Aktuelle Urol 2017; 48(05): 400-402
DOI: 10.1055/s-0043-110112
Referiert und kommentiert
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Überaktive Harnblase: Welcher α1-Blocker wirkt am besten?

Matsukawa Y. et al.
Comparison of Silodosin and Naftopidil for Efficacy in the Treatment of Benign Prostatic Enlargement Complicated by Overactive Bladder: A Randomized, Prospective Study (SNIPER Study).

J Urol 2017;
197: 452-458
Further Information

Publication History

Publication Date:
30 August 2017 (online)

 

    Patienten mit gutartig vergrößerter Prostata klagen häufig über Beschwerden der unteren Harnwege. Liegt zusätzlich eine überaktive Blase (Overactive Bladder; OAB) vor, werden diese Patienten meist mit einem α1-Blocker behandelt. Japanische Wissenschaftler haben im Rahmen einer prospektiven Multicenter-Studie die therapeutische Effektivität zweier α1-Blocker untersucht.


    #

    Die drei bekannten Subtypen des α1-Adrenozeptors (α1A, α1B und α1 D) werden in unterschiedlicher Verteilung und Dichte in den Geweben des unteren Harntrakts exprimiert. Matsukawa und Kollegen sind der Frage nachgegangen, ob α1-Blocker mit unterschiedlicher Rezeptoraffinität gleichermaßen dazu geeignet sind, irritative und obstruktive Beschwerden bzw. eine OAB-Symptomatik zu lindern.

    In die randomisierte, kontrollierte Studie wurden zwischen 2012 und 2013 350 nicht medikamentös vorbehandelte Männer mit benigner Prostatavergrößerung eingeschlossen. Alle Patienten litten seit mindestens drei Monaten an irritativen und obstruktiven Harnwegsbeschwerden und hatten einen „Overactive Bladder Symptom Score“ (OABSS) ≥ 3. 175 Patienten wurden mit Silodosin, einem reinen α1A-Adrenozeptor-Antagonist behandelt. Sie erhielten zunächst für vier Wochen täglich 4 mg und in den folgenden acht Wochen täglich 8 mg des Präparats. Die übrigen 175 Patienten wurden während der beiden Studienphasen mit täglich 50 mg bzw. 75 mg Naftopidil behandelt. Dieser α1-Blocker bindet ebenfalls den α1A-Adrenozeptor, zeichnet sich jedoch zusätzlich durch eine dreifach höhere Affinität zum α1 D-Subtyp aus. Die Studienendpunkte umfassten die Veränderungen des „International Prostate Symptom Score“ (I-PSS), des I-PSS-Lebensqualität-Subscore, des OABSS sowie verschiedener Uroflowmetrie-Parameter.

    Ergebnisse Die Daten von je 157 Patienten (durchschnittliches Alter 70 Jahre) beider Behandlungsgruppen konnten ausgewertet werden. Sowohl unter Silodosin als auch unter Naftopidil hatten sich 4 bzw. 12 Wochen nach Behandlungsbeginn der durchschnittliche I-PSS-Gesamtscore, der I-PSS-Lebensqualität-Score sowie der OABSS signifikant gebessert. Die mit Silodosin behandelten Patienten wiesen jedoch nach der zwölfwöchigen Therapiedauer im Vergleich zu den Patienten der Naftopidil-Gruppe eine signifikant stärkere Verbesserung des Gesamt-OABSS, der OABSS-Subscores sowie des I-PSS-Lebensqualität-Score auf. Auch der maximale Harnfluss sowie die Restharnmenge nach Miktion waren zu Studienende in beiden Gruppen signifikant besser als vor Therapiebeginn. Bei den mit Silodosin behandelten Patienten war hierbei im Vergleich zu den Probanden der Naftopidil-Gruppe eine signifikant deutlichere Zunahme des Harnflusses zu verzeichnen.

    Fazit

    Eine effektive Linderung von irritativen und obstruktiven Harnwegsbeschwerden, so die Schlussfolgerung der Autoren, ist im wesentlichen auf die Blockade von α1A- und in geringerem Maße auf die Hemmung von α1 D-Adrenozeptoren zurückzuführen. Der selektive α1A-Antagonist Silodosin sei daher als α1-Blocker der ersten Wahl zur Behandlung einer OAB-Symptomatik bei Patienten mit gutartiger Prostatavergrößerung zu empfehlen.

    Dr. med. Judith Lorenz, Künzell

    Kommentar

    Die SNIPER Studie von Matsukawa et al. untersucht die Wirkung von zwei α1-Adrenozeptorblockern (α1-ARB) hinsichtlich obstruktiver und irritativer Symptome bei Patienten mit benigner Prostatahyperplasie (BPH) und überaktiver Blase (OAB). Die randomisierte prospektive open label head-to-head Studie vergleicht den ausschließlich α1A-ARB Silodosin (SIL) mit dem vorwiegend α1D-ARB Naftopidil (NAF). Zielparameter waren der IPSS, der IPSS-QoL, der OABSS sowie eine Uroflowmetrie mit Restharnbestimmung. Die Autoren zeigten, dass SIL dem NAF nach 12-wöchiger Therapie im OABSS statistisch signifikant überlegen ist. Ferner zeigte sich ein statistisch signifikanter Unterschied zwischen beiden Substanzen nach 12 Wochen hinsichtlich Q max, Miktionsvolumen und Restharn mit Vorteil für SIL.


