Fortschr Neurol Psychiatr 2001; 69(9): 389-390
DOI: 10.1055/s-2001-16958
EDITORIAL
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Leitlinige Neurologie · Psychiatrie

U. H. Peters
  • Universitäts-Nervenklinik, Köln
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Publication Date:
03 September 2001 (online)

Überall wird fleißig an Leitlinien gearbeitet sowie an Leitlinien zur Erarbeitung von Leitlinien. In diesem Heft untersuchen Härter et al. anhand von Leitlinien für Leitlinien die bisherigen Leitlinien für das Erkennen und Behandeln von Depressionen. Ergebnis: keine entspricht den Leitlinien-Leitlinien der AWMF (Arbeitsgemeinschaft Wissenschaftlicher Medizinischer Fachgesellschaften).

Diese Welle aus dem Führungsland aller Wissenschaften ist über uns gekommen, ohne dass zuvor mit deutscher Gründlichkeit Grundlagen und mögliche Folgen erörtert worden wären. Uns fehlt daher eine Leitschnur dafür. Denn „der gemeine Verstand hat einen festen Punkt, um die Leitschnur seiner Begriffe daran zu knüpfen” (Imanuel Kant). Aber das lässt sich vielleicht nachholen. Nicht als neue Leitlinie, sondern als Anregung zur Diskussion sind daher die folgenden Zeilen zu „Woher” und „Wohin” gedacht.

Es könnte zunächst diskutiert werden, wer überhaupt befugt ist oder befugt werden kann, Leitlinien zu formulieren. Wissenschaftliche Gesellschaften? Wenn ja, welche? Es gibt zahlreiche und sie konkurrieren miteinander. Gibt es eine, welche ihr Fach völlig repräsentiert? Sind wissenschaftliche Gesellschaften nicht doch nur Interessenverbände? Wäre die Politik besser befugt? Die Bundesregierung hat Richtlinien-Kompetenz in Sachen Gesundheit, das ist mehr als Leitlinienkompetenz. Politiker und ihre Bürokraten brauchen dazu jedoch ihre „Experten”. Aber wen holen sie sich?

Wenigstens die philosophischen Grundsätze scheinen klar zu sein. Leitlinien sollen auf „wissenschaftlicher Evidenz” beruhen, sollen „evidenzbasiert” sein, also wohl auf wissenschaftlichen Untersuchungen beruhen. In Wahrheit sind diese Worte jedoch Amerikanismen, frei verfügbare Begriffe, denen jeder seine eigene Bedeutung geben kann. In den USA jedenfalls gibt es umfangreiche Untersuchungen, welche mit „scientific evidence” die Existenz Gottes beweisen. Auch die Existenz von der Erde vergleichbaren Planeten gilt als „evidence based”.

Kann man Leitlinien für Krankheiten errichten? Entscheiden wir uns bei der Behandlung nicht jeden Tag neu und ein wenig anders?

Welche Verbindlichkeit kommt Leitlinien zu? Die stets angeführte Begründung, Leitlinien seien lediglich „Entscheidungshilfen” und unterschieden sich klar von „klinischen Erfahrungen”, „Empfehlungen”, „Lehrmeinungen” oder verbindlichen Richtlinien (neudeutsch: Standards) wird nicht verhindern, dass ihnen eine vielleicht wirklich nicht beabsichtigte Verbindlichkeit zukommt. Dafür sorgt schon die Begründung, dass sie auf wissenschaftlichen Untersuchungen beruhen. Das heißt, dass sie sich auf die Autorität der Naturwissenschaft, der vorherrschenden Kraft unserer Zeit, berufen. Auch der Hinweis, erst durch Leitlinien werde eine „wissenschaftlich evidente” optimale Versorgung gewährleistet, wird zu Verbindlichkeit führen. Im übrigen: warum sollte man sich sonst auch die Mühe machen, Leitlinien zu erarbeiten, wenn sie nachher keinerlei Verbindlichkeit haben? Entlarvend ist da die Begründung zum DRG-Einführungsgesetz (vom 12. Juli 2001), dass „für Krankheiten, bei denen Hinweise auf eine unzureichende, fehlerhafte oder übermäßige Versorgung bestehen, unmittelbar für die Krankenhäuser verbindliche Kriterien auf der Basis evidenzbasierter Leitlinien erarbeitet werden” sollen. Einfacher ausgedrückt: wer sich nicht an (welche?) Leitlinien hält, bekommt kein Geld.

