwohnern zuständig ist. Für die Patienten seines Einzugsbereiches ist der Psychiater durchgehend verantwortlich, d. h. er versorgt sie ambulant und stationär. Die tertiäre Versorgung bilden spezialisierte Einrichtungen, die für größere Einzugsgebiete arbeiten. Neben den gemeindepsychiatrischen Teams als Grundpfeiler des Systems werden zunehmend auch weitere Teams eingerichtet, die sich auf umgrenzte Aufgaben spezialisieren. Dazu gehören die Frühbehandlung von Patienten mit psychotischen Erkrankungen, die Akutbehandlung in der Umgebung des Patienten zur Vermeidung von Klinikaufnahmen und das sog. „assertive outreach”, d. h. das konsistente Aufsuchen von schwer kranken Patienten, die mit herkömmlichen Behandlungsansätzen nicht zu erreichen sind. Psychiater arbeiten mit ihren Teams relativ selbständig und tragen die medizinische Verantwortung für die Behandlung aller Patienten. In dieser Verantwortung werden sie auch regelhaft zur Rechenschaft gezogen und - wenn irgendetwas vermeintlich schiefgegangen ist - vor interne oder öffentliche Kommissionen zitiert, um ihr Handeln zu rechtfertigen. Die meisten Patienten in der sekundären Versorgung haben ein gesetzlich verankertes Anrecht auf regelmäßige Fallkonferenzen - d. h. als Minimum einmal jährlich und immer, wenn sich die Umstände des Patienten wie etwa bei einer Klinikentlassung ändern - an denen alle an der Behandlung Beteiligten einschließlich des Patienten selbst und seiner Angehörigen teilnehmen und sich auf einen schriftlichen Behandlungsplan einigen.

Die knappen Ressourcen werden in der englischen Versorgung vorrangig für die Versorgung von schwer und chronisch psychisch Kranken eingesetzt. Patienten mit nichtpsychotischen Störungen wird vergleichsweise weniger Aufmerksamkeit geschenkt, und ärztliche Psychotherapeuten sind selten. Das System ist zudem stark auf Effektivität und Effizienz ausgerichtet, und eine evidenzbasierte Medizin ist auch in der Psychiatrie allgemein gültiger Anspruch [5]. Ein nationales Institut für „clinical excellence” erstellt Therapierichtlinien, und nahezu alle Einrichtungen haben einen Beauftragten für klinische Effektivität und Qualität. In regelmäßigen „audits” (gemeinsame Qualitätsprüfungen durch die Beteiligten) wird überprüft, inwieweit die klinische Praxis mit anerkannten Standards und Richtlinien übereinstimmt.

Prinzipiell existiert auch eine private Versorgung in der Psychiatrie. So gibt es z. B. in der Londoner Harley Street eine Reihe von Psychiatern, die privat Patienten behandeln und auch in spezielle Kliniken einweisen können. Quantitativ hat dieser private Markt in der Psychiatrie aber eine sehr untergeordnete Bedeutung.

Im Vergleich zur Situation in England ist die deutsche Psychiatrie weder pauschal besser noch schlechter, sondern hat spezifische Vorzüge und Nachteile.

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Positive Merkmale der deutschen Psychiatrie

Deutschland gibt mehr Geld für gesundheitliche und psychiatrische Versorgung aus als andere europäische Länder. Das Erleben von in Deutschland tätigen Psychiatern mag von Sparmaßnahmen und Budgetkürzungen bestimmt sein, und Klagen über sich verschlechternde finanzielle Voraussetzungen scheinen weit verbreitet. Für einen Außenstehenden wird aber nach wie vor sehr viel Geld für die Psychiatrie und in ihr ausgegeben. Das macht sich in einer guten bis hervorragenden räumlichen Ausstattung der meisten Einrichtungen und vergleichsweise üppigen Personalplänen bemerkbar. Um die Stellen in den unterschiedlichen Berufssparten in der Psychiatrie zu besetzen, gibt es im Prinzip eine hinreichende Anzahl an qualifizierten Arbeitskräften, auch wenn es in jüngster Zeit schwerer geworden ist, ärztliche Stellen adäquat zu füllen. Ausbildung, Kompetenz und Fähigkeiten der Mitarbeiter variieren in Deutschland wie in jedem anderen Land auch, scheinen aber insgesamt recht hoch. Dies mag überraschend sein, da die formalen Ausbildungsanforderungen z. T. vergleichsweise niedrig wirken. Die Hürden, um psychiatrischer Facharzt zu werden, sind in England deutlich höher als in Deutschland. U. a. müssen zwei Prüfungen absolviert werden, bei denen jeweils und bei jedem Versuch nicht mehr als 55 % der Kandidaten bestehen. Unter diesen Voraussetzungen könnte man annehmen, deutsche Psychiater seien schlechter ausgebildet, was im Großen und Ganzen aber nicht zuzutreffen scheint. Der Erfolg deutscher Psychiater, die nach England gewechselt sind, mag ein Beleg dafür sein. Auch das therapeutische Engagement und der Einsatzwillen der Mitarbeiter in vielen Einrichtungen in Deutschland sind beeindruckend. Wenn Betroffenenvertreter in Deutschland anmahnen, Psychiater und anderes Personal würden zu wenig mit ihnen sprechen und sich für ihr Erleben interessieren, mögen sie zwar Recht haben, würden in vielen Einrichtungen Englands aber eine sehr viel beklagenswertere Situation vorfinden.

