Pneumologie 2000; 54(9): 398-400
DOI: 10.1055/s-2000-7181
KOMMENTAR
Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Vernetzte Versorgungsstrukturen

Hat der Einzelkämpfer eine Zukunft?H. Mitfessel
  • Internist, Pneumologe, Allergologie, Umweltmedizin, Remscheid
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Dr. med H Mitfessel

Elbeofelder Straße 10 42853 Remscheid

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Publication Date:
31 December 2000 (online)

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Das übergeordnete Ziel, das der Gesetzgeber mit der Zulassung von Modellvorhaben, wie z. B. den vernetzten Arztpraxen verfolgt, soll einer Verbesserung von Qualität und Wirtschaftlichkeit in der ärztlichen Versorgung durch neue Organisations-, Finanzierungs- und Vergütungsformen darstellen. Die gesetzliche Grundlage, nach der Praxisnetzwerke eingerichtet werden können, finden sich im Sozialgesetzbuch ¿ 63 SGB V und in der Fassung des 2. GKV-Neuverordnungsgesetzes.

Wichtige Voraussetzung für die Anerkennung von vernetzten Versorgungsstrukturen sind außerdem: ärztliche Berufsverordnung, Weiterbeachtung des Sicherstellungsauftrages für die ärztliche Versorgung, keine Einkaufsmodelle, keine Ausrichtung eines rein privatärztlichen Netzwerkes, Einbehaltung von vorgeschriebenen Budgets, Sicherstellung einer Evaluation des Netzwerkes durch ein externes Forschungsinstitut, Aufnahme von Zielen, Dauer und Ausgestaltung sowie Teilnahmekriterien der Versicherten in die Satzung durch beteiligte Krankenkassen, und somit Weiterleitung der gezielten Einsparung an Versicherte.

Die Gesundheitsreform 2000 ermöglicht ab 1. 1. 2000 nach ¿ 140 SGB V Verträge zwischen einzelnen Ärzten oder Arztgruppen (Netzen) und Krankenhäusern mit Krankenkassen. Bedingung ist, dass im Sicherstellungsauftrag vereinbarte Leistungen notwendig, wirtschaftlich und qualitätsgesichert sein müssen, und der Leistungsumfang der GKV nicht überschritten wird. Die Vergütung ist frei mit oder ohne KV zwischen Vertragspartnern zu verhandeln. Die Beteiligung der KV bei Vertragsverhandlungen ist jedoch sinnvoll für die Ermittlung von Kopfpauschalen (Honorarmenge der integrierten Versorger) und der Übertragung der Vergütungsform. Nach ¿ 115 SGB V eröffnet das Gesetz die Möglichkeit, stationsersetzende Leistungen vertraglich zu vereinbaren: Analog dem ambulanten Operieren können mit Beteiligung der Spitzenverbände der Krankenkassen, der Deutschen Krankenhausgesellschaft und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) stationsersetzende Leistungen zur (mit einheitlicher Vergütung) ambulanten und stationären Erbringung (qualitätsgesichert) im Krankenhaus durch den niedergelassenen Arzt vereinbart werden (z. B. Polysomnographie). Für die Pneumologen ergeben sich folgende Optionen:

  1. Fachgruppennetze (z. B. „Pneumo-Net”) gebildet aus Fachklinik und Pneumologen einer Region zur indikationsübergreifenden integrierten Versorgung pneumologisch Erkrankter

  2. Bildung von Indikationsnetzen z. B. Schlafapnoeversorgung oder etwa die gemeinsame ambulant/stationäre Diagnostik und Vorbereitung im Vorfeld von thoraxchirurgischen Eingriffen

  3. „rent a bed”-Option: der Pneumologe übernimmt stationäre Leistung im Krankenhaus und kauft sich nacht-, kontingent- oder monatsweise die Umgebungsinfrastruktur des Krankenhauses

  4. Integration mit Allgemeinkrankenhäusern, die pneumologisches Defizit haben oder ambulante Betreuung einbinden wollen (z. B. Klinikpraxis mit vertragsweiser Übernahme von Ambulanzaufgaben)

Voraussetzungen für all diese Optionen sind überzeugende Vorteile für alle Partner (kooperierendes Krankenhaus, Krankenkassen und gegebenenfalls die KV).