Stark unterschätzt wird das Problem der Sprache. Die Leitlinien-Leitlinie der AWMF schreibt zum Beispiel vor, dass ausschließlich Publikationen in deutscher und englischer Sprache berücksichtigt werden sollen. Der wahrscheinliche Grund ist, dass nur bei diesen beiden Sprachen vorausgesetzt werden kann, dass hinreichend zahlreiche deutsche Mediziner sie beherrschen. Das beinhaltet aber doppelte Abhängigkeiten. Die deutsche wissenschaftliche Literatur ist derzeit außerordentlich abhängig von der amerikanischen, vorsichtig ausgedrückt. Die Amerikaner lesen aber bekanntlich nur amerikanische wissenschaftliche Literatur. Ferner halten sich die bisherigen Leitlinien deutscher Sprache durchweg eng an amerikanische Vorbilder, ebenfalls vorsichtig ausgedrückt. Es ist aber verständlich und natürlich, dass Leitlinien für amerikanische Ärzte sich an die amerikanische Literatur halten.

Im Jahr 2001 leben wir jedoch ganz europäisch-offiziell im „Jahr der europäischen Sprachen”, von denen es mindestens 25 gibt (je nachdem, wie man zählt), darunter Sprachen wie Französisch, Spanisch oder auch Russisch, die eine sehr große internationale Bedeutung haben, von Deutsch hier gar nicht zu reden.

Wichtig ist selbstverständlich auch, wer entsprechende Vorarbeiten zu Leitlinien in welcher Höhe finanziert, wissenschaftliche Interessenverbände, die pharmazeutische Industrie oder politische Instanzen, etwa das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF). Bei den einen wird man ökonomische, bei den anderen politische Interessen vermuten dürfen. Da umfassende Arbeiten zum Thema nicht billig sind (der Umfang der Kosten wird nirgendwo genannt), wird man wohl davon ausgehen können, dass es Leitlinien ohne Interessentenbeeinflussung auch in Zukunft allen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz nicht geben wird.

Wohin die Reise mit den Leitlinien führen könnte, wurde bereits angedeutet. Es gibt jedoch noch kaum beachtete rechtliche Aspekte. Rechtlich sind alle Leitlinien zwar bislang nichts anderes als private Meinungsäußerungen privater Interessenvereine. Um bei der in diesem Heft behandelten Depression zu bleiben, stelle man sich jedoch einen Suizidfall vor. Bei der gerichtlichen Prüfung zeigt sich etwa, dass der Arzt nicht die Leitlinien für depressive Störungen befolgt hatte. Welcher Anwalt würde sich da das Argument entgehen lassen, dies sei die Ursache für den Suizid gewesen? Welches Gericht kann sich über ein solches Argument vollständig hinwegsetzen?

Ob man nun den Nutzen von Leitlinien höher einschätzt oder den Schaden, den sie anrichten können, es lässt sich nicht bezweifeln, dass die Diskussion fortgesetzt werden muss. Jeder Interessenverband wird sich aufgefordert fühlen müssen, Leitlinien zu allen interessierenden Fragen zu formulieren. Andernfalls besteht Gefahr, dass der Leitlinienmarkt von denjenigen beherrscht wird, die das Mittel der Leitlinienerstellung dazu benutzen, ihre Position im Konkurrenzfeld der miteinander wetteifernden Systeme und Philosophien zu verbessern. Wenn sie Glück haben oder wenn ihre Pressure Group stark genug ist, wird daraus eine offizielle Leitlinie der zuständigen politischen Instanz, die es dann erlaubt, innerhalb eines bestimmten Bereiches ein „evidenzbasiertes” Dogma mit allgemeiner Verbindlichkeit zu errichten.

Letzte Frage: welche Chancen hat da noch der einzelne Forscher, Denker oder Arzt?

Prof. Dr. med. Uwe Henrik Peters

Universitäts-Nervenklinik

Joseph-Stelzmann-Str. 9

50931 Köln