Am Donnerstag, den 23. August 1973, zerriss das ohrenbetäubende
Feuern einer Maschinenpistole die routinierte Geschäftigkeit der Sveriges
Kreditbank in Stockholm, Schweden. Als der Kalk- und Glassplitterregen um die
60 Anwesenden aufhörte, rief ein schwerbewaffneter Mann in Englisch:
„The party has just begun!”
Die „Party” dauerte 131 Stunden. Während dieser
Zeit war das Leben von 4 jungen Geiseln in ständiger Gefahr und man
glaubte ein bis dahin noch nie wahrgenommenes psychologisches Phänomen zu
beobachten, das seit diesem Bankraub als „Stockholm-Syndrom”
bezeichnet wurde (Lang, D.: A Reporter at Large, in New Yorker, Nov. 1974, S.
56).
Vom 23. August, 10.15, bis zum 28. August, 21.00 Uhr, wurden
Elisabeth (damals 21 Jahre, Kassiererin in der Sortenabteilung), Kristin
(damals 23 Jahre, Stenographin in der Sortenabteilung), Brigitta, (damals 31
Jahre, Bankangestellte) und Sven (damals 25 Jahre, gerade neu eingestellt) in
der Sveriges Kreditbank als Geiseln festgehalten. Der Geiselnehmer war der
32-jährige, bereits mehrfach vorbestrafte Jan-Erik Olsson. Die Geiseln
wurden in einem ca. 47 qm großen Tresorraum festgehalten, in dem sich ein
weiterer Geiselnehmer, der 26-jährige Clark Olofson befand (Lang,
1974).
Die Stockholmer Geiselnahme wurde in der Folgezeit aus verschiedenen
Gründen in den Mittelpunkt der öffentlichen Berichterstattung
gestellt. Zum einen wurde während der Geiselnahme die Angst der Geiseln
offen gezeigt und zum anderen waren es die psychischen Folgen, die man bei den
Geiseln zu beobachten glaubte. Es wurde berichtet, dass die Geiseln angeblich
mehr Angst vor der Polizei als vor den Tätern hatten. Noch Wochen nach der
Freilassung berichteten die Opfer von Alpträumen über die Flucht der
Straftäter, ohne aber Gefühle von Wut oder Hass auf sie zu
entwickeln. Sie glaubten, die Täter hätten ihnen ihr Leben
zurückgegeben und waren ihnen für diese Großzügigkeit sehr
dankbar [1].
Das Stockholm-Syndrom wird beschrieben als ein Prozess, in dem
Geiseln eine positive emotionale Beziehung zu ihren Geiselnehmern aufbauen;
weiterhin sei es ein unbewusster psychologischer Schutzmechanismus, in der
extreme Existenzangst abgewehrt wird. Dann suchen die hilflosen Opfer angeblich
die Nähe der Gewalttäter, solidarisieren sich sogar mit ihren
Peinigern, um die Bedrohungssituation erträglicher zu machen. Die Opfer,
die keine Kontrolle mehr über die Situation haben, vermeiden alles, was
ihre Lage verschlimmern könnte, und ordnen sich dem Täter unter.
Dabei können sich Motive und Interessen annähern, da beide Seiten mit
heiler Haut davonkommen wollen. Nach Aussagen verschiedener Autoren entstehen
Bündnisse, die man hinterher nicht mehr verstehen kann. Ein weiterer
Aspekt des Stockholm-Syndrom sei die Tatsache, dass die Geiseln gegenüber
der Polizei eine Vorwurfshaltung einnehmen. Sie machen auch den potentiellen
Helfern Vorwürfe, dass man sie nicht schnell befreit habe. Andere Autoren
wiederum glauben, dass das Stockholmsyndrom nur bei Geiselnahmen mit
gesellschaftspolitischen Anliegen vorkäme, es sei bei kürzeren
Geiselnahmen eher unwahrscheinlich [2].