Der Primärarzt ist entsprechend seiner Weiterbildungsordnung vom 31. 10. 92/23. 10. 93 sowie deren Änderung vom 24. 11. 98 verpflichtet zur „Koordinierung der ärztlichen Behandlung, gegebenenfalls einschließlich. der spezialistischen Diagnostik und Therapie … Gesundheitsberatung … gemeindenahe Vernetzung von gesundheitsfördernden Maßnahmen …” [[1]].

Telekonferenzmöglichkeiten mit Erweiterung von Notfallkommunikationen wurden schon Mitte der 90er Jahre von der KBV entwickelt. Danach wird über Datenfernübertragung mit ISDN-Schnittstellen der Primärarzt nicht nur mit dem Sekundärarzt (Facharzt) vernetzt, indem z. B. der behandelnde Arzt Bild- u. Tondaten zum Experten überträgt, der die Befunde am Computerbildschirm begutachtet und mit dem behandelnden Primärarzt zunächst ohne direkten Patientenkontakt bearbeitet, sondern auch Krankenhaus, Apotheke, Rettungsleitstelle mit GPS versorgten Rettungswagen, gegebenenfalls auch Krankenversicherer, KV, Abrechnungsstellen … miteinbindet. Schnittstellen eines solchen „Ärzteunternehmens” wären zentral ein Netzmanager, der intern (Hausärzte, Fachärzte, Anlaufpraxen, Pflegedienst, Einkauf, Sekretariat, Fahrdienst, …) mit extern (Krankenkassen, KV, Ärztekammer, wissenschaftliche Begleitung, Lieferanten, Sozialpolitik, Technik, Provider für Hard- und Software, Datendienstleister, …) und Krankenhäuser, Rehakliniken verbindet. Der Datentransfer würde schnell und einheitlich zwischen den Netzpartnern über zentrale Serverstationen erfolgen [[2]].

Während im Dezember 1998 in Deutschland ca. 4000 Ärzte in 65 Praxisnetzen tätig waren, sind Anfang 2000 nach KBV-Mitteilung mittlerweile über 250 Praxisnetze teils mit sehr unterschiedlicher Strukturen tätig.

Erste Daten waren aus der „ärztlichen Qualitätsgemeinschaft Ried” (Verbund von 32 Haus- und Fachärzten) 1997 mit einer Einsparung von 302 000 DM an Arzneimitteln ermittelbar. Die Einsparungsausschüttung erfolgte zu 30 % an die Ersatzkassen und Ärzte, zu 40 % an das Netz, nachdem zuvor 640 000 DM (durch Ersatzkasse) vorfinanziert werden mussten für die Netzlogistik.

Das Marienhospital in Stuttgart hat durch einen Verbund von Krankenhaus- und niedergelassenen Ärzten 1997 als Bilanz bei 20 000 Behandlungsfällen folgendes Ergebnis ermittelt: 44 % ungezielte Krankenhauseinweisungen wurden verhindert bei 4 % notwendigen stationären Einweisungen, 25 % Weiterbehandlung durch niedergelassenen Kollegen, 28 % nur 1-malige Behandlung [[3], [4]].

Die freie Arztwahl wird zukünftig weiter eingeschränkt, da sich die niedergelassenen Internisten bis Dezember 2000 festlegen müssen, ob sie als fachärztliche Internisten (Sekundärärzte) durch Überweisung eines Primärarztes oder selbst als hausärztliche Internisten (Primärärzte) ohne Zuweisungspflicht tätig werden wollen. Die Konsequenz wäre budgetierte hausärztliche Tätigkeit oder ausschließlich fachärztliche Tätigkeit durch primärärztliche Überweisung. Für viele Internisten wird diese Entscheidung aufgrund der derzeitigen Versorgungsstrukturen finanziell nicht durchstehbar sein.

