CC BY-NC-ND 4.0 · Gesundheitswesen 2018; 80(03): 226-231
DOI: 10.1055/s-0042-116223
Originalarbeit
Eigentümer und Copyright ©Georg Thieme Verlag KG 2018

Zehn Jahre Qualitätsmanagement: Wahrnehmung und Stellenwert aus Sicht von Hausärzten in einem Ärztenetz

10 Years of Quality Management: Perception and Importance from GPs’ Point of View
T. Kühlein
1   Allgemeinmedizinisches Institut, Universitätsklinikum Erlangen, Erlangen
,
F. Madlo-Thiess
2   Medizinische Fakultät, Allgemeinmedizinisches Institut, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Erlangen
,
V. Wambach
3   Gesundheitsnetz Qualität und Effizienz eG, Vorstand, Nürnberg
,
S. Schaffer
1   Allgemeinmedizinisches Institut, Universitätsklinikum Erlangen, Erlangen
› Author Affiliations
Further Information

Korrespondenzadresse

Dr. med. Prof. Thomas Kühlein
Allgemeinmedizinisches Institut
Universitätsklinikum Erlangen
Universitätsstraße 29
91054 Erlangen

Publication History

Publication Date:
25 October 2016 (online)

 

Zusammenfassung

Hintergrund: Vor 10 Jahren wurde Qualitätsmanagement (QM) für den ambulanten Sektor verpflichtend eingeführt.

Ziel der Arbeit: Wir wollten wissen, wie die Einführung von QM von Hausärzten erlebt wurde, welchen Stellenwert es heute für sie hat und wie sie die Zukunft von QM einschätzen.

Material und Methoden: In einem qualitativen Studiendesign wurden Ärzte eines Ärztenetzes in Experteninterviews anhand eines semistrukturierten Interviewleitfadens befragt. Die verschriftlichten Interviews wurden in einem zunächst induktiven, dann deduktiven Prozess in Triangulation kodiert. In einem Diskussions- und Einigungsprozess konnten Themenfelder und Kodefamilien identifiziert werden. Die Befragung endete nach Informationssättigung.

Ergebnisse: Für die Standardisierung einiger Basisprozesse wie Hygiene bestand Einverständnis. QM ließe sich jedoch kaum auf einen Bereich übertragen, der wesentlich von zwischenmenschlicher Beziehung und Kommunikation geprägt sei. Die Ärzte gaben an, QM auf ein erträgliches und für sie sinnvolles Maß reduziert zu haben. Zertifizierung wurde weiterestgehend abgelehnt. Die Erwartungen für die nächsten 10 Jahre waren im Sinne immer mehr bürokratischer Vorgaben eher pessimistisch.

Schlussfolgerung: Die gesetzliche Einführung von QM war ein Eingriff der Gesellschaft in den professionellen Bereich der Ärzte. Statt passivem Widerstand und Beschränkung von QM auf ein erträgliches Minimum könnte eine engagierte eigenständige Qualitätsarbeit helfen, gesellschaftliches Vertrauen zurückzugewinnen, um die notwendige professionelle Autonomie zu erhalten.


#

Abstract

Background: Quality management (QM) became mandatory for the ambulatory sector of the German health care system 10 years ago.

Objectives: The aim of this study was to find out how general practitioners (GPs) perceived the introduction of this measure, how they see it today and what they expect of the future concerning QM.

Materials and Methods: In a qualitative study, interviews following a semi-structured guideline with GPs were conducted. Following transcription, interviews were coded in triangulation, first inductively, then deductively until saturation was reached. Main topics and code families were agreed on after discussion.

Results: There was consensus on the necessity of standardization of basic processes like hygiene. However, the application of QM to an activity that emphasizes personal relationships and communication was seen as barely possible. GPs stated that they reduced QM to a tolerable and for them reasonable minimum. GPs mostly refused certification. The next 10 years were seen with pessimism in terms of more bureaucratic guidelines.

Conclusion: The statutory introduction of QM was an attack on medical professionalism. Instead of passive resistance and reduction of QM to a minimum, engaged independent quality work might help to regain the trust of society we seem to have lost and restore the professional autonomy we need for our work.