Auch in anderen Zusammenhängen findet man das
Stockholm-Syndrom. So z. B. im tabuisierten Kindesmissbrauch:
„Das unmündige Kind, dessen Beziehung - das ist
„mein” Papa, „meine” Mama, „mein”
Geschwisterchen, „meine” Familie - sein einziger Besitz
sind und dessen Welt mit seinen Beziehungen endet, wird in emotionale
Geiselhaft genommen. Was bleibt dem Minderjährigen übrig, als den
Liebesentzug samt der begleitenden Gehirnwäsche als eine Jahre andauernde
Amputation seiner ureigensten natürlichen Gefühle über sich
ergehen zu lassen. Altersbedingt kann es sein Leid nicht einmal artikulieren,
obendrein ist es dem Geiselnehmer als einzig verfügbarem Tröster
ausgeliefert. Isoliert kontrolliert in einer Situation, in der
„Herrschsucht” eines Elternteils in einem irrationalen
Mutter-Egoismus auslebt, kann es nur durch totale Resignation und/oder durch
Solidarisierung - Übernahme des Expartner Feindbildes als eigenes
Feindbild - (Stockholmsyndrom) überleben”
[3].
Das Stockholm-Syndrom, so meinen Harnischmacher/Müther
[1], sei wohl eine automatische, wahrscheinlich
unbewusste, emotionale Reaktion auf das Trauma, ein Opfer zu sein. Obwohl
einige Geiseln ihr Verhalten planmäßig gestalten, sei die
Entscheidung einiger Opfer, sich mit den Geiselnehmern anzufreunden, nicht
rational getroffen worden. Das Verhalten, sich in einer hilflosen und nicht
mehr zu kontrollierbaren Situation mit seinen Geiselnehmern anzufreunden, sei
für die Geiseln am vorteilhaftesten. Ein weiterer Grund für die
Entstehung des Stockholm-Syndroms sei ein extrem hohes Stressniveau in einer
lebensbedrohlichen Situation, in der jeder der Beteiligten neue Formen der
Anpassung praktizieren oder in frühere Stadien der Entwicklung des Ichs
zurückfallen muss, um zu überleben. Dieses Phänomen betrifft
Geiseln und Geiselnehmer gleichermaßen [1]. Die
gefühlsmäßige Verbindung bei oder vielleicht auch wegen der
Belagerung durch die Sicherheitskräfte vereint Geiselnehmer und ihre
Geiseln gegen „Außenseiter”. Es scheint sich eine Stimmung
zu entwickeln, bei der Geiseln und Geiselnehmer sich als ein Gegenüber der
Polizei erleben: „wir gegen die da”. Diese emotionale Bindung ist
offensichtlich außerhalb der bewussten Kontrolle von Geiseln und
Geiselnehmern. Bis jetzt gibt es keinen Hinweis darauf, wie lange sie
dauert.
Zusammenfassend kann der Meinungsspiegel über das
Stockholm-Syndrom folgendermaßen wiedergegeben werden:
-
Mit dem Stockholm-Syndrom wird eine Art
„Notgemeinschaft” beschrieben, die sich zwischen Täter und
Geiseln gründet.
-
Die Geiseln zeigen in ihrem Handeln und ihrer Sprache
Verhaltensweisen, die nicht mit Logik, sondern ausschließlich mit
psychologischen Grundlagen zu erklären sind.
-
Es handelt sich um einen Selbstschutz des Ichs gegenüber
einer seitens eines Angreifers drohenden Gefahr, wobei es unter seinen
Verteidigungsmöglichkeiten jene aussucht, die ihm früher am besten
gedient hat.
Erscheinungsformen:
-
Geisel identifiziert sich mit der Täterhandlung
-
Entwicklung starker persönlicher Bindungen
-
Umlenkung der Angstrichtung bzw. Tausch der erlebten mittelbaren
und unmittelbaren Bedrohung
-
Angst um das eigene Leben
Voraussetzungen:
-
Zeitabhängig, fortschreitend
-
„abgeschotteter Raum”,
„Insellage”
-
ausgewogenes Verhältnis Täter/Opfer
-
Druck (Polizei) von außen
Vorteil:
-
Relativ hohe Sicherheit für die Geiseln durch sinkende
Gewaltneigung der Täter
-
Von Tätern akzeptierte, steigende Selbständigkeit der
Geiseln einschließlich räumlicher Trennungen
-
Ermöglichung insgesamt günstigerer
Interventionsmöglichkeiten
Nachteil:
-
Unterstützung der Täter in jeglicher Hinsicht
-
Planung: Idee für Fortsetzung der Geiselnahme
-
Warnung: Erkannte Aktivitäten der Polizei
-
Kommunikationsverweigerungen gegenüber der Polizei.
