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DOI: 10.1055/s-0042-110800
Stuhlinkontinenz: Ursache, Diagnostik und Therapie
Incontinence – Etiology, diagnostics and TherapyKorrespondenz
Publication History
Publication Date:
24 August 2016 (online)
Zusammenfassung
Während die Stuhlinkontinenz den unfreiwilligen Abgang von flüssigem oder festen Stuhl beschreibt, ist die Analinkontinenz durch den unwillentlichen Abgang von Gas mit oder ohne Stuhl charakterisiert. Anal- bzw. Stuhlinkontinenz sind Symptome und keine Diagnosen und weiterhin Tabuthemen. Die Prävalenz ist hoch und liegt insgesamt bei 7–15 %, in Krankenhäusern bei bis zu 30 % und bei bis zu 70 % in Pflegeheimen. Die Inkontinenz stellt daher eine erhebliche sozioökonomische Belastung dar. Einteilungen der Inkontinenz sind anhand der Ursachen, der Pathophysiologie bzw. der Art der Inkontinenz möglich. Die Kontinenzfunktion, wird durch die Anatomie des Beckenbodens und Anorektums, die rektale Sensibilität und die Compliance bestimmt, wobei häufig mehrere Kontinenzfunktionen gestört sind. Die Abklärung einer Inkontinenz beinhaltet die Basisuntersuchung mit ausführlicher Anamnese und gegebenenfalls mit der Anlage eines Stuhl- bzw. Ernährungstagebuches und digitaler rektaler Untersuchung. Nur im Einzelfall ist eine weiterführende anorektale Diagnostik notwendig. Die Therapie richtet sich nach der jeweiligen Symptomatik und sollte multidisziplinär in Zusammenarbeit mit Gastroenterologen, Chirurgen, Gynäkologen, Urologen, Physiotherapeuten und Psychologen erfolgen (Ernährungsberatung, Ballaststoffe, Medikamente bei Diarrhoe / Verstopfung, Toilettentraining, Beckenbodengymnastik und Sphinktertraining, Biofeedback). Die Indikation zu chirurgischen Massnahmen stellt sich erst nach ausführlicher Diagnostik und Ausschöpfung aller konservativen Möglichkeiten und beinhaltet neuerdings die STARR-Operation bei anorektalem Prolaps und die Sakralnervenstimulation bei Beckenbodeninsuffizienz, Sphinkterdefekt bzw. Obstipation.
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Abstract
Fecal incontinence is defined by the unintentional loss of solid or liquid stool, and anal incontinence includes leakage of gas and / or fecal incontinence. Anal-fecal incontinence is not a diagnosis but a symptom. Many patients hide the problem from their families, friends, and even their doctors. Epidemiologic studies indicate a prevalence between 7–15 %, up to 30 % in hospitals and up to 70 % in longterm care settings. Anal-fecal incontinence causes a significant socio-economic burden. There is no widely accepted approach for classifying anal-fecal incontinence available. Anal-fecal continence is maintained by anatomical factors, rectoanal sensation, and rectal compliance. The diagnostic approach comprises muscle and nerve injuries by iatrogenic, obstetric or surgical trauma, descending pelvic floor or associated diseases. A basic diagnostic workup is sufficient to characterize the different manifestations of fecal incