ergopraxis 2016; 9(11/12): 11-13
DOI: 10.1055/s-0042-116753
Gesprächsstoff
© Georg Thieme Verlag Stuttgart – New York

Langfristgenehmigungen – STOPP! Menschen mit psychischen Erkrankungen sind benachteiligt

Michael Busemann

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Publikationsdatum:
11. November 2016 (online)

 

Menschen mit chronischen psychischen Erkrankungen haben es schwer, langfristig Ergotherapie verordnet zu bekommen. Dabei ist sie ein wichtiger Baustein für deren Tagesstrukturierung und die Bewältigung von Krisen, weiß Michael Busemann. Er fordert eine Änderung der Heilmittelrichtlinie und sucht Gleichgesinnte, die sich für diese Forderung ebenfalls starkmachen wollen.


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Michael Busemann ist Ergotherapeut und leitet seit 2011 die Ergotherapie in einer ambulanten Einrichtung für Menschen mit psychischen Erkrankungen. Diese bietet auch ambulante psychosoziale Betreuung, Soziotherapie und ambulante psychiatrische Krankenpflege. Er hat kürzlich eine Fortbildung zum Fachtherapeuten für Psychiatrie absolviert und seine Abschlussarbeit dem Thema „Langfristgenehmigungen bei Menschen mit chronischen psychischen Erkrankungen“ gewidmet. Kontakt: michaelbusemann@aol.com. Abb.: C. Teyen

Ergotherapeutische Verordnungen unterliegen dem Gebot der Wirtschaftlichkeit und werden in die Richtgrößen des Arztes eingerechnet. Seit Juli 2011 können Ärzte unter bestimmten Voraussetzungen bei Menschen mit besonders schweren dauerhaften funktionellen oder strukturellen Schädigungen Heilmittel auch extrabudgetär verordnen. Möglich ist dies über die sogenannten Praxisbesonderheiten oder über den langfristigen Heilmittelbedarf. Derartige Verordnungen werden nicht in die Richtgröße der Arztpraxis eingerechnet.

Viele psychisch Erkrankte sind sozial isoliert und fürchten um ihren Arbeitsplatz.

Welche Diagnosen für extrabudgetäre Verordnungen von Heilmitteln infrage kommen, hat der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) in einem Merkblatt der Heilmittelrichtlinie festgelegt: Anlage 1 listet die Diagnosen für Praxisbesonderheiten auf und Anlage 2 sämtliche Diagnosen, für die der G-BA einen langfristigen Heilmittelbedarf sieht. Psychische Erkrankungen sind – abgesehen vom Rett-Syndrom und ab Januar 2017 dem Asperger-Syndrom – dabei nicht aufgeführt. Eine wiederholte Nachfrage beim G-BA, warum andere psychische chronische Erkrankungen in der Anlage 2 nicht gelistet seien, ergab die Auskunft: Es könne lediglich der Normalfall reguliert werden. Diagnosen also, die regelhaft einen langfristigen Heilmittelbedarf bedeuten. Psychische Erkrankungen täten dies grundsätzlich nicht. Für Ausnahmen von dieser Regel gebe es aber die Möglichkeit, ebenfalls einen Antrag auf langfristigen Heilmittelbedarf zu stellen, in dem man die Vergleichbarkeit mit den gelisteten Diagnosen darlegt und begründet.

Auch der neue Beschluss des G-BA vom 19. Mai 2016 zur Änderung der Heilmittelrichtlinie, die zum 1. Januar 2017 in Kraft tritt, lässt psychische Erkrankungen in der Anlage 2 weiterhin außen vor.

Psychische Erkrankungen belasten langfristig

Auf die vom G-BA genannte Möglichkeit, für Patienten mit einer in der Anlage 2 nicht gelistete Diagnose eine Langfristgenehmigung zu beantragen, weist auch das Merkblatt hin. Patienten dabei zu begleiten ist seit Jahren Teil meiner täglichen Arbeit. Voraussetzung hierfür ist, dass ihre Diagnose im Hinblick auf Schwere und Dauer mit den gelisteten vergleichbar ist. Diese Anträge stellen die Patienten selbst, die Erteilung oder Ablehnung einer solchen Langfristgenehmigung obliegt der Krankenkasse oder dem Medizinischen Dienst der Krankenversicherung.