Um das Stockholm-Syndrom besser verstehen zu können, wird im
folgenden die Geiselnahme aus verschiedenen Perspektiven und die Entstehung von
syndromalen Diagnosen erläutert.
Eine Geiselnahme (GN) im polizeitaktischen Sinne (PDV 132, Nr. 1.1) liegt vor, wenn
Täter unter der Verwirklichung der Tatbestände der
§§ 239a und/oder 239 b StGB Personen zur Durchsetzung ihrer
Ziele an einem der Polizei bekannten Ort in ihrer Gewalt
haben. Ist der Ort nicht bekannt, spricht man im
polizeitaktischen Sinne von einer Entführung.
Die Geiselnehmer und ihre Motive sind sehr unterschiedlich.
Gefangene wollen fliehen, Tatverdächtige sich der Festnahme entziehen.
Räuber wollen Geld erpressen, psychisch Kranke persönliche Probleme
lösen. Um an ihr Ziel zu kommen, bringen sie andere Menschen in ihre
Gewalt. Besonderes Aufsehen erregten in jüngster Zeit folgende
Fälle:
Im August 1988 zogen 2 bewaffnete Gangster
nach einem Banküberfall in Gladbeck eine blutige Spur über Bremen zur
holländischen Grenze bis ins Siebengebirge. 2 Geiseln wurden
erschossen.
Im September 1991 nutzte ein Gefangener einen
Zahnarztbesuch in Schwalmstadt zur Flucht. Er brachte insgesamt 6 Menschen in
seine Gewalt und wurde schließlich erschossen.
Im November 1991 hatte ein Hafturlauber
zeitweilig bis zu 18 Menschen in einer Bank in Lüdenscheid in seiner
Gewalt. Die Polizei erschoss ihn nach 21 Stunden.
Im Juni 1992 überwältigten 2
Gangster im Krankentrakt des Gefängnisses in Werl (Westfalen) mehrere
Bedienstete. Als die Polizei eingriff, überschüttete einer der
Männer 2 Geiseln mit Benzin und zündete sie an.
Im Juli 1994 nahmen rund 40
Abschiebehäftlinge in Kassel einen Justizbeamten als Geisel und steckten
einen Teil des Gefängnisses in Brand.
Im Oktober 1994 bedrohte ein Bankräuber
in Herzogenrath bei Aachen 14 Stunden lang das Leben von 17 Menschen, dann
tötete er sich mit einer Handgranate.
Ebenfalls im Oktober 1994 hatten 2
flüchtende Verbrecher auf ihrer 2-tägigen Irrfahrt durch sechs
Bundesländer zeitweise 9 Menschen, darunter 2 Polizisten, in ihrer
Gewalt.
Im Juni 1996 nahmen Bankräuber in Berlin
16 Geiseln und verschwanden nach 17 Stunden durch einen zuvor gegrabenen Tunnel
mit mehr als 15 Millionen Mark, davon 5,6 Millionen Mark Lösegeld.
Im Juli 1995 kaperte ein Israeli in Köln
einen Bus und ermordete 2 der 26 Insassen, ehe er sich nach 7 Stunden selbst
erschoss.
Im Februar 1996 brachte ein Schwerverbrecher
in einem Celler Gefängnis 2 Anstaltsmitarbeiterinnen in seine Gewalt und
vergewaltigte sie.
Kurz vor Weihnachten 1999 bringt ein
Schwerverbrecher 8 Mitarbeiter einer Sicherheitsfirma in Aachen in seine
Gewalt. Mit 3 seiner Geiseln verbringt er mehr als 50 Stunden in der
Landeszentralbank. Er verletzt eine Geisel lebensgefährlich und wird am
Ende von der Polizei erschossen.
