physiopraxis 2016; 14(10): 48-49
DOI: 10.1055/s-0042-113153
therapie
© Georg Thieme Verlag Stuttgart – New York

Loaded-Reach-Test – Einfach nicht überzeugend

Martin L. Verra
,
Balz Winteler

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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
24. Oktober 2016 (online)

 

Wie weit sich Patienten mit chronischen Rückenschmerzen vorwärtsneigen können, das ermittelt der Loaded-Reach-Test. Die Durchführung des funktionellen Leistungstests ist sehr einfach, was vermutlich der Grund dafür ist, dass ihn Physiotherapeuten anwenden. Denn die Gütekriterien überzeugen nicht.


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Dr. Martin L. Verra

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Dr. Martin L. Verra, PhD, ist Physiotherapeut, Direktor des Instituts für Physiotherapie an der Insel Gruppe, Universitätsspital Bern, Schweiz, und Vize-Präsident der Stiftung Physiotherapie Wissenschaften (www.physiotherapie-wissenschaften.ch).

Balz Winteler

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Balz Winteler, MSc, ist ebenfalls Physiotherapeut und Schwerpunktleiter Muskuloskelettal des Instituts für Physiotherapie an der Insel Gruppe, Universitätsspital Bern, und Präsident des Schweizerischen Verbands Orthopädischer Manipulativer Physiotherapie (www.svomp.ch). Beide arbeiten seit vielen Jahren mit Patienten mit chronischen muskuloskeletalen Beschwerden.

Neben dem Bücken ist das Vorwärtsneigen für Patienten mit Rückenschmerzen häufig mit Schmerzen und Einschränkungen verbunden. Es ist eine funktionelle Alltagsbewegung, die bei verschiedenen Aktivitäten in Beruf und Freizeit gebraucht wird. Wie gut Patienten ein Gewicht nach vorne reichen können, lässt sich mit dem Loaded-Reach-Test beurteilen, der in den 1990er Jahren speziell für Patienten mit chronischen Rückenschmerzen entwickelt wurde [1]. Laut seiner Entwickler beurteilt er die funktionelle Kraft eines Menschen relativ zu dessen Körpergewicht und empfiehlt sich teilweise für den Befund und die Diagnostik, jedoch nicht zur Verlaufskontrolle oder Prognose.

Einfache Durchführung

Der Loaded-Reach-Test geht schnell und einfach. Therapeuten benötigen ein Gewicht oder eine Hantel von circa fünf Prozent des Körpergewichts (maximal fünf Kilogramm), ein Maßband und eine Wandtafel oder Ähnliches für die Markierung. Der Patient hält das Gewicht mit beiden Händen auf Schulterhöhe, so nah wie möglich am Körper, seine Füße stellt er hüftbreit nebeneinander (ABB. 1). Aus dieser Position bewegt er das Gewicht so weit wie möglich horizontal nach vorne, wobei er seinen Rumpf, seine Schulter- und Ellenbogengelenke einbezieht (ABB. 2). Die Fersen bleiben am Boden, die Kniegelenke gestreckt. Der Therapeut misst die Differenz zwischen Ausgangs- und Endposition in Zentimetern [1, 2]. Messpunkt ist das Gewicht oder die Hantel.

Der Loaded-Reach-Test lässt sich leicht mit dem Functional-Reach-Test verwechseln. Dieser misst ebenfalls die maximale Distanz, welche die Patienten mit sicherem Stand erreichen können, wenn sie ihre Arme ohne Zusatzgewichte nach vorne strecken. Messpunkt ist die Spitze des Mittelfingers. Ziel des ausführlich validierten Functional-Reach-Tests ist es, das Sturzrisiko und Gleichgewicht bei neurologischen und geriatrischen Patienten anhand von Normdaten zu beurteilen.

Beim Loaded-Reach-Test hat der Patient ein Gewicht in der Hand, beim Functional-Reach-Test nicht.