Die Versorgung der Bevölkerung könnte somit „wunschgemäß” in prozentualer Relation Hausarzt : Facharzt = 60 %:40 % (bisher 40 %:60 %) erreicht werden. Eine repräsentative Umfrage durch das wissenschaftliche Institut der Ärzte Deutschlands (WIAD, Bonn) im Auftrag der Ärztekammer Nordrhein ergab, dass 91 % der Befragten einen Hausarzt haben, aber der Direktzugriff zum Facharzt auch ohne Überweisung wichtig ist.

87 % wollen jederzeit eine zweite Meinung bei einem anderen Arzt einholen können (siehe Quelle Dr. H. Clade, Deutsches Ärzteblatt Heft 99). Diese Umfrage wurde in einem städtischen Bereich durchgeführt.

Im ländlichen Bereich ist der Primärarzt erster Ansprechpartner. Nach einer Umfrage von Emnid III/96 fühlten sich alle Befragten in Deutschland optimal betreut. 71 % der Bundesbürger bewerten die Leistung ihres Facharztes mit gut oder sehr gut. Ein weiterer Pluspunkt war der meist kurze Weg in die Praxis. Jeder zweite Befragte wohnte nur maximal 2 km entfernt von der Facharztpraxis, dagegen wohnte nur jeder 4. nicht weiter als 2 km von einem Krankenhaus.

1997 wurden in 4 Städten Deutschlands (Remscheid, Dortmund, Cottbus, Ulm) ein COPD-Netzwerk mit lokalen Pneumologen und ca. 100 Hausarztpraxen gegründet, von denen zwischenzeitlich über 5000 Patienten zum Teil auch langzeitbetreut werden [[5]]. Im Rahmen dieses von Boehringer Ingelheim unterstützten COPD-Überwachungsprogrammes übernimmt der Pneumologe nach Erstdiagnostik durch den Hausarzt mittels standardisierter computererfasster Auswertung von Symptomen und Lungenfunktionsmessungen die Diagnosesicherung, Verlaufskontrolle, Therapieoptimierung ggf. Sputum-Zytologie und Bakteriologie, weiterführende Lungenfunktion neben Atemtechnik, Diffusionskapazitätsmessung, Blutgase, ggf. schlafmedizinische Untersuchung, immunologische und umweltmedizinische Untersuchungen sowie ggf. Veranlassung weiterführender bildgebender Verfahren, wie CT, Szintigramm. Der Hausarzt betreut nach Diagnostik und Erstellung eines COPD-Passes die Patienten weiter in regelmäßigen 3-monatigen Kontrollen, neben Beratung und Überprüfung der Therapie, des häuslichen Milieus, der Lebensqualität und ergänzenden Schulungsmaßnahmen.

Im Rahmen dieser interdisziplinären Arbeit ist der Pneumologe für die Qualitätssicherung verantwortlich (Fortbildung, Vermittlung von Leitlinien, Qualitätsstandard, Lungenfunktionsüberprüfung, Personalschulungen). Geplant sind Gründungen von weiteren Netzen sowie deren Integrierung in bestehende vernetzte Versorgungsstrukturen.

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Ziele von Netzwerken sind:

bessere Versorgungsqualität mit verbessertem Informationsaustausch, interne Leitlinien und Qualitätsziele,

mehr Kollegialität mit besserer Zusammenarbeit, Abstimmung, gemeinsame Aktivitäten und Verhaltensweisen,

Kooperation mit Krankenhaus- und Rehaeinrichtungen und den nicht ärztlichen Leistungserbringern,

mehr ärztliche Lebensqualität mit Reduktion der Rufbereitschaft und geregeltem Vertretungsdienst,

erweitertes Versorgungsangebot mit konsequenter Nutzung des Spezialwissens der einzelnen Ärzte (auch Hausärzte haben Spezialitäten!) 24-Stunden-Bereitschaft, Informationsangebote für Patienten,

Wirtschaftlichkeit des regionalen Versorgungssystems mit Vermeidung unnötiger Krankenhausaufenthalte und Doppeluntersuchungen,

Wirtschaftlichkeit der Netzteilnehmer durch Einkaufgemeinschaften, Angebot netzspezifischer Leistungen.