Im Sommer 2000 werden 3 deutsche Touristen
auf der Insel Jolo zusammen mit anderen Menschen mehr als 100 Tage von
politisch motivierten Tätern in Geiselhaft genommen. Nach Zahlung von
mehreren Millionen Mark Lösegeld kommen die Geiseln frei.
Eine Auswertung der polizeitaktischen Geiselnahmen
von 1991 bis 1999 hat ergeben, dass es in dem genannten Zeitraum zu 126
Geiselnahmen gekommen ist. In 11 Fällen wurden Geiseln körperlich
verletzt, davon nur drei Geiseln im Zusammenhang mit nicht erfüllten
Täterforderungen. In 112 Geiselnahmen blieben die Geiseln unverletzt
(AG „Einsatzkonzeptionen für Fälle schwerster
Gewaltkriminalität” / Geiselnahmen: Arbeitstagung der
Fortbildungsstelle für Spezialeinheiten des Landes NRW, 12.08.1999).
Über die psychische Befindlichkeit der Geiseln wurden keinerlei
Daten erhoben. Eine Beschreibung oder Erklärung darüber, ob und wie
viele der Geiseln das o. g. Stockholm-Syndrom entwickelt haben, erfolgte
nicht. Auch fehlen Ausführungen darüber, in welcher psychischen
Verfassung sich die Geiseln nach ihrer Freilassung befanden und ob diese im
Rahmen psychologischer Akutinterventionen fachlich beraten wurden.
Aus psychologischer Sicht sind Geiselnahmen
insbesondere dadurch gekennzeichnet, dass Täter und Geiseln unter einer
besonderen physischen und psychischen Belastung stehen. In beiderlei Hinsicht
stellt eine Geiselnahme eine weit außerhalb der sonst üblichen
Erfahrungen liegende Extremsituation dar. Für die Opfer bedeutet dies
zweifelsfrei eine traumatische Situation .
Weiterhin ist die Beendigung einer Geiselnahme für die Polizei
mit erheblichen Problemen behaftet. Gelingt es der Polizei durch geschickte
Verhandlungsführung den Täter zur Aufgabe zu bewegen oder
entschließt man sich für einen Zugriff, wenn die Bedrohung der
Geiseln nicht mehr zu verantworten ist? Oft werden die Geiselnahmen auch durch
unbeteiligte Dritte oder die Medien beeinflusst, wie man z. B.
traurigerweise in dem Gladbecker Geiseldrama unschwer feststellen konnte. Diese
Probleme verschärfen die traumatische Situation erheblich.
In einer Geiselnahme entsteht ein Beziehungsgeflecht zwischen den
Opfern, den Tätern, der Polizei und anderen. Dieses Beziehungsgeflecht ist
nicht stabil, sondern gestaltet sich in Abhängigkeit zu den
Interaktionsprozessen: Die Geiseln bangen um ihr Leben und wollen frei kommen,
die Täter wollen ihre Forderungen nach Lösegeld und Fluchtwegen
durchsetzen und die Polizei soll bedrohtes Menschenleben schützen und
ihrem Doppelauftrag nach Gefahrenabwehr und Strafverfolgung gerecht werden.
2 weitere sehr wichtige Faktoren, von denen eine Geiselnahme
bestimmt werden sind:
-
die Zeit und der Raum: eine Geiselnahme
kann nur wenige Minuten dauern oder viele Stunden, manchmal Tage oder auch
Wochen. Viele Fragen werden aufgeworfen: Bleibt eine Geisel am Ort des
Überfalls oder wird sie verschleppt? Wie sind die Täter bewaffnet?
Gibt es etwas zu Essen und zu Trinken und kann eine Geisel zur Toilette gehen
oder nicht? Dabei spielt die Frage eine Rolle, ob eine Geisel in dieser Zeit
alleine ist oder in einer Gruppe von anderen Geiseln. Sind die Geiseln isoliert
vom Täter oder sind Täter und Opfer während der gesamten Zeit im
gleichen Raum? Wie lange sind zeitliche und räumlich Kontakte zwischen
Opfern und Tätern? Wie verläuft die Beziehungsdynamik zwischen
Geiseln und Geiselnehmern? Wie werden die Geiseln behandelt? Sind sie gefesselt
und werden misshandelt oder werden sie gut versorgt? Wie weit werden die
persönlichen und intimen Grenzen der Geiseln von den Tätern verletzt?