#

Einleitung

Qualitätsmanagement (QM) ist der Abgleich realer Prozesse mit Standards, um eine bestimmte Qualität zu erreichen. Standards sind der Kern aller rationalen Regulation von Systemen [1]. Sie gehören zum Wesen westlicher Kultur und versprechen wachsenden Fortschritt durch erhöhte Kontrolle und Vernunft [2]. Kostensteigerungen im Gesundheitswesen und der politische Wille hier regulierend einzugreifen, führten zu gesetzlichen Maßnahmen der Qualitätssicherung [3]. Es wurden ärztlicherseits QM-Systeme, Leitlinien und Qualitätsindikatoren entwickelt, um intraprofessionell mehr Kontrolle über die Individualität der Ärzte zu erlangen und dadurch dem Fachgebiet die professionelle Autonomie zu erhalten [4] [5] [6]. Dieser, der Professionalisierung dienende Versuch der Standardisierung, wurde von anderen Ärzten häufig als Proletarisierung und paradoxerweise als Deprofessionalisierung empfunden [7] [8]. Timmermans und Berg fassten die Aufgabe der Standardisierung folgendermaßen zusammen: „Wenn richtig angewendet, verspricht sie die Medizin zugänglicher, kosteneffizienter und demokratischer zu machen. Falsch angewendet, könnte sie jedoch Kreativität behindern und die Gesundheitsversorgung in eine bürokratische Zwangsjacke stecken“ [9].

Mit dem GKV-Modernisierungsgesetz (§135a Abs. 2 SGB V) wurde 2004 der ambulante Sektor verpflichtet, QM einzuführen. Im Jahr 2006 trat die „QM-Richtlinie vertragsärztliche Versorgung“ (ÄQM-RL) in Kraft. Damit war die gesetzliche Seite der Einführung abgeschlossen. Bislang gibt es nur wenig Forschung darüber, wie Ärzte selbst QM wahrnehmen [10] [11] [12]. Marcks widmete sich diesem Thema in einer Fragebogenstudie auf Basis der Qualitätsziele des QM-Systems „Qualität und Entwicklung in Praxen (QEP)“ der Kassenärztlichen Bundesvereinigung [11]. Ärzte, Mitarbeiter und Patienten waren aufgefordert einzelne QEP-Kriterien auf einer 4-stufigen Skala zu bewerten. Die Ergebnisse zeigten, dass sich die Bewertungen der Erreichung bestimmter Qualitätsziele zwischen Patienten und Mitarbeitern einer Praxis unterschieden, wobei Patienten meist positiver bewerteten. Obermann und Müller untersuchten, inwieweit Ärzte QM als eine Methode zur Erhöhung der Patientensicherheit ansehen [12]. Auch hier handelt es sich um eine quantitative Arbeit. Von den teilnehmenden Praxen waren 23% zertifiziert, sodass diesbezüglich von einem deutlichen Selektionsbias ausgegangen werden muss. Interne-, patientenbezogene- und externe Praxisprozesse wurden überwiegend als unverändert, von erheblichen Prozentsätzen aber auch als verbessert wahrgenommen. Die Befragung fokussierte stark auf den Umgang mit Fehlern und Critical Incident Reporting-Systemen (CIRS) und sagt nichts zu den professionellen Einstellungen der Ärzte. In einer ebenfalls quantitativen Studie von Auras et al. wurden Praxen mit etabliertem QM-System (Fälle) mit Praxen in verschiedenen Stadien der Einführung von QM (Kontrollen) verglichen [10]. Fallpraxen setzten signifikant häufiger wesentliche Qualitätsanforderungen um als Kontrollpraxen. Die genannten Studien beschäftigten sich mit dem Einfluss des QM auf Praxisabläufe, ließen die Meinungen und Einstellungen der Ärzte jedoch weitestgehend außer Acht. Wir wollten wissen, wie die Einführung von QM von Hausärzten eines Ärztenetzes erlebt wurde, welchen Stellenwert es heute für sie hat und wie sie die Zukunft von QM einschätzen.


#

Methodik

Um Komplexität und gegebenenfalls Widersprüchlichkeiten in Meinungen und Einstellungen der Befragten sichtbar zu machen und uns dem Thema offen und explorativ zu nähern, wurde ein qualitatives Studiendesign gewählt. Die teilnehmenden Ärzte wurden in Experteninterviews einzeln befragt [13].

Auswahl der Ärzte

Alle Allgemeinmediziner und hausärztlichen Internisten eines städtischen Ärztenetzes wurden über die Studie aufgeklärt und zur Teilnahme eingeladen. Nachdem einer der Autoren (VW) Gründer und Leiter des Arztnetzes ist, erfolgte die Teilnahme und die Analyse der Daten der Netzleitung gegenüber anonym.


#

Datenerhebung

Die Interviews wurden in der Reihenfolge ihrer Rekrutierung von Oktober 2014 bis Februar 2015 durch eine Wissenschaftlerin (FMT) in den Praxen der Ärzte durchgeführt, dauerten etwa 30–60 min und endeten bei Erreichen der Informationssättigung. Sie erfolgten semistrukturiert anhand eines interdisziplinär (Medizin, Medical Process Management, Psychologie) entwickelten Interviewleitfadens mit Haupt- und Unterfragen ([Tab. 1]).

Tab. 1 Hauptfragen des Interviewleitfadens.

  1. Wie haben Sie die Einführung von QM erlebt?

  2. Warum, glauben Sie, hat der Gesetzgeber QM damals eingeführt?

  3. Wie würden Sie selbst QM definieren oder jemandem erklären was QM ist?

  4. Welchen Stellenwert hat QM in Ihrer eigenen Praxis?

  5. Welche Zukunft erwarten Sie für QM in weiteren 10 Jahren?

Die Interviews wurden auditiv aufgezeichnet, anhand definierter Regeln verschriftlich und anonymisiert. Danach wurden die Aufnahmen gelöscht.


#

Datenanalyse

Die Auswertung orientierte sich an inhaltsanalytischen Methoden und soll nachfolgend im Einzelnen beschrieben werden. Sie beruht auf den Vorgaben der internationalen Literatur zu qualitativer Forschungsmethodik [14] [15]. Statt eine einzelne Methodik zu benennen, soll unser Vorgehen hier im Einzelnen beschrieben werden. Nach Transkription wurde das erste Interview von zwei Wissenschaftlern (FMT, TK) unabhängig voneinander (Triangulation) induktiv kodiert, um in Anlehnung an den Interviewleitfaden Themenfelder zu finden. In einem Diskussions- und Einigungsprozess wurden gemeinsam erste Themenfelder festgelegt. Diese wurden – erneut in Triangulation – deduktiv auf die folgenden Interviews angewendet und bis zum Erreichen der Sättigung ergänzt. In einem zweiten Schritt wurden für jedes der Themenfelder die entsprechenden Textausschnitte aller Interviews wiederum in Triangulation induktiv/deduktiv kodiert. Doubletten wurden entfernt, beziehungsweise für ähnliche Kodes gemeinsame Bezeichnungen festgelegt und die übrigen Kodes zu Kodefamilien gruppiert. Der Kodiervorgang erfolgte über die Freeware RQDA.


#

Ethikvotum

Die Ethikkommission des Universitätsklinikums Erlangen bestätigte die Unbedenklichkeit der Studie (Schreiben Nr. 217_14B).


#
#

Ergebnisse

An der Studie nahmen elf Hausärzte teil. Alle betrieben QM. [Tab. 2] beschreibt die Arzt- und Praxischarakteristika.

Tab. 2 Arzt- und Praxischarakteristika.

Praxen

Lokalität

Stadt

10

Vorstadt

1

Land

0

Praxisform

Einzelpraxis

6

Gemeinschaftspraxis

5

Anzahl Patienten

500–1 000

5

>1 000

6

Hausärzte

Geschlecht

weiblich

3

männlich

8

Altersdurchschnitt, Jahre (SD)

54 (8,1)

Zeit der Niederlassung, Jahre (SD)

21 (7,8)

Es ergaben sich elf Themenfelder mit den jeweiligen Kodefamilien ([Tab. 3]). Deren Inhalte werden nachfolgend beschrieben und durch Zitate aus den Interviews illustriert.

Tab. 3 Themenfelder und Kodefamilien.

Themenfelder

Kodefamilien

1. Erleben der Einführung von QM

Vorwissen zu QM
Primäre Einstellung zu QM
Notwendigkeit von QM
Hilfe bei der Einführung

2. Heutiger Stellenwert, Vorstellungen und Einschätzung Hausarztes von QM

Einstellung
Verständnis
Nützlichkeit
Verbesserungsvorschläge
Eignung für eigene/andere Praxen

3. Einfluss von QM auf Praxisabläufe

Umsetzung von QM
Erfahrungen mit den neuen Abläufen
Einfluss auf die Patientenversorgung

4. Erleben der Kollegen von QM

Erfahrungen der Kollegen mit QM
Einstellungen der Kollegen
Für andere passt QM besser
Einfluss QM auf Kollegen

5. Erleben der Patienten von QM

Gründe für die Praxiswahl
QM als Werbeinstrument gegenüber Patienten
Wahrnehmung QM durch Patienten

6. Erleben des Praxispersonals von QM

Rolle und Aufgaben des Teams
Rolle QM bei Einarbeitung neuer Mitarbeiter
Einfluss QM auf Praxisklima
Umsetzung und Nutzen QM für das Team