„Netzwerke im niedergelassenen Sektor sind nur die halbe Miete. Nur wenn Hausärzte, Fachärzte, Krankenhaus und Pflegeeinrichtungen strukturiert und ohne Berührungsängste zusammenarbeiten, kann gewährleistet werden, dass der Versicherte jeweils adäquate Behandlung zum richtigen Zeitpunkt erhält” (Zitat Dr. Hans-Jürgen Ahrens, Vorstandvorsitzender des AOK-Bundesverbandes 1998).

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Literatur

  • 1 Ärztekammer Nordrhein (Hrsg.). Protokoll der Kammerversammlung (Wahlperiode 1997/2001) vom 14. 11. 1998, Anlage 3, Weiterbildungsordnung „Allgemeinmedizin”. 
  • 2 Glöser S. Themen der Zeit, Vernetzte Versorgungsstrukturen.  Deutsches Ärzteblatt. 1998;  95, 50 A 3204-3208
  • 3 Ärztekammer Nordrhein (Hrsg.). KVNO Aktuell 05/98, Start des Pilotprojektes Praxisnetz Erft. Juni 1998: 19-20
  • 4 Kassenärztliche Bundesvereinigung (Hrsg.). KBV Kontext 9, Projekte der Weiterentwicklung der ambulanten Versorgung im Überblick. Eine Dokumentation der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. Indikationsspezifische Modellvorhaben/Strukturverträge. Dez 1998: 35-39
  • 5 Barczok M, Blum C, Kässner F, Mitfessel H. et al .Computer Aided Generation of Data on Chronic Obstructive Pulmonary Disease (COPD) in General Practices in Germany, P.0539, ERS. 1998
  • 6 Mitfessel H. Vernetzung in Arbeitskreisen ist ein praxistaugliches Instrument, Kongressbericht, 13. Jhrg.  Pneumologische Notizen. 1998;  1 12-14
  • 7 Mitfessel H. Arbeitskreis nur ein Instrument.  COPD newsletter BI, 1. Jahrg.. 1998;  1 3
  • 8 Mitfessel H. Interdisziplinäre Netzwerke schaffen Bewusstsein.  COPD newsletter BI, 2. Jahrg.. 1999;  1

Dr. med H Mitfessel

Elbeofelder Straße 10 42853 Remscheid

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Literatur

  • 1 Ärztekammer Nordrhein (Hrsg.). Protokoll der Kammerversammlung (Wahlperiode 1997/2001) vom 14. 11. 1998, Anlage 3, Weiterbildungsordnung „Allgemeinmedizin”. 
  • 2 Glöser S. Themen der Zeit, Vernetzte Versorgungsstrukturen.  Deutsches Ärzteblatt. 1998;  95, 50 A 3204-3208
  • 3 Ärztekammer Nordrhein (Hrsg.). KVNO Aktuell 05/98, Start des Pilotprojektes Praxisnetz Erft. Juni 1998: 19-20
  • 4 Kassenärztliche Bundesvereinigung (Hrsg.). KBV Kontext 9, Projekte der Weiterentwicklung der ambulanten Versorgung im Überblick. Eine Dokumentation der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. Indikationsspezifische Modellvorhaben/Strukturverträge. Dez 1998: 35-39
  • 5 Barczok M, Blum C, Kässner F, Mitfessel H. et al .Computer Aided Generation of Data on Chronic Obstructive Pulmonary Disease (COPD) in General Practices in Germany, P.0539, ERS. 1998
  • 6 Mitfessel H. Vernetzung in Arbeitskreisen ist ein praxistaugliches Instrument, Kongressbericht, 13. Jhrg.  Pneumologische Notizen. 1998;  1 12-14
  • 7 Mitfessel H. Arbeitskreis nur ein Instrument.  COPD newsletter BI, 1. Jahrg.. 1998;  1 3
  • 8 Mitfessel H. Interdisziplinäre Netzwerke schaffen Bewusstsein.  COPD newsletter BI, 2. Jahrg.. 1999;  1

Dr. med H Mitfessel

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