    Die Studie weist eine statistisch adäquate Patientenzahl (n = 314) auf. Die Einschränkung eines „open label“ wurde von den Autoren zwar selbst als Limitation genannt, scheint für mich jedoch von minderer Bedeutung. Wesentlich bedauerlicher ist das Fehlen einer Placebogruppe, weshalb jegliche Aussage hinsichtlich eines Unterschieds zur Baseline hinfällig ist. Aus zahlreichen Studien ist ein hoher Placeboeffekt bei der Behandlung von BPS- und OAB-Patienten bekannt. Die Studie kann somit nur Aussagen zum direkten Vergleich beider Medikamente treffen.


    Kritisch sehe ich die hier angenommene Assoziation von BPH und OAB. Oelke et al. [3] und Oh et al. [4] konnten zeigen, dass ein zunehmender Obstruktionsgrad eine Detrusorhyperaktivität (DHA) wahrscheinlicher werden lässt. Das Prostatavolumen hingegen weist keine Korrelation mit einer Blasenauslassobstruktion (BOO) auf. Wünschenswert wäre eine urodynamische Untersuchung mit Druck-Fluss-Studie gewesen. Hierdurch hätte neben einer Obstruktionsanalyse der Nachweis für eine Detrusorhyperaktivität oder sensorische Urgency geführt werden können. Gleichzeitig wäre eine Stratifizierung entsprechend dem Obstruktionsgrad möglich gewesen.


    Allein der OABSS bleibt somit als Ausgangswert zu berücksichtigen. Dabei ist verwunderlich, dass auch Patienten mit nur einer Drangepisode pro Woche eingeschlossen wurden. Der minimale OABSS Punktwert musste ≥ 3 sein, was mit 8 Miktionen pro Tag und 2-maliger Nykturie bereits erreicht ist. Der maximale Punktwert des OABSS beträgt 15 Punkte, die minimale klinisch relevante Differenz 3 Punkte. Insgesamt halte ich daher dieses Einschlusskriterium für zu niedrig gesetzt.


    Für den OABSS zeigt sich sowohl im Gesamtscore wie auch für Q3 (Urgency) oder Q4 (Dranginkontinenz) eine signifikante Überlegenheit von SIL versus NAF. Dabei bleibt von den Autoren jedoch unkommentiert, dass unter SIL nach 12 Wochen der OABSS Gesamtscore um nur 2,8 Punkte und unter NAF um nur 2,3 Punkte abnahm. Selbst ohne Berücksichtigung einer möglichen Placebowirkung liegt dieser Wert unter der minimalen klinisch relevanten Differenz. Es muss somit die Schlussfolgerung gezogen werden, dass weder SIL noch NAF einen klinisch relevanten Einfluss auf die OAB hatten, wenn auch ein statistisch signifikanter Unterschied zugunsten von SIL herausgearbeitet werden konnte.


    Die Studie belegt ferner nicht, dass die Wirkung von α1-ARB auf die BPH bzw. BOO mit einer Wirkung auf die OAB-Symptomatik einhergeht. Es ist meines Erachtens zu kurz gedacht, dass α1-ARB vorwiegend oder gar ausschließlich im Bereich des unteren Harntraktes wirken. α1A-AR finden sich nur spärlich im Detrusor selbst [2]. Ein wesentlicher Effekt dürfte zentral zu finden sein. So konnte beispielsweise im Tierversuch nachgewiesen werden, dass Tamsulosin als vorwiegend α1A-ARB im zentralen Miktionszentrum bei Ratten einen deutlichen Einfluss auf die Kontraktionskraft und -zeit durch Inhibition der Expression von c-Fos und NGF hat, während NAF keinerlei Effekt zeigte [1]. Veränderung des α1-AR-Profils in zentralen Strukturen bei Vorliegen einer BPH oder BOO wurden meines Wissens bislang (noch) nicht untersucht. Somit könnten BPH/BOO und OAB unabhängig voneinander beeinflusst worden sein, ein Zusammenhang ist nicht bewiesen. Die zahlreichen unterschiedlichen Wirkorte der α1-ARB mögen ein Grund für die Inhomogenität der Studienergebnisse zu diesem Thema in der Literatur sein.


    Abschließend bleibt zu erwähnen, dass NAF derzeit lediglich im asiatischen Raum zugelassen ist, weshalb diese Studie für die klinische Praxis im europäischen Raum eine eher untergeordnete Bedeutung haben dürfte.


    Der Autor

    Zoom Image
    Prof. Dr. med. Dr. phil Thomas Bschleipfer, F.E.B.U. Chefarzt der Klinik für Urologie, Andrologie und Kinderurologie Klinikum Weiden/Kliniken Nordoberpfalz AG

    Literatur


    [1] Ko IG, Moon BM, Kim SE et al. Effects of Combination Treatment of Alpha 1-Adrenergic Receptor Antagonists on Voiding Dysfunction: Study on Target Organs in Overactive Bladder Rats. Int Neurourol J 2016; 20: S150 – S158


    [2] Michel MC, Vrydag W. Alpha1-, alpha2- and beta-adrenoceptors in the urinary bladder, urethra and prostate. Br J Pharmacol 2006; 147 (Suppl 2): S88 – S119


    [3] Oelke M, Baard J, Wijkstra H et al. Age and bladder outlet obstruction are independently associated with detrusor overactivity in patients with benign prostatic hyperplasia. Eur Urol 2008; 54: 419 – 426


    [4] Oh MM, Choi H, Park MG et al. Is there a correlation between the presence of idiopathic detrusor overactivity and the degree of bladder outlet obstruction? Urology 2011; 77: 167 – 170


    #


    Zoom Image
    Prof. Dr. med. Dr. phil Thomas Bschleipfer, F.E.B.U. Chefarzt der Klinik für Urologie, Andrologie und Kinderurologie Klinikum Weiden/Kliniken Nordoberpfalz AG