Aktuelle Dermatologie 2016; 42(07): 265
DOI: 10.1055/s-0042-111448
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Toleranz und Sozialisierung

Tolerance and Socialising
C. Bayerl
Further Information

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Christiane Bayerl
Klinik für Dermatologie und Allergologie Wiesbaden
Helios, Dr. Horst Schmidt Kliniken
Hauttumorzentrum Wiesbaden
Städtisches Lehrkrankenhaus der Universität Mainz
Ludwig-Erhard-Straße 100
65199 Wiesbaden

Publication History

Publication Date:
11 July 2016 (online)

 

Die Empfehlungen zu Beikost bei Kindern mit genetischem Risiko für eine Neurodermitis haben sich geändert. Weiterhin wird für 4 Monate Stillen empfohlen, dann aber schon bald die Zugabe von Beikost, optimalerweise zwischen dem 5 und 7 Monat startend. So kann Toleranz auf die Palette der „festen“ Nahrungsmittel erzeugt werden [1].

Seitens der Kontaktallergene haben wir bisher immer gewarnt, z. B. vor dem häufigsten Allergen, dem Nickel, vor Ohrlochstichen, Jeansknöpfen etc. Entsprechend kam auch die Zahnspange, die kontinuierlich Nickelionen freisetzt, in Verruf – eventuell zu Unrecht. Schon Johansson hat 2011 in einer longitudinalen Studie gezeigt, dass Mädchen mit Zahnspange im Vergleich zu Mädchen ohne Zahnspange kein erhöhtes Risiko einer Nickelsensibilisierung haben [1]. Die Mundschleimhaut ist immunologisch ein anderes Milieu als die verhornte Haut und erzeugt möglicherweise auch für Nickel eine Toleranz. Auf Seite 270 können sie im Derma-Fokus lesen, warum vermutet wird, dass eine Zahnspange das Risiko einer Nickelallergie vielleicht senken kann.

Aus einer Zusammenarbeit zwischen Mikrobiomforschern und Neurowissenschaftlern ist eine Publikation in „Cell“ 2016 entstanden [3], die sich eines anderen Aspekts der Ernährung annimmt. Was/wieviel uns als Säugling gefüttert wurde, bestimmt auch das Sozialverhalten, so wird – abgeleitet vom Mausexperiment – argumentiert. Bei Mäusen besteht eine eindeutige Korrelation zwischen der Darmflora, Übergewicht und dem Sozialverhalten. Verantwortlich dafür ist ein Darmbakterium, Lactobacillus reuteri. 100 Mäuse erhielten eine Normalkost versus hochkalorischer Kost. Bei den Nachkommen wurde untersucht, wie lange sie mit anderen Mäusen und wie lange sie mit Gegenständen zubrachten. Die Nachkommen von Mäusen mit hochkalorischer Kost hatten Probleme soziale Kontakte zu pflegen, taten dies nur wenige Sekunden und 55 % dieser Gruppe befassten sich bevorzugt mit angebotenen Gegenständen. Alle Nachkommen normalgewichtiger Mütter beschäftigten sich lieber mit ihren Artgenossen. Die Darmflora dieser beiden Gruppen unterschied sich. Wenn die Nachkommen übergewichtiger Mütter die Ausscheidungen der Nachkommen normalgewichtiger Mäuse zu sich nahmen, passte sich auch deren Sozialverhalten an und sie wurden „geselliger“. In der Folge wurde untersucht, was in der Darmflora der Nachkommen übergewichtiger Mäuse fehlt. Dies war Lactobacillus reuteri, bekannt als förderlich für die Freisetzung von Oxytozin, einem Hormon, das in Säugern für das Sozialverhalten bedeutsam ist. Hitzedaktivierte Lactobazillus reuteri im Trinkwasser der „sozial inkompetenten“ Mäuse konnten das Verhalten nicht verändern, aktives Lactobazillus reuteri dagegen schon. In Sektionen des Gehirns der Nachkommen übergewichtiger Mütter fanden sich 29 % weniger Oxytocin produzierende Zellen. Ob Lactobacillus reuteri beim Menschen auch eine derartige Rolle zuzuordnen ist, ist nicht bekannt. Gabe von Lactobacillus reuteri beim Menschen, z. B. bei Autismus? – Das bleibt noch zu erforschen. Das Neuropeptid Oxytocin hat noch andere Stimuli, die für den Erhalt der Menschheit mitverantwortlich sind. Beim Orgasmus wird es bei Frauen in höheren Spiegeln, bei Männern in niedrigeren Spiegeln in der Hypophyse freigesetzt. Oxytocin ist mitverantwortlich für die Ausprägung von Eigenschaften, die die Welt gestaltet haben, wie Intuition, Kreativität und Stress-Coping.

Ihre

Christiane Bayerl


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Prof. Dr. Christiane Bayerl

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  • Literatur

  • 1 Muche-Borowski C, Kopp R, Reese I et al. Allergy prevention. J Dtsch Dermatol Ges 2010; 8: 718-724
  • 2 Johansson K, Kerosuo H, Lammintausta K. Nickel sensitization in orthodontically treated and non-treated female adolescents. Contact Dermatitis 2011; 64: 132-137
  • 3 Buffington SA, Di Prisco GV, Auchtung TA. Microbial reconstitution reverses maternal diet-induced social and synaptic deficits in offspring. Cell 2016; 16: 1762-1775

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Christiane Bayerl
Klinik für Dermatologie und Allergologie Wiesbaden
Helios, Dr. Horst Schmidt Kliniken
Hauttumorzentrum Wiesbaden
Städtisches Lehrkrankenhaus der Universität Mainz
Ludwig-Erhard-Straße 100
65199 Wiesbaden

  • Literatur

  • 1 Muche-Borowski C, Kopp R, Reese I et al. Allergy prevention. J Dtsch Dermatol Ges 2010; 8: 718-724
  • 2 Johansson K, Kerosuo H, Lammintausta K. Nickel sensitization in orthodontically treated and non-treated female adolescents. Contact Dermatitis 2011; 64: 132-137
  • 3 Buffington SA, Di Prisco GV, Auchtung TA. Microbial reconstitution reverses maternal diet-induced social and synaptic deficits in offspring. Cell 2016; 16: 1762-1775

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