Auch für Patienten mit nichtpsychotischen Erkrankungen und leichteren psychischen Störungen existiert ein vielfältiges und ausgedehntes Angebot an Behandlungsmöglichkeiten. Dabei ist die Integration der Psychotherapie in der Psychiatrie weit gediehen, was nicht nur an den psychotherapeutischen Inhalten der psychiatrischen Kurrikula deutlich wird. Allgemein wird die Psychotherapie als essenzieller Bestandteil psychiatrischer Versorgung betrachtet.

Patienten wie auch Therapeuten haben zumeist Wahlmöglichkeiten. So können Patienten ihren Psychiater wechseln, was in England kaum möglich ist. Aber auch Psychiater können in der Regel die Behandlung von Patienten ablehnen, was das englische System ebenfalls nicht vorsieht. Für beide Seiten ergibt sich dadurch ein größerer Handlungsspielraum, der für die Gestaltung therapeutischer Beziehungen günstig sein kann. Schließlich ist die deutsche Psychiatrie auch - noch - wenig auf „Risiken” fokussiert, und die mögliche Gefährdung der öffentlichen Sicherheit durch psychisch Kranke spielt außerhalb der Forensik eine geringe Rolle und ist zumeist der therapeutischen Aufgabe deutlich untergeordnet. Da viele Einrichtungen um ihre Patienten gleichsam werben, sind sie vergleichsweise patientenfreundlich ausgerichtet. So sind die Annehmlichkeiten und Hotelleistungen der meisten psychiatrischen Krankenhäuser bzw. Abteilungen in Deutschland - nicht nur auf Privatstationen - ungleich besser als in England.

Bei so vielen Vorzügen muss es auch Kritikpunkte geben, und manche der oben genannten Aspekte haben eine unmittelbare negative Kehrseite.

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Negative Merkmale der deutschen Psychiatrie

Das deutsche psychiatrische Versorgungssystem ist stark fragmentiert. Es wird in Einzeleinrichtungen betrieben, die nicht Teile eines gesteuerten Gesamtsystems sind. Für Interventionen von unterschiedlichen Einrichtungen bei demselben Patienten gibt es kaum Koordination, und eine Kontinuität der Behandlung und Behandler über unterschiedliche Einrichtungen hinweg ist nicht vorgesehen. So hat auch niemand die wirkliche Verantwortung für psychiatrische Patienten eines Einzugsbereiches. Zwar haben Kliniken und niedergelassene Nervenärzte eine Verantwortung für die von ihnen unmittelbar behandelten Patienten, aber eben nur so lange wie diese Patienten der jeweiligen Einrichtung sind und nicht entlassen werden bzw. sich selbst entlassen. Sozialpsychiatrische Dienste haben eine Verantwortung für die Patienten in einem Einzugsbereich, diese erstreckt sich in der Regel aber auf soziale Betreuung und administrative Aufgaben und gerade nicht auf die medizinische Behandlung. Und schließlich haben an manchen Orten psychosoziale Arbeitsgemeinschaften die Aufgabe übernommen, Plätze im betreuten Wohnen bei unterschiedlichen Trägern zentral zu vergeben, aber dies ist eine Steuerung auf Gremienebene und nicht für die individuelle Behandlung. So bleiben die Verantwortlichkeiten unklar, und in der Praxis wird kaum jemals ein Psychiater für eine unzureichende Behandlung verantwortlich gemacht. Insbesondere Patienten mit schweren psychischen Störungen laufen in Deutschland Gefahr, durch das Netz der Angebote zu fallen und keine adäquate Behandlung zu erhalten, wenn sie eine solche nicht von sich aus aufsuchen können.