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Schwierige Interpretation

Für den Loaded-Reach-Test liegen hingegen keine Normdaten vor. So einfach die Durchführung auch sein mag, so anspruchsvoll und vielseitig ist die Interpretation des Ergebnisses. Es ist zum Beispiel unklar, was es bedeutet, wenn ein 50-jähriger Mann mit 80 kg Körpergewicht und einer Größe von 1,75 m einen Score von 60 cm erreicht. Ebenso schwierig ist es zu interpretieren, wenn sich ein Patient nach einer Serie Physiotherapie beim Retest 10 cm weiter nach vorne neigen kann. Liegt das im Bereich des Standardmessfehlers? Oder sind die 10 cm Verbesserung für den Patienten klinisch relevant? Eleonor I. Andersson und ihr Team haben 2010 die Responsivität (das Maß für die Empfindlichkeit eines Assessments für Veränderungen) untersucht sowie die minimal klinisch relevante Veränderung (minimal clinically important difference, MCID). Aufgrund der schlechten Resultate konnten die Wissenschaftler den Loaded-Reach-Test nicht empfehlen [8].


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Gute Reliabilität, ungeklärte Validität

Die Intratester-Reliabilität haben Studien bei verschiedenen Gruppen von Patienten mit chronischen Rückenschmerzen untersucht. Sie ist als sehr gut einzustufen. Vergleichbar gute Werte zeigten sich auch für die Intertester-Reliabilität [2, 4, 7].

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ABB. 1 Ausgangsstellung: Die Patientin hält ein Gewicht beidhändig auf Schulterhöhe, die Füße stehen hüftbreit nebeneinander. Abb.: T. Läser
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ABB. 2 Endstellung: Die Patientin bewegt das Gewicht so weit wie möglich horizontal nach vorne. Abb.: T. Läser

Doch ist der Loaded-Reach-Test auch valide? Misst er, was er behauptet zu messen? Die Konstruktvalidität des Assessments für Patienten mit chronischen Rückenschmerzen haben verschiedene Studien untersucht, unter anderem anhand des Timed-up-and-go-Tests (PHYSIOPRAXIS 7-8/16, S. 56), des Roland and Morris Disability Questionnaire (PHYSIOPRAXIS 7-8/08, S. 36), der Schmerzintensität (VAS) und des Sörensen-Tests [2, 3, 5, 6]. Die Korrelation fiel lediglich moderat aus. Daraus lässt sich schließen, dass nicht sichergestellt ist, welche Funktionen der Loaded-Reach-Test eigentlich genau beurteilt. Misst er wirklich nur die funktionelle Kraft der Rückenmuskulatur, so wie die Testentwickler es ursprünglich beschrieben hatten? Oder könnte ein Patient beim Retest einen besseren Score erreichen, weil sich die Extension in den Ellenbogen- oder die Elevation in den Schultergelenken verbessert hat, ohne dass sich etwas im Rückenbereich verändert hat? Oder testet das Assessment vielleicht primär die Motivation, die mentale Leistungsbereitschaft oder das Ausmaß des Angstvermeidungsverhaltens des Patienten? Gegebenenfalls beurteilt der Loaded-Reach-Test auch eine mögliche Bewegungskontrolldysfunktion in der LWS. All diese Fragen können die aktuell vorliegenden Forschungsergebnisse nicht abschließend beantworten.


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Bessere Alternativen

Da es in Fachkreisen mittlerweile akzeptiert ist, dass eine einzige Testbewegung die Belastungstoleranz der LWS ohnehin nicht umfassend evaluieren kann, ist der Loaded-Reach-Test nicht als alleiniger Test zu empfehlen. Stattdessen sind Testbatterien sinnvoll. Es sind verschiedene Assessments entwickelt worden, die aus einer Kombination verschiedener Einzeltests bestehen. Gute Beispiele für solche Testbatterien sind die Back Performance Scale (PHYSIOPRAXIS 11-12/09, S. 50) und die Movement-Control-Tests (PHYSIOPRAXIS 5/09, S. 24). Diese haben Shirley Sahrmann, Peter O’Sullivan und Mark Comerford zusammengestellt, Hannu Luomajoki und Kollegen haben sie validiert [8–13]. Sie beinhalten sechs einfach durchführbare klinische Tests, welche Dysfunktionen im lumbosakralen Abschnitt als Extensions-, Flexions- und/oder Rotationskontrolldysfunktion einstufen. Die Inter- und Intratester-Reliabilität der Motor-Control-Tests ist als gut bis sehr gut einzustufen [12]. Martin L. Verra, Balz Winteler


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ABB. 1 Ausgangsstellung: Die Patientin hält ein Gewicht beidhändig auf Schulterhöhe, die Füße stehen hüftbreit nebeneinander. Abb.: T. Läser
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ABB. 2 Endstellung: Die Patientin bewegt das Gewicht so weit wie möglich horizontal nach vorne. Abb.: T. Läser