Wie bedrohlich werden die Täter von den Geiseln erlebt? Können die
Geiseln Verhandlungen zwischen den Tätern und der Polizei mit verfolgen
oder werden sie sogar von den Tätern als Sprecher eingesetzt um selbst
unerkannt zu bleiben? Was passiert unmittelbar nach einer Beendigung einer
Geiselnahme mit den Geiseln? Wie beeinflusst die Beendigung einer Geiselnahme
das Entstehen eines Stockholm-Syndroms?
Die zentralen Beziehungsmuster in der Geiselnahme werden durch
verschiedene Erwartungen bestimmt:
Veränderungen in diesen Beziehungsmustern ergeben sich aus
gelungenen oder misslungenen Kommunikations- und Interaktionsprozessen durch
Polizei, Täter und den Opfern selbst, aber auch unbeteiligten Dritten und
die Medien.
Nähert man sich dem zu untersuchenden Stockholm-Syndrom aus
wissenschaftlicher Sicht, sollte man darum bemüht
sein, die Phänomene des Untersuchungsgegenstandes nach bestimmten
Gesichtspunkten zusammenzufassen und zu ordnen, z. B.:
-
Dauer der Extremsituation
-
Anzahl der Täter
-
Erkenntnisse über die Täter (Ersttäter oder
bekannte Gewaltverbrecher? Einzeltäter oder Mittäter? Politisch oder
kriminell motiviert? „Normal” oder psychisch gestört?)
-
Anzahl der Opfer
-
Kenntnisse über die Geiseln (mögliche Erkrankungen;
Familienstand etc.)
-
Ätiologische Faktoren der GN (wie kam es dazu? Geplant oder
spontan?)
-
Räumliche Bedingungsfaktoren (wo findet die Geiselnahme
statt? Inland/Ausland? Stationäre GN oder mobile GN? Bank, Kindergarten,
Flugzeug, Gefängnis, JVA, etc.)
-
Erstkontakte (durch Polizei oder andere?)
-
Täterforderungen (Lösegeld, Fluchtfahrzeug, Presse,
etc.)
-
Bewaffnung der Täter
-
Bedrohung der Geiseln (verletzt oder unversehrt?)
-
Drohungen des Täters und Ultimaten
-
Polizeiliche Maßnahmen
-
Verhandlungsführung und Lageentwicklung (Wer verhandelt mit
wem? Werden Täterforderungen erfüllt? Werden Geiseln während des
Verlaufs der GN freigelassen oder bleiben alle zusammen?)
-
Beziehungsgeflechte (Täter - Opfer - Polizei
- Andere)
-
Aufgabe des Täters
-
Zugriff der Polizei
-
Erfüllung der Täterforderungen
-
Medienarbeit
-
Unbeteiligte Dritte
-
Beendigung der Geiselnahme
Dadurch sollen die Phänomene einer systematischen Erforschung
und Beeinflussung zugänglich und die Beobachtungsergebnisse mitteilbar und
vergleichbar gemacht werden.
Aus psychiatrischer Sicht gesehen, besteht
ein Problem der psychiatrischen Diagnostik darin, dass ätiopathogenetische
Faktoren bei vielen Störungen unzureichend bekannt sind oder nicht immer
eindeutig zu klären sind. Bevor die eigentliche Krankheitsdiagnose
präzisiert wird, wird daher oft als Zwischenschritt eine Syndromdiagnose
eingeschoben.