Noch scheint die deutsche psychiatrische Versorgung relativ wenig auf Effektivität ausgerichtet, und systematische Evaluationen sind äußerst rar. Auch wenn zunehmend eine evidenzbasierte Medizin gefordert wird, sind klinische Einzelentscheidungen häufig von ökonomischen Anreizen bestimmt. Kliniken müssen eine bestimmte Belegungsquote erreichen, was naturgemäß Entscheidungen über Aufnahmen und Entlassungen von Patienten beeinflusst, und niedergelassene Psychiater müssen, um ökonomisch zu überleben, ihre diagnostischen und therapeutischen Entscheidungen auch vom Abrechnungssystem abhängig machen. Auch die Planung von Versorgungseinrichtungen und gesundheitspolitische Entscheidungen werden von finanziellen Interessen der Träger, Krankenkassen, Pharmaindustrie und Berufsverteter bestimmt. Solche ökonomischen Anreize für bestimmte klinische Entscheidungen oder die Gestaltung von Versorgungsdiensten gibt es im staatlichen NHS Englands nicht, was rationale Entscheidungen im Sinne einer möglichst effektiven Versorgung wesentlich begünstigt.

Gemeindepsychiatrische Teams im eigentlichen Sinne gibt es in Deutschland kaum. Insbesondere fehlen aufsuchende therapeutische Dienste, und die Akutbehandlung außerhalb von Kliniken entwickelt sich allenfalls in Ansätzen.

Forschung mit unmittelbarer Versorgungsrelevanz, die sich nicht auf pharmakologische Behandlungen beschränkt, wird an deutschen Universitäten nur wenig betrieben. Es scheint geradezu einen Graben zu geben zwischen dem Selbstverständnis psychiatrischer Universitätseinrichtungen einerseits und einem versorgungsrelevanten Forschungsinteresse andererseits. Die damit verbundenen Spannungen wirken unverständlich, wenn man sie aus London betrachtet, wo Vertreter biologischer und sozialpsychiatrischer Forschung gut miteinander leben und kooperieren. In der wissenschaftlichen Sozialpsychiatrie scheint in Deutschland derzeit eine hinreichende kritische Masse zu fehlen, die Expertise und Innovation fördern. Das Fehlen universitärer Kompetenz in der Versorgungsforschung hat in Deutschland u. a. zur Etablierung verschiedener privater Institute geführt, die gut davon leben, Auftragsforschung mit oft zweifelhaftem wissenschaftlichen Wert zu betreiben. Solche Institute existieren in England nicht, und die entsprechenden Förderungsgelder werden in universitärer Forschung genutzt. Hinderlich in Deutschland scheint zudem die unklare Trennung von Versorgungs- und Forschungsaufgaben der Universitätskliniken und der Professoren, was aber kein Spezifikum der Psychiatrie ist.

Schließlich ist das deutsche Versorgungssystem wenig flexibel im Vergleich zu einem staatlichen, bei dem die Regierung Entscheidungsvollmachten besitzt und - mit Einschränkungen - ihre Entscheidungen auch relativ rasch umsetzen kann. Während das englische System nahezu ununterbrochen Umorganisationen ausgesetzt ist, sind in Deutschland gesundheitspolitische Prozesse eher langwierig und tatsächliche Veränderungen in der Balance verschiedener Lobbyinteressen schwer zu erreichen, zumal die Länderhoheit im Gesundheits- und Hochschulwesen übergreifende Entscheidungsprozesse zusätzlich kompliziert. Während in England die praktische Umsetzung der hochfrequenten politischen Reformpläne das Gesundheitssystem ständig beschäftigen und die darin Tätigen zum Teil entmutigen, erscheint das deutsche System rigide und zäh angesichts der Schwierigkeiten, überhaupt zu gültigen Entscheidungen zu kommen und den erforderlichen Konsens für reale Veränderungen zu erreichen.

