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DOI: 10.1055/s-0043-120036
Wir brauchen noch Lehrbücher – Kontra
We Still Need Textbooks – ContraKorrespondenzadresse
Publication History
Publication Date:
05 October 2017 (online)
Gedruckte Lehrbücher werden über kurz oder lang obsolet sein. Eine Online-Umfrage der Universität Pittsburgh an 871 Bibliotheksnutzern von digitalen Ressourcen im Bereich Health Science zeigte, dass 86 % der Interns, Residents und Fellows für Recherchen zur klinischen Versorgung E-Books nutzen [1]. Vor allem informationsintensive Recherchen wurden laut dieser Untersuchung gerne mittels digitaler Ressourcen durchgeführt.
Bereits zu Beginn der 2000er-Jahre konnte eine andere Studie der Universität Iowa zeigen, dass Studierende der Medizin vermehrt auf Online-Ressourcen wie UpToDate oder MDconsult zurückgreifen [2]. Auch eine Untersuchung einer großen amerikanischen Versicherung zeigte, dass Ärzte zunehmend elektronische Medien als Referenz für klinische Entscheidungen und auch zur Weiterbildung nutzen [3]. Diese intensivierte Nutzung zeigt sich auch in steigenden Verkaufszahlen für E-Books. In einem Bericht einer großen Beratungsagentur werden Zahlen von großen amerikanischen Verlagen aus dem Bildungsbereich vorgelegt, die beschreiben, dass die Gewinne für gedruckte Inhalte stetig schrumpfen und die Nachfrage und die Ausgaben für digitale Inhalte ansteigen [4].
Im klinischen und akademischen Alltag gibt es einerseits zunehmend weniger Zeit für Recherche und Lektüre durch einen hohen Zeit- und Kostendruck sowie eine ausufernde Bürokratie. Andererseits sind Arzneimitteltherapieinformationen über die Rote Liste und Leitlinien bspw. über awmf.org tagesaktuell, auf höchstem Niveau und unabhängig von Schulen und Lehrmeinungen online einsehbar. Aktuellste Evidenz findet jedermann überall und problemlos mittels Online-Ressourcen wie medline oder der Cochrane-Library. Software wie AID-Klinik oder mediq ermöglicht es, in Windeseile Medikamenteninteraktionen zu überprüfen. Viele Lehrbücher sind auch als digitale Version verfügbar und die Suchfunktion in digitalen Dokumenten ist so gut, dass man Stichworte wesentlich schneller findet als durch das Studieren von Inhaltsverzeichnissen und Durchblättern von dicken Wälzern. Selbst Wikipedia bietet zu vielen Fragen hervorragende Informationen. Es gibt sehr wohl auch Falschinformationen im Internet und selbstverständlich sollten stets mehrere Quellen herangezogen werden. Hierbei sind vertrauenswürdige Quellen wichtig, die bspw. eine entsprechende Zertifizierung (wie z. B. den HONcode) erhalten oder aber durch Spezialisten redaktionell aufgearbeitete Informationen zur Verfügung stellen. Letztere werden laut einer Umfrage an Ärzten in Europa auch vor allem von Spezialisten genutzt [5]. Hausärzte scheinen wohl aus Zeitgründen eher auf eine konventionelle Suche mit einer Suchmaschine zurückgreifen, was meist jedoch keine ausreichende Informationen liefert. Interessanterweise waren in dieser Studie vor allem Ärzte in Weiterbildung und Professoren diejenigen, die Wikipedia nutzten. Aber trotz allem Kulturpessimismus besteht wohl auch hier kein Grund zur Sorge. Eine weitere Studie konnte zeigen, dass Medizinstudierende meist nicht nur Wikipedia nutzen, sondern auch weitere Ressourcen heranziehen [6].
Häufig wird das angenehmere Gefühl für die Augen beim Lesen als Vorteil von Printmedien genannt. Aber wer liest schon noch ein Lehrbuch von Anfang bis Ende? Lehrbücher, die alles abdecken wollen, sind notwendigerweise immer dicker, immer aufwendiger und immer teurer geworden, und nach einigen Jahren sind sie hoffnungslos veraltet. Ein Vorteil von Printmedien ist weiterhin die umfängliche Aufbereitung und auch systematisierte Darstellung einer gesamten Fachdisziplin. Wo elektronische Ressourcen und deren Nutzung meist wie ein Suchschweinwerfer nur einen Teil eines Wissensbereichs ausleuchten, erscheinen gedruckte Lehrbücher auch die Systematik eines Feldes darstellen und so in der Weiterbildung eine wichtige Struktur bieten zu können. Wenn überhaupt, nimmt man sich jedoch wegen des Lesekomforts etwa zur Prüfungsvorbereitung die Lektüre einer gedruckten Ausgabe vor. Dabei greift man aber eher auf ein Kompendium zurück als auf ein allumfängliches Lehrbuch.