7. Rolle von Gesellschaft, Politik, Krankenkassen, Kassenärztliche Vereinigung

Rolle der Gesellschaft/Politik
Rolle der Krankenkassen
Rolle der KV/Ärztekammer

8. Stellenwert der Zertifizierung

Ablehnung der eigenen Zertifizierung
Einschätzung der Zertifizierung anderer
Zweck der Zertifizierung
Positive Aspekte Zertifizierung

9. Grundsätzliche Messbarkeit von Qualität

Was ist ärztliche Qualität
Was ist messbar, was nicht

10. Gute und schlechte Seiten von QM

Gute Seiten
Schlechte Seiten

11. Zukunft von QM

Forderungen/Wünsche der Ärzte
Befürchtungen der Ärzte
Erwartungen

Erleben der Einführung von QM

Den Ärzten war QM zuvor meist unbekannt. Das Empfinden war, etwas übergestülpt zu bekommen: „Zwangseingriff von außen [...] vom Gesetzgeber eingegriffen in meine Berufsausübung“ (HA5). Meist wurde QM als zusätzliche Belastung empfunden. Gerade der anfängliche Arbeitsaufwand wurde als hoch erinnert: „Beim Einführen viel Zeit, […] viele Abende durch Nachkontrolle von den Listen“ (HA9). Die Unterstützung bei der Einführung wurde zwar als ausreichend, jedoch als zu theoretisch wahrgenommen: „Ich […] fand vieles damals schon in dem Kurs sehr übertrieben, […] zu sehr ISO gesteuert“ (HA2). Aber auch anfängliche Neugier wurde berichtet. Ein Arzt empfand die Einführung als Schritt in die richtige Richtung.


#

Heutiger Stellenwert, Idee und Einschätzung des Hausarztes von QM

Die heutige Einstellung zu QM schien aufgeschlossener: „Ich sag nur Standard. [...] Nichts Negatives, eher positiv.” (HA10). Vieles scheint in Gewohnheit übergegangen zu sein: „Ich finde es nicht mehr so schlimm wie am Anfang. Also, die Einführung fand ich schlimmer“ (HA8). Ein Nutzen wurde vor allem für Praxen mit größeren Teams gesehen: „Jeder würde sein eigenes Süppchen brauen. [...] Es muss einfach irgendwo ein Leitfaden herrschen und eine Grundstruktur, an die sich jeder halten kann.“. Im Selbstbild des sprechenden Mediziners wurde QM als unpassend wahrgenommen: „Ich [...] rede mit Patienten. Ich treffe Entscheidungen, die mit einem Qualitätsmanagementhandbuch gar nichts zu tun haben.“ (HA11). Insbesondere die Passung von QM für den hausärztlichen Bereich wurde kritisch gesehen: „Ich sehe nur, dass die Übertragung industrieller Normen auf die gesprächszentrierte Praxisführung schwierig ist.“ (HA3). Basisstandards stießen auf Einverständnis, aber es gab klare Stimmen, QM zu begrenzen. Ein Einfluss auf die eigene ärztliche Arbeit und die Versorgungsqualität wurde kaum gesehen. Einerseits wurde die Ausweitung auf klinische Prozesse abgelehnt: “Noch mehr standardisieren [...] zum Beispiel grad auch wie man Patienten behandeln würde, das [...] würde ich völlig ablehnen“ (HA6), andererseits aber auch als Verbesserung angesehen: „Ich versuche auch immer viel mit Leitlinien zu arbeiten“ (HA7).


#

Einfluss von QM auf Praxisabläufe

Die Umsetzung reichte von der Reduktion auf das Nötigste bis zu gut strukturierter Patientenversorgung: „Aus dieser DIN ISO Geschichte […] ist halt das übrig geblieben, was für uns im Alltag praktikabel und auch wertvoll ist“ (HA5). Dagegen: „Dann hab ich eine Chance, dass eine [...] ordnungsgemäße Durchimpfung beim einzelnen Patienten stattgefunden hat. Sodass am Ende eigentlich das so sein muss: Entweder steht dort ‚Patient will die Impfung nicht‘ oder ‚Impfung ist durchgeführt“ (HA1). Die Festlegung der Abläufe ging oft von Einzelnen, nicht vom Team aus: „Ich hab dann im Urlaub das Handbuch geschrieben“ (HA11).