Eine Syndromdiagnose fasst in der Regel eine Reihe von
psychopathologischen Symptomen, die erfahrungsgemäß häufig
zusammen vorkommen, abstrahierend zusammen. Auch wenn nicht alle zum Syndrom
gehörenden Symptome vorliegen oder im Moment nicht nachweisbar sind, wird
ein solches Syndrom diagnostiziert. Nicht selten treten einige zum Syndrom
gehörige Symptome zu einem späteren Zeitpunkt noch auf oder werden
erst dadurch nachweisbar, dass ein Patient zu einem späteren Zeitpunkt
darüber sprechen kann [4].
Unter Syndrom versteht man die Kombination bestimmter Symptome, die
gehäuft auftreten [4]. Insbesondere in
jüngster Zeit wird der syndromatologischen Klassifikation wieder vermehrt
Rechnung getragen. Dies steht u. a. in Zusammenhang mit der Kritik an
der von einigen Autoren als empirisch unzureichend fundiert angesehenen
Nosologie und der als zu gering erachteten Reliabilität nosologischer
Diagnostik. Die Syndromatologie psychischer Störungen ist auf
klinisch-intuitiver Basis entstanden. Sie beschreibt das gemeinsame Auftreten
von Symptomen ohne Rücksicht auf deren Entstehungsbedingungen.
Statistische Methoden, mit denen das gehäufte Auftreten von
Einzelsymptomen untersucht werden kann, sind Faktoren- und Clusteranalysen. Bei
den mit diesen Methoden der multivariaten Statistik durchgeführten
Auswertungen verwendet man als Ausgangsmaterial Daten aus mittels
Beurteilungsskalen erhobenen psychopathologischen Befunden. Derartige
Untersuchungen, die mit verschiedenen Patientenkollektiven und in verschiedenen
Ländern durchgeführt wurden, ergaben insgesamt gesehen immer wieder
ähnliche Gruppenfaktoren oder Symptomcluster. Diese durch multivariate
statistische Methoden ermittelten Syndrome entsprechen einigen der auf
klinisch-intuitiver Basis entstandenen tradierten Syndrome
[4].
In der klinischen Praxis begnügt man sich nur selten mit einer
Syndromdiagnose als Enddiagnose, sondern verwendet sie zumeist als
zuverlässig nachvollziehbaren Zwischenschritt vor der Erstellung einer
nosologischen Diagnose. Die statistische Herausarbeitung umschriebener Syndrome
bewegt sich auf rein deskriptivem Niveau. Zum Studium der Syndromgenese
müssen neben psychopathologischen Symptomen auch Informationen über
Biographie, Primärpersönlichkeit, schädigende Noxen usw.
herangezogen werden [4]. Auch die umfassenden,
empirisch wie klinisch gesicherten Erkenntnisse der Psychotraumatologie
[5] müssen bei den Bedingungsfaktoren zum
einheitlichen klinischen Syndrom aufgedeckt werden.
Multifaktorielle Syndromdiagnose (nach Franke
und Hippius in Möller, 1994)
Im September/Oktober 2000 wurde am Institut für Klinische
Psychologie und Psychotherapie der Universität zu Köln eine
Literaturrecherche zum Thema „Stockholm-Syndrom”
durchgeführt. Es wurden nur empirisch-wissenschaftliche Studien in die
Literaturanalyse einbezogen. Für den deutschsprachigen Raum wurde keine
Studie gefunden, die sich mit einer empirisch-wissenschaftlichen Untersuchung
des „Stockholm-Syndroms” befasst hat. Im englisch-amerikanischen
Sprachraum fanden sich zwei Artikel, die den o. g. Kriterien
entsprachen; sie beschreiben die Phänomenologie, liefern Faktorenanalysen
zur Entstehung des „Stockholm-Syndroms”, die Ergebnisse und
hypothetischen Theorien bleiben jedoch nur bedingt aussagefähig. Vom
methodischen Ansatz wird nicht zwischen einem hypothesenprüfenden oder
hypothesengenerierenden Verfahren differenziert. Hinsichtlich Reliabilität
und Validität begründen sie das „traumatic bonding”
oder „terror bonding” als Synonym für das Stockholm-Syndrom
nicht als ein eigenständiges Syndrom. Auch sie kommen nicht zu einer
klinischen Enddiagnose sondern bleiben bei einem Zwischenschritt des
beschriebenen Phänomens stehen.