Es ist jedoch nicht nur die Einfachheit der Suche, sondern auch die Aufnahme von Informationen und die Darbietung der Inhalte, die sich im digitalen Zeitalter verändert hat. Sogenannte digital natives nutzen Informationen anders als die Generationen, die mit Lehrbüchern aufgewachsen sind. Die Mediennutzung prägt auch ihr Lernen. Was nicht per se schlecht ist. Didaktische Texte können in digitalen Formaten über Videos und interaktive Grafiken bereichert werden, sodass digitale Inhalte, wenn gut recherchiert, reichhaltiger und umfassender sein können. Insbesondere zur Weiterbildung in dem Fach Psychiatrie und Psychotherapie sind zum Beispiel Videos als elektronische Ressource überaus lehrreich. Besonders komplexe Vorgänge in einer psychotherapeutischen Sitzung, die in Lehrbüchern kaum vollkommen erfasst werden, können durch Videomaterial besser abgebildet und vortrefflich zur Ausbildung herangezogen werden. Dies wird die klinische Erfahrung selbstverständlich nicht ersetzen, aber es stellt eine wichtige Komplementierung dar. Weiterbildungsinhalte können auch als Audiodateien in digitaler Form leicht weiterverbreitet werden und bequem bspw. auf dem Weg zur Arbeit angehört werden. Hier sind gute Angebote noch rar, jedoch äußerst wünschenswert. Idealerweise sind die als Hörbuch dargebotenen Inhalte verbunden mit elektronisch aufgearbeiteten Inhalten und man kann bspw. nach dem Anhören der Inhalte an einem Mutliple-Choice-Quiz teilnehmen, um sein Wissen abzuprüfen. So wird die Weiterbildung interaktiver, spannender und das mühselige Durcharbeiten und Einprägen von Abschnitten bspw. aus Arzneimittelkompendien ist nicht mehr notwendig.
Auch für die Kitteltasche braucht der Weiterbildungsassistent kein gedrucktes Nachschlagewerk mehr, um nach dem Medikament zu suchen, mit dem der Patient in der Rettungsstelle sich intoxikiert hat. Apps ermöglichen die wichtigen Informationen zu Halbwertszeit, üblicher Dosierung, Indikation, Kontraindikationen und Nebenwirkungen sowie meist zusätzlich auch Abbildungen von Tabletten immer gleich zur Hand zu haben. Und mit etwas Glück, wenn der Notarzt noch ein paar Tabletten gefunden hat, kann man sogar in dieser Situation Rückschlüsse auf das Präparat vornehmen.
Das Internet mit digitalen Dokumenten, Online-Enzyklopädien, Blogs, Youtube, Facebook, Twitter und ähnlichen Kanälen funktioniert schneller und über Verknüpfungen. Informationen, die in Lehrbüchern über Verweise auf andere Abschnitte deuten, können bei Online-Informationen direkt per Verlinkung mit einem Klick angesteuert werden. Online-Ressourcen zu psychischer Gesundheit sind hier einfacher zu betrachten und führen schneller zur Antwort. Im Internet lebt zudem das Wissen durch die Beteiligung aller Leser. In Diskussionsforen und durch Kommentare können verschiedene Sichtweisen beschrieben werden. Auch der internationale Austausch kann über Online-Plattformen verstärkt werden und lässt einen Blick über den Tellerrand zu.
In Zukunft werden digitale Ressourcen durch Interaktion mit künstlicher Intelligenz genutzt oder sogar erweitert werden. Diese kann dann bei Therapieentscheidungen helfen und nicht nur auf Expertenmeinungen, sondern direkt auf Daten zurückgreifen [7].
Lehrbücher werden dann kaum mehr Abnehmer finden und es wird ihnen womöglich nicht anders ergehen als dem Brockhaus.
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Literatur
- 1 Folb BL, Wessel CB, Czechowski LJ. Clinical and academic use of electronic and print books: the Health Sciences Library System e-book study at the University of Pittsburgh. J Med Libr Assoc 2011; 99: 218-228
- 2 Peterson MW, Rowat J, Kreiter C. et al. Medical students’ use of information resources: is the digital age dawning?. Acad Med 2004; 79: 89-95
- 3 Bellman P, Havens C, Bertolucci Y. et al. Facilitating physician access to medical reference information. Perm J 2005; 9: 27-32
- 4 Bailey A, Davis P, Henry T. et al. The Digital Disruption of Education Publishing: How Online Learning Is Reshaping the Industry’s Ecosystem. Boston Consultin Group; 2014
- 5 Kritz M, Gschwandtner M, Stefanov V. et al. Utilization and perceived problems of online medical resources and search tools among different groups of european physicians. J Med Internet Res 2013; 15: 1-11
- 6 Herbert VG, Frings A, Rehatschek H. et al. Wikipedia – challenges and new horizons in enhancing medical education. BMC Med Educ 2015; 15: 32
- 7 Middleton B, Sittig DF, Wright A. Clinical Decision Support: A 25 Year Retrospective and a 25 Year Vision. IMIA Schattauer GmbH; 2016: 103-116
Korrespondenzadresse
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Literatur
- 1 Folb BL, Wessel CB, Czechowski LJ. Clinical and academic use of electronic and print books: the Health Sciences Library System e-book study at the University of Pittsburgh. J Med Libr Assoc 2011; 99: 218-228
- 2 Peterson MW, Rowat J, Kreiter C. et al. Medical students’ use of information resources: is the digital age dawning?. Acad Med 2004; 79: 89-95
- 3 Bellman P, Havens C, Bertolucci Y. et al. Facilitating physician access to medical reference information. Perm J 2005; 9: 27-32
- 4 Bailey A, Davis P, Henry T. et al. The Digital Disruption of Education Publishing: How Online Learning Is Reshaping the Industry’s Ecosystem. Boston Consultin Group; 2014
- 5 Kritz M, Gschwandtner M, Stefanov V. et al. Utilization and perceived problems of online medical resources and search tools among different groups of european physicians. J Med Internet Res 2013; 15: 1-11
- 6 Herbert VG, Frings A, Rehatschek H. et al. Wikipedia – challenges and new horizons in enhancing medical education. BMC Med Educ 2015; 15: 32
- 7 Middleton B, Sittig DF, Wright A. Clinical Decision Support: A 25 Year Retrospective and a 25 Year Vision. IMIA Schattauer GmbH; 2016: 103-116