Dass das Vorliegen einer psychischen Erkrankung per se noch keinen langfristigen Heilmittelbedarf erfordert, mag für sich genommen richtig sein. Ihn jedoch grundsätzlich auszuschließen ist inhaltlich wenig hilfreich. Psychische Erkrankungen sind im Regelfall eine länger andauernde und nahezu alle Lebensbereiche betreffende Last und bedürfen somit in vielen Fällen einer langfristigen Behandlung. So schreibt die Deutsche Rentenversicherung in einem Positionspapier zur Bedeutung psychischer Erkrankungen in der Rehabilitation und bei Erwerbsminderung [1]: „Bei psychischen Störungen wird ein Reha-Antrag häufig erst in einem bereits chronischen Stadium der Erkrankung gestellt. Ziel muss es deshalb sein, Versicherten mit psychischen Störungen rechtzeitig eine adäquate Behandlung und ggf. Rehabilitation zukommen zu lassen.“

Für psychische Erkrankungen sieht die neue Heilmittelrichtlinie keinen langfristigen Heilmittelbedarf.

Patienten mit schwerer Depression, Schizophrenie oder Angststörung sind benachteiligt.

Durch die aktuelle Vorgehensweise werden insbesondere psychisch erkrankte Menschen mit schweren Krankheitsverläufen, wie sie etwa bei Schizophrenien, Angststörungen oder bei schweren Depressionen auftreten, auf verschiedene Weise benachteiligt.


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Weitreichende Folgen bis hin zur Erwerbslosigkeit

Im Indikationskatalog der Ergotherapie finden sich unter dem Buchstaben F etwa hundert unterschiedliche Diagnosen: Das Spektrum reicht von Schizophrenien über Angsterkrankungen, Persönlichkeitsstörungen bis hin zu Suchterkrankungen. Dass von diesen keine einzige regelhaft einen ergotherapeutischen Heilmittelbedarf von einem Jahr rechtfertigt – das sind die formalen zeitlichen Bedingungen für eine Langfristgenehmigung –, ist nur schwer zu glauben. Es widerspricht auch allen Erfahrungen, die ich als Ergotherapeut in einer Einrichtung, in die ausschließlich chronisch psychisch erkrankte Menschen kommen, seit mehreren Jahren mache. Denn fast sämtliche psychische Erkrankungen haben für die betroffenen Menschen über die Grunderkrankung hinaus weitreichende Folgen [1]. Häufig sind sie sozial isoliert und haben den Verlust ihres Arbeitsplatzes erlebt oder zu befürchten. Sie sind verunsichert im Umgang mit sich, ihrer Erkrankung oder den Menschen in ihrer Umgebung und häufig Diskriminierungen ausgesetzt. Ihre Erkrankung und die resultierenden Folgen erschweren ihnen die Teilhabe am normalen gesellschaftlichen, kulturellen oder beruflichen Leben erheblich oder machen sie sogar unmöglich. Allein hierin ist nach meinem Dafürhalten eine Vergleichbarkeit in Bezug auf Dauer und Schwere mit den in der Anlage 2 aufgeführten Diagnosen ausreichend begründet.


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Mit Ergotherapie wieder handlungsfähig werden