Vom derzeitigen Forschungsstand kann davon ausgegangen werden, dass
es bisher keine empirisch-wissenschaftliche Studie gibt, mit der das sog.
„Stockholm-Syndrom” umfassend erklärt und als Enddiagnose
bestätigt werden kann. Damit ist die Frage, ob es das beschriebene
„Stockholm-Syndrom” überhaupt gibt, noch nicht völlig
geklärt. Vielmehr drängt sich nach Studium der verschiedenen Artikel
und Veröffentlichung zum o. g. Thema die Frage auf, ob es sich bei
dem „Stockholm-Syndrom” um eine Legende handelt, die in weiten
Teilen mystifiziert wurde.
Wenn es ein Syndrom wäre, müssten auch die hierzu
entwickelten Behandlungsverfahren publiziert werden. Auch in diesem Punkt gibt
es nur Fehlanzeigen: Spezifische Interventionen hinsichtlich des
Stockholm-Syndroms fehlen.
Aus psychotraumatologischer Sicht stellt die
Geiselnahme für die Opfer eine traumatische Situation dar.
Eine psychische Traumatisierung lässt sich definieren als
vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den
individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von
Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe der eigenen Persönlichkeit
einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und
Weltverständnis bewirkt [5 7].
Der Verlauf einer psychischen Traumatisierung [8 11] lässt sich in einer Geiselnahme in einer
Art Zeitraffer nachweisen. Das Besondere daran ist, dass es zu einem
wiederholten Phasenverlauf kommt:
-
Schockphase
-
Einwirkungsphase
-
Erholungsphase
Die einzelnen Phasen wiederholen sich im Verlaufe einer Geiselnahme
in Abhängigkeit zum Verhandlungsverlauf, an dessen Ende die Entwicklung
eines erzwungenen Bindungstrauma steht. Auch hier finden
sich Situationsfaktoren, die die Entstehung einer bPTBS begünstigen:
Zu den beobachtbaren und diagnostizierten Kernsymptomen des
„Stockholm-Syndrom” zählen:
-
Intrusionen
-
Emotionale Taubheit
-
Dissoziation
-
Übererregungssymptome
Diese lassen wiederum eher an ein erzwungenes
Bindungstrauma oder ein Viktimisierungstrauma
denken als an ein Syndrom.
Das erzwungene Bindungstrauma ist
gekennzeichnet durch 2 Risikofaktoren:
-
erzwungene Nähe
-
paradoxe Dankbarkeit („es
hätte ja auch noch schlimmer kommen können”).
Die „Parteinahme” und Identifizierung mit dem
Täter bei dem Stockholm-Syndrom kann demnach als Versuch der
„Reparation” des zerstörten Selbstverständnisses,
insbesondere bzgl. der Fähigkeiten zur Selbstbestimmung und
Selbstverteidigung, erklärt werden. Das kann zu einer Selbstaufgabe
zugunsten des Täters führen (Introjektion des Täters) mit
Übernahme von Weltbild, Ideologie etc. des Täter, um so besser
geschützt überleben zu können.
Fazit:
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass
-
die Geiselnahme für das Opfer eine traumatische Situation
darstellt
-
nicht jedes Geiselopfer ein „Stockholm-Syndrom”
entwickelt, aber jedes Geiselopfer erstmal Symptome zeigt
-
es bislang nicht die
standardisierte (Krisen-)Intervention gibt, die allen Geiselopfern gleich hilft
und gleichzeitig effektiv sekundärpräventiv die Entstehung eines
„Stockholm-Syndroms” verhindert
-
das sog. Stockholm-Syndrom eine Form der Reduzierung des
traumatisch bedingten vitalen Diskrepanzerlebnisses sein kann.
-
eine syndromatologische Diagnostik der Geiselnahme bisher
nicht zu einer effektiven Behandlungsform geführt hat.
-
mit einer ätiologisch bzw. psychotraumatologisch
orientierte Diagnostik die Chancen der Erforschung, Erklärung und
Behandlung des sog. Stockholm-Syndroms erweitert werden.