#

Erleben der Kollegen von QM

Die Einschätzung, wie Kollegen QM wahrnehmen, reichte von der Annahme einer deutlich ablehnenden Grundhaltung bis zu geduldigem Ertragen des Unvermeidlichen: Es sei nervend gewesen, dass „von außen [...] einfach zusätzliche Baustellen aufgemacht wurden“ (HA9). Die Befragten schienen den Kollegen die radikaleren Aussagen in den Mund zu legen, als sich selbst: „Also, die eine Praxis, die [...] hatte die Nase voll [...] und sagte ‚Ich mach jetzt Schluss‘“ (HA6). Ansonsten sei die Akzeptanz bei Allgemeinärzten „eher kritisch mit wenig Änderung der Abläufe“ (HA6). Für die Kollegen im Krankenhaus wurde Mitleid geäußert: „Man hatte immer so den Eindruck die Oberen, die Chefs, die möchten das haben [...] mit viel Unwillen von denen, die es umsetzen müssen“ (HA7). Im Krankenhausbereich wurde QM als Instrument im Kampf um Wirtschaftlichkeit wahrgenommen und würde dort als Zwang und auferlegte Papierarbeit erlebt: „generell unter vielen [...] Kollegen [...] wird Qualitätsmanagement gleich Bürokratie gesetzt“ (HA9). QM wurde für jüngere Kollegen als sinnvoller angesehen, da es „eine gewisse Führungsstruktur“ (HA6) biete. Auch sei QM für Gebietsärzte, insbesondere diejenigen mit viel Gerätediagnostik, besser geeignet.


#

Erleben der Patienten von QM

Der Patient sei der eigentliche „Profiteur“ (HA10). Jedoch würden Patienten QM nicht bewusst wahrnehmen, wenn man es nicht explizit zu Werbezwecken verwende: „Ja, wenn man es ihm auf die Nase bindet, schon“ (HA11). Ansonsten gelte eher: „Die normalen, einfachen Patienten, [...] wissen das gar nicht. Die sehen: ‚Ist der Doktor nett zu mir? Ist der Doktor sauber? Die Praxis? Sind genügend Zeitungen da?‘“ (HA2). Auch Patienten würden QM oft ablehnen: „Ich hab viele von der Firma X, die zu mir sagen: ‚Wir haben 300 Seiten QM und keiner hält sich dran‘. Die winken eher ab“ (HA2).


#

Erleben des Praxispersonals von QM

In den Augen der befragten Ärzte reichten die Rollen der Medizinischen Fachangestellten (MFA) von Widerstand bis zur selbstständigen, treibenden Kraft. Teambesprechungen und die Vereinheitlichung von Abläufen seien positive Elemente: „Ich denke, es hilft schon, egal mit welchen Listen, und auch beim Putzen, bei all den Sachen“ (HA9). Die Klärung der Aufgaben verbessere das Praxisklima. Insbesondere bei der Einarbeitung neuer Mitarbeiter wurden große Vorteile gesehen.


#

Rolle von Gesellschaft, Politik, Krankenkassen und Kassenärztlicher Vereinigung

Die gesetzliche Verpflichtung zu QM wurde nur vereinzelt als richtig, überwiegend aber als unsinniger Eingriff gesehen: „Die Politik mischt sich da wieder in Sachen ein [...]. Das brauchen wir Ärzte eigentlich nicht“ (HA2) und „Das erschließt sich mir nicht. Um der Öffentlichkeit gegenüber eine möglicherweise nicht ganz so erfolgreiche Gesundheitspolitik zu vermitteln“ (HA6). Die Einführung wurde als Disziplinierungsmaßnahme erlebt und diene der Förderung leichter kontrollierbarer Großpraxen: „Ich glaube, weil der Arzt als solches ein Einzelkämpfer ist und macht was er will“ (HA3) und „dass sie uns Niedergelassene eigentlich am liebsten wahrscheinlich gerne wegrationalisieren würden, vor allem die kleinen Praxen“ (HA9). Auch die Seite der Kostenträger wurde als Grund der Einführung angenommen: „Weil Druck von den Kassen da war. Die sagen: ‚Wir bezahlen nur, wenn Qualität da ist‘“ (HA4). Man sah eine berufsständische Notwehrreaktion aufgrund steigenden gesellschaftlichen Drucks: „Das war vorauseilender Gehorsam [...] von der Ärztekammer“ (HA8). Strenge Kontrollen der Umsetzung gäbe es nicht. Bezüglich der ständig neuen Vorgaben war viel Frustration zu spüren: „Dass man sich halt sehr eingeschränkt fühlt und eigentlich nur im Sparwahn um Centbeträge oft so die großen Strukturen verloren gehen. Vor lauter Vorgaben [...] eigentlich der Patient nur noch halb das wichtigste Augenmerk hat“ (HA9).