Unter Einbeziehung der genannten Faktoren können Patienten mithilfe der Ergotherapie lernen, sich im Alltag wieder besser zurechtzufinden. Menschen mit schweren Depressionen beispielsweise können Wege zurück auf die Handlungsebene finden und erleben, wieder etwas für sich selbst zu tun. Ergotherapeuten können in der Therapie gezielt Erfolgserlebnisse vermitteln oder den Umgang mit Misserfolgen oder krisenhaften Situationen ansprechen. Bei Persönlichkeitsstörungen kann die Ergotherapie etwa dabei helfen, zu einem verbesserten Selbstbild zu gelangen. Die Erkrankten können situationsgerechtes Verhalten üben und sich adäquate Möglichkeiten der Kommunikation und Handlungsfähigkeit aneignen. Suchtpatienten erhalten Hilfe, ihren Haushalt selbstständig zu führen oder sinnvolle Freizeitgestaltung neu zu erlernen, individuelle Risikosituationen als solche zu erkennen und zu meistern und im günstigen Fall auch wieder arbeitsfähig zu werden. Darüber hinaus bildet die Ergotherapie für alle genannten Gruppen einen wichtigen Baustein in der Tagesstruktur.

Gerade im psychiatrischen Bereich fällt die Ergotherapie mit ihrem ressourcenorientierten Behandlungsansatz auf sehr fruchtbaren Boden und leistet einen wichtigen Beitrag zur Genesung und zur Verbesserung der Lebensqualität der Patienten [4]. Nicht umsonst ist sie in sämtlichen stationären psychiatrischen Einrichtungen ein fester Bestandteil der Behandlung.


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Ergotherapie ist wichtiger Baustein der gemeindenahen Versorgung

Als ein Modul der ambulanten gemeindenahen Versorgung kann Ergotherapie dazu beitragen, kostspielige stationäre Aufenthalte deutlich zu verringern [2]. Bei regelmäßiger Ergotherapie können Krisen und Veränderungen im Befinden der Patienten schneller erkannt werden und infolge dessen etwaige Interventionen seitens der Fachärzte früher erfolgen. Diese Erfahrung deckt sich mit der eines niedergelassenen Neurologen, mit dem ich zusammenarbeite. Auch in Krisensituationen bewährt sich die Ergotherapie häufig, da Therapieplätze bei einem Psychotherapeuten gerade in einer eher ländlichen Region meist mit einer Wartezeit von etwa einem Jahr verbunden sind. Die ambulante Ergotherapie kann Patienten in Akutsituationen helfen. Sie ist ein wichtiger und vergleichsweise preiswerter Baustein in der gemeindenahen Versorgung der Patienten. Sie unterstützt die Menschen dort, wo sie ihren Alltag verbringen und in unterschiedlichen Lebensbereichen [3].

Eine Änderung der Anlage 2, in der dann auch beispielsweise Suchterkrankungen, affektive Störungen, Angsterkrankungen, schizophrene oder traumatische Störungen auftauchen, wäre für die Sicherstellung einer solchen Versorgung ein wichtiges, längst überfälliges Signal. Ein stationärer Aufenthalt sollte entsprechend der Prämisse ambulant vor stationär lediglich die Ultima Ratio bleiben. Dennoch ist es gängige Praxis, dass den Fachärzten das Schreiben einer Einweisung in vielen Fällen leichter gemacht wird als die Verordnung ambulanter Ergotherapie.


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Wenn der Regelfall zur Hürde wird

Die aktuell angewandte Vorgehensweise führt dazu, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen grundsätzlich den umständlichsten der eingangs beschriebenen Wege auf sich nehmen müssen, um bei Bedarf eine Langfristgenehmigung für Ergotherapie von ihrer Krankenkasse zu erhalten. Leiden sie nicht an einer psychischen Erkrankung wie einem Rett-Syndrom oder Asperger-Syndrom, müssen sie zunächst den Regelfall von 40 Einheiten durchlaufen. Erst danach können die Patienten einen Antrag auf langfristigen Heilmittelbedarf stellen. Daran wird auch die Neufassung der Heilmittelrichtlinie nichts ändern. Wird ihrem Antrag schließlich stattgegeben, kostet die reine Behandlung mit oder ohne Langfristgenehmigung exakt denselben Betrag. Doch hinzugekommen ist ein nicht zu unterschätzender Zeit- und Bürokratieaufwand auf Seiten des Patienten, des Therapeuten, des Facharztes und nicht zuletzt der angeschriebenen Krankenkasse. Durch die Neufassung der Heilmittelrichtlinie, die am 1. Januar 2017 in Kraft tritt, sollen über den Wegfall des Genehmigungsverfahrens bei den in der Anlage 2 gelisteten Diagnosen Kosten gespart werden. Für Verordnungen mit diesen Diagnosen wird so der bürokratische Aufwand deutlich verringert. Sie sind zudem automatisch aus der Wirtschaftlichkeitsprüfung des Arztes herausgerechnet.