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Reputation deutscher Psychiatrie

Wer als deutscher Psychiater im anglophonen Ausland arbeitet, kann eine überraschende Erfahrung machen: Man wird als Vertreter der deutschen Psychiatrie oft mit unerwartet großer Achtung behandelt. Die Tradition deutscher Psychiatrie wird hoch geschätzt, und der deutsche Akzent wird von vielen Kollegen und Patienten als Gütemerkmal verstanden. Entsprechend haben seit Sigmund Freud gute Psychiater in vielen englischen Filmen einen deutschen Akzent. Dieser Respekt mag z. T. auf einer hohen Meinung über generell gute Ausbildungen in Deutschland und die Gründlichkeit deutschen Vorgehens beruhen, hat sicher aber auch spezifische Gründe. Von einem in Deutschland ausgebildeten Psychiater wird häufig erwartet, dass er weiß, in welcher Auflage der Bücher von Kraepelin, Schneider oder Jaspers welche Zitate vorkommen. Deutschen Psychiatern wird oft unterstellt, sich um ein tiefgreifendes Verständnis ihrer Patienten zu bemühen und über eine besondere Expertise in Psychopathologie, Phänomenologie und Nosologie zu verfügen.

Aus dieser Reputation ergeben sich mögliche besondere Erwartungen an die deutsche Psychiatrie, nämlich dass die deutsche Psychiatrie wissenschaftlich nicht nur amerikanischen Konzepten folgt, sondern im internationalen Zusammenspiel nationaler Forschungen auch einige der eigenen Traditionen aufgreift. Dazu gehören u. a. die besondere Berücksichtigung von Psychopathologie und Phänomenologie. Auch Weiterentwicklungen in der Nosologie, Theorienbildung und konzeptionelle Innovationen werden im angloamerikanischen Raum wahrscheinlich mit einem Bonus versehen, wenn sie aus der deutschen Psychiatrie kommen.

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Abschließende Bemerkung

Die geschilderte Beurteilung entspricht nicht nur einer Sicht aus London, sondern spiegelt sicher auch die Subjektivität des Betrachters wider, und zwar sowohl bezüglich der Wahrnehmung der deutschen und englischen Psychiatrie als auch der vergleichenden Bewertung. Der Vergleich beschränkte sich auf wenige kontrastierende Phänomene, die zum großen Teil in herkömmlichen Datenvergleichen nicht erfasst werden und sich der Betrachtung mit bisher etablierten Forschungsmethoden entziehen. Der unterschiedliche historische, kulturelle, soziale und politische Kontext, in den die Psychiatrie in beiden Ländern eingebettet ist, blieb dabei unberücksichtigt.

Der Vergleich zeigt relative Stärken und Schwächen der deutschen Psychiatrie auf. Möglicherweise kann eine solche Außenperspektive nicht nur dazu beitragen, über die Verbesserung von Schwachpunkten nachzudenken, sondern vor allem auch dabei helfen, Positivseiten deutlicher zu erkennen und im immer bedeutender werdenden internationalen Austausch zu nutzen.

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Literatur

  • 1 Becker T. Gemeindepsychiatrie. Entwicklungsstand in England und Implikationen für Deutschland. Stuttgart; Thieme 1998
  • 2 Szmukler G. Homicide inquiries. What sense do they make?.  Psychiatric Bulletin. 2000;  24 6-10
  • 3 Taylor P J, Gunn J. Homicides by people with mental illness: myth and reality.  British Journal of Psychiatry. 1999;  174 9-14
  • 4 Goldberg D, Huxley P. Mental illness in the community: The pathway to psychiatric care. London, New York; Tavistock 1980
  • 5 Department of Health .A National Service Framework for mental health. Modern standards and service models. London; HMSO 1999

Prof. Dr. Stefan Priebe

Barts and the London School of Medicine

West Smithfield
London EC1A 7BE, U.K.

Email: S.Priebe@qmw.ac.uk

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Literatur

  • 1 Becker T. Gemeindepsychiatrie. Entwicklungsstand in England und Implikationen für Deutschland. Stuttgart; Thieme 1998
  • 2 Szmukler G. Homicide inquiries. What sense do they make?.  Psychiatric Bulletin. 2000;  24 6-10
  • 3 Taylor P J, Gunn J. Homicides by people with mental illness: myth and reality.  British Journal of Psychiatry. 1999;  174 9-14
  • 4 Goldberg D, Huxley P. Mental illness in the community: The pathway to psychiatric care. London, New York; Tavistock 1980
  • 5 Department of Health .A National Service Framework for mental health. Modern standards and service models. London; HMSO 1999

Prof. Dr. Stefan Priebe

Barts and the London School of Medicine

West Smithfield
London EC1A 7BE, U.K.

Email: S.Priebe@qmw.ac.uk