#

Stellenwert der Zertifizierung

Nur einer der Befragten war zertifiziert. Alle anderen lehnten die Zertifizierung als nutzlose Zusatzarbeit ab: „Dass da noch mehr Bürokratie letztendlich und mehr Dokumentationsaufwand erforderlich wird“ (HA6). Eine externe Überprüfung komme einer Normierung gleich: „Also, dann lebt es nicht mehr richtig. Ja, weil ich dann die Vorgaben erfülle, die mir von außen aufgesetzt wurden“ (HA4). Es wurde eine inverse Korrelation zwischen eigentlicher Qualität und Zertifizierung vermutet: „Da gilt für mich der Spruch: ‚Je größer die Fähnchen, umso schlechter die Qualität‚“ (HA6) und „Was wirklich passiert in den Pflegeheimen hat mit dem Schild, was draußen hängt, Note 1, gar nichts zu tun“ (HA4). Ein größerer Nutzen der Zertifizierung wurde für technischere Bereiche angenommen. Zudem sei Zertifizierung in erster Linie ein Marketinginstrument.


#

Grundsätzliche Messbarkeit von Qualität

Ärztliche Qualität selbst wurde als kaum bewertbar eingestuft. Sie liege eher in Menschlichkeit und Stärke der Arzt-Patient-Beziehung, als in der konkreten medizinischen Versorgung: „Was sich mir aber leider immer noch nicht erschlossen hat, dass diese Form des Qualitätsmanagement auch nur irgendwas mit der Qualität der Arbeit, die ich persönlich am Patienten mache, zu tun hat“ (HA5). QM könne allenfalls einfache Abläufe fixieren: „Ich denke, dass es sehr schwierig ist, dieses Tun und Drehen der einzelnen Ärzte abzubilden. [...] es könnte ein Instrument sein, dass halt wenigstens bestimmte Regeln eingehalten werden [...] Dinge wie Hygiene“ (HA3). Die Wichtigkeit der Patientenzufriedenheit wurde anerkannt, die Aussagekraft von Patientenbefragungen aber gleichzeitig in Frage gestellt.


#

Gute und schlechte Seiten von QM

Dieses Themengebiet entsprach einer Unterfrage des Interviewleitfadens, um die Hausärzte zu motivieren das Diskutierte noch einmal auf den Punkt zu bringen. Positiv hervorgehoben wurden: Selbstreflexion, Gestaltungsfreiheit, Teamgespräche, ein gewisses Maß an Bürokratisierung, Ausweitung auf den klinischen Bereich durch Disease Management Programme, juristische Sicherheit und die Möglichkeit der Menschlichkeit trotz Strukturierung. Als negativ empfunden wurden: Ein Zuviel an Bürokratie, geringer Nutzen und fehlende Passgenauigkeit für die ärztliche Arbeit, Aufwand, Zwang und Kosten. Auch die Verschiebung weg von der Eigenverantwortlichkeit hin zu einem festgelegten Schema wurde kritisiert.


#

Zukunft von QM

Das Gefühl zunehmender Ohnmacht gegenüber fremden Einflüssen war deutlich hörbar: „Alle Leute sollen normiert werden, die Ärzte auch. Die Qualität und die Arbeit der Ärzte sollen normiert werden. Und ich fürchte, dass da dann niemand loslässt, das voran zu treiben“ (HA3). Befürchtet wurde ein zunehmender Verlust der Menschlichkeit und der Freiberuflichkeit. Dieser Verlust bedrohe das Engagement für den individuellen Patienten: „In Zukunft wird es so sein, es wird deutlich mehr angestellte Ärzte geben [...] da bin ich nicht endverantwortlich“ (HA4). Hinter den Wünschen nach mehr beruflicher Freiheit war gleichzeitig viel Pessimismus zu spüren: „Man wird immer mehr reingepresst in gewisse Abläufe. Ich glaube auch nicht, dass es da einen Weg zurückgibt“ (HA7).


#
#

Diskussion

In qualitativen Experteninterviews habe wir Hausärzte zu ihren Einstellungen und ihrem Erleben von QM befragt. Zusammengefasst wurde die Einführung von QM als ungerechtfertigter bürokratischer Eingriff in den eigenen professionellen Bereich empfunden. Trotz eines gewissen Verständnisses für die Standardisierung einiger Basisprozesse, wie Hygiene, wurde QM als der inadäquate Versuch gesehen, Methoden industrieller Qualitätssteuerung auf einen Bereich zu übertragen, der wesentlich von zwischenmenschlicher Beziehung und Kommunikation geprägt sei. Die Ärzte gaben an, die anfängliche Aufregung um ISO-Normen überwunden zu haben und, dank geringer Kontrollen, QM auf ein erträgliches Maß reduziert zu haben. Bis auf eine Ausnahme wurde eine Zertifizierung abgelehnt. Vermutlich würde QM für technischer arbeitende Gebietsärzte und Großpraxen mehr Sinn machen. Die Erwartungen für die Zukunft waren eher pessimistisch: Immer mehr bürokratische Vorgaben und Einschränkungen beruflicher Freiheit. Die Ausweitung von QM auf klinische Prozesse wurde überwiegend abgelehnt, zum Teil aber auch als Verbesserung für die Zukunft vorgeschlagen.