Für Menschen mit chronisch psychischen Erkrankungen gilt dies nicht. Sie haben es weiterhin schwer: Denn spukt das Phantom des Heilmittel-Regresses umher, wird der Arzt unter Umständen nur wenig Bereitschaft zeigen, eine Ergotherapie im Rahmen des Regelfalls zu verordnen. Dann hat der Patient auch keine Chance, bei seiner Krankenkasse einen Antrag für langfristigen Heilmittelbedarf zu stellen. Und das kommt häufig vor, wie meine Erfahrung zeigt.

Ergotherapie leistet einen wichtigen Beitrag zur Genesung und Lebensqualität.


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Forderung: Einfachere Verfahren

Es wäre mehr als wünschenswert, dieses Verfahren auch für chronisch psychisch erkrankte Menschen zu vereinfachen. Dies kann durch das Schaffen einer ganz neuen Verfahrensweise geschehen oder durch eine Erweiterung der aufgeführten Diagnosen der Anlage 2. Denn sollte abzusehen sein, dass eine Indikation für eine Ergotherapie länger bestehen wird, muss diese unter allen Umständen auch gewährleistet werden können. Allein die Dauer und die Schwere einer vorliegenden Erkrankung sollte dabei ausschlaggebend sein und nicht ihre Bezeichnung.

Vor diesem Hintergrund ließe sich darüber streiten, ob die Anlage 2 für diese Beurteilung überhaupt noch ein geeignetes Instrument ist. Will man weiterhin an dieser Liste festhalten, wäre es dringend angezeigt, auch Diagnosen aus dem Bereich der psychischen Erkrankungen aufzunehmen. Sonst entsteht in der Umsetzung ein Ungleichgewicht.

Eine andere, eher halbherzige Möglichkeit, den Zugang zu ambulanter Ergotherapie zu erleichtern, bestünde darin, dass Patienten zu einem früheren Zeitpunkt, beispielsweise nach 20 Behandlungseinheiten, einen Antrag auf langfristigen Heilmittelbedarf stellen könnten. Bei den Ärzten könnte das die Angst vor einem Heilmittel-Regress mindern. Zudem könnten nach Ablauf dieser Zeit Patient, Therapeut und Facharzt die Situation des Patienten gut einschätzen und mit ihm gemeinsam einen fundiert begründeten Antrag auf den Weg bringen. Und sollte sich der Patient schon vor Ablauf des genehmigten Zeitraumes so weit stabilisiert haben, dass eine Fortsetzung der Therapie obsolet geworden ist, dürfen sich schließlich alle freuen. Auch die Krankenkasse. Sich in diese Richtung geirrt zu haben, wäre auf jeden Fall weit weniger unangenehm und folgenschwer als andersherum.

Die beste Lösung für die Patienten wäre jedoch, dass die Liste der Anlage 2 mit den psychischen Diagnosen erweitert wird.

Michael Busemann

Dauer und Schwere einer Erkrankung sollten ausschlaggebend für die Langfristverordnung sein und nicht ihre Bezeichnung.


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Michael Busemann ist Ergotherapeut und leitet seit 2011 die Ergotherapie in einer ambulanten Einrichtung für Menschen mit psychischen Erkrankungen. Diese bietet auch ambulante psychosoziale Betreuung, Soziotherapie und ambulante psychiatrische Krankenpflege. Er hat kürzlich eine Fortbildung zum Fachtherapeuten für Psychiatrie absolviert und seine Abschlussarbeit dem Thema „Langfristgenehmigungen bei Menschen mit chronischen psychischen Erkrankungen“ gewidmet. Kontakt: michaelbusemann@aol.com. Abb.: C. Teyen