Trotz intensiver Suche gelang es nicht, ähnliche qualitative Studien zu finden. Zur in der Einleitung erwähnten quantitativen Studienliteratur tragen unsere Ergebnisse insofern bei, als sie einen Einblick in professionelle Grundhaltungen von Hausärzten bieten. Das immer wieder kritisch angemerkte Fehlen eines Zusammenhanges zwischen QM und der eigentlichen ärztlichen Tätigkeit wurde immerhin auch als zu ergänzendes Defizit von QM wahrgenommen. Ein grundsätzlich lohnender Kontext zur Diskussion unserer Ergebnisse könnte deshalb die aktuell neu angestoßene Debatte um ärztliche Professionalität und Selbstregulation sein [16]. Dort wurde eine unterentwickelnde Professionalität beklagt und gefordert das Thema stärker im Studium zu verankern. Wie eingangs beschrieben, halten auch wir das Thema QM für ein wesentliches Element professioneller Selbstreflexion und Selbstregulation.

Als Schwäche unserer Studie lässt sich sehen, dass die Hausärzte überwiegend aus nur einem Ärztenetz rekrutiert wurden. Dies geschah aus pragmatischen Erwägungen und weil der Fokus auf Ärzten mit QM-Erfahrung lag, was in diesem Ärztenetz eine Grundbedingung darstellt. Unberücksichtigt blieben damit Ärzte, die QM grundsätzlich verweigerten. Auch ist es möglich – wenn auch unserer Ansicht nach unwahrscheinlich – dass ländliche oder nicht in Ärztenetzen organisierte Hausärzte wesentlich andere Ansichten vertreten. Eine Erweiterung der Befragung um die Wahrnehmungen und Meinungen von MFA und Patienten in weiteren qualitativen Studien wäre wünschenswert.


#

Schlussfolgerung

Die gesetzliche Einführung von QM wurde – unserer Ansicht nach ganz richtig – als Eingriff in den eigenen professionellen Bereich empfunden. Dass dies in Folge ungenügenden Vorhandenseins intraprofessioneller Transparenz und Kontrolle erfolgte, also selbstverschuldet sein könnte, wurde wohl weitgehend nicht so verstanden. Zwar zeigte sich, dass einzelne Kollegen die Idee des QM angenommen haben und sich sogar wünschten, QM stärker auf klinische Prozesse zu übertragen. Die befragten Ärzte schienen sich jedoch überwiegend eher im passiven Widerstand gegen eine gefühlt endlose Flut administrativer Neuerungen zu befinden und waren bemüht QM auf ein individuell erträgliches Minimum zu beschränken. Ob dieses Minimum ausreichen wird, die für eine individuelle Patientenversorgung nötige professionelle Autonomie zu erhalten, möchten wir bezweifeln und diesbezüglich zur Diskussion auffordern.


#
#

Interessenkonflikt:

Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

  • Literatur

  • 1 Weber M. Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriss der verstehendenSoziologie; zwei Teile in einem Band: Zweitausendeins. 2010;
  • 2 Krislov S. How nations choose product standards and standards change nations. Pittsburgh: Univ of Pittsburgh Press; 1997
  • 3 Schrappe M. Qualitätsmanagement unter den Bedingungen der aktuellen gesundheitspolitischen Situation: Einführung Politische Sicht und institutionelle Perspektive. Medizinische Klinik 2001; 96: 417-423
  • 4 Freidson E. The reorganization of the professions by regulation. Law and Human Behavior 1983; 7: 279
  • 5 Freidson E. The changing nature of professional control. Annual review of sociology 1984; 1-20
  • 6 Armstrong D. Clinical autonomy, individual and collective: the problem of changing doctors' behaviour. Social science & medicine (1982) 2002; 55: 1771-1777
  • 7 Timmermans S, Kolker ES. Evidence-based medicine and the reconfiguration of medical knowledge. J Health Soc Behav 2004; Suppl 45: 177-193
  • 8 McKinlay JB, Stoeckle JD. Corporatization and the social transformation of doctoring. International journal of health services : planning, administration, evaluation 1988; 18: 191-205
  • 9 Timmermans S, Berg M. The gold standard: The challenge of evidence-based medicine and standardization in health care. Temple University Press; 2010
  • 10 Auras S, de Cruppé W, Diel F. et al. Qualitätsmanagement – Einführung und die Erfüllung von Qualitätsanforderungen in deutschen Arztpraxen. Gesundheitsökonomie & Qualitätsmanagement 2014; 19: 119-125
  • 11 Marcks SAS. Auswirkungen von Qualitätsmanagement in der Hausarztpraxis (Allgemeinarztpraxis und hausärztlich internistische Arztpraxis) [Dissertation]. Ludwig-Maximilans-Universität; München: 2012
  • 12 Obermann K, Müller P. Qualitätsmanagement und Patientensicherheit in der ärztlichen Praxis 2010. Eine deutschlandweite Befragung niedergelassener Ärztinnen und Ärzte. Hamburg: Stiftung Gesundheit/GGMA Gesellschaft für Gesundheitsmarktanalyse mbH; 2010
  • 13 Gläser J, Laudel G. Experteninterviews und qualitative Inhaltsanalyse. Springer; 2010
  • 14 Denzin NK, Lincoln YS. The SAGE handbook of qualitative research. Sage; 2011
  • 15 Lincoln YS, Guba EG. Naturalistic inquiry. Sage; 1985
  • 16 Bauchner H, Fontanarosa PB, Thompson AE. Professionalism, governance, and self-regulation of medicine. JAMA 2015; 313: 1831-1836

Korrespondenzadresse

Dr. med. Prof. Thomas Kühlein
Allgemeinmedizinisches Institut
Universitätsklinikum Erlangen
Universitätsstraße 29
91054 Erlangen

  • Literatur

  • 1 Weber M. Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriss der verstehendenSoziologie; zwei Teile in einem Band: Zweitausendeins. 2010;
  • 2 Krislov S. How nations choose product standards and standards change nations. Pittsburgh: Univ of Pittsburgh Press; 1997
  • 3 Schrappe M. Qualitätsmanagement unter den Bedingungen der aktuellen gesundheitspolitischen Situation: Einführung Politische Sicht und institutionelle Perspektive. Medizinische Klinik 2001; 96: 417-423
  • 4 Freidson E. The reorganization of the professions by regulation. Law and Human Behavior 1983; 7: 279
  • 5 Freidson E. The changing nature of professional control. Annual review of sociology 1984; 1-20
  • 6 Armstrong D. Clinical autonomy, individual and collective: the problem of changing doctors' behaviour. Social science & medicine (1982) 2002; 55: 1771-1777
  • 7 Timmermans S, Kolker ES. Evidence-based medicine and the reconfiguration of medical knowledge. J Health Soc Behav 2004; Suppl 45: 177-193
  • 8 McKinlay JB, Stoeckle JD. Corporatization and the social transformation of doctoring. International journal of health services : planning, administration, evaluation 1988; 18: 191-205
  • 9 Timmermans S, Berg M. The gold standard: The challenge of evidence-based medicine and standardization in health care. Temple University Press; 2010
  • 10 Auras S, de Cruppé W, Diel F. et al. Qualitätsmanagement – Einführung und die Erfüllung von Qualitätsanforderungen in deutschen Arztpraxen. Gesundheitsökonomie & Qualitätsmanagement 2014; 19: 119-125
  • 11 Marcks SAS. Auswirkungen von Qualitätsmanagement in der Hausarztpraxis (Allgemeinarztpraxis und hausärztlich internistische Arztpraxis) [Dissertation]. Ludwig-Maximilans-Universität; München: 2012
  • 12 Obermann K, Müller P. Qualitätsmanagement und Patientensicherheit in der ärztlichen Praxis 2010. Eine deutschlandweite Befragung niedergelassener Ärztinnen und Ärzte. Hamburg: Stiftung Gesundheit/GGMA Gesellschaft für Gesundheitsmarktanalyse mbH; 2010
  • 13 Gläser J, Laudel G. Experteninterviews und qualitative Inhaltsanalyse. Springer; 2010
  • 14 Denzin NK, Lincoln YS. The SAGE handbook of qualitative research. Sage; 2011
  • 15 Lincoln YS, Guba EG. Naturalistic inquiry. Sage; 1985
  • 16 Bauchner H, Fontanarosa PB, Thompson AE. Professionalism, governance, and self-regulation of medicine. JAMA 2015; 313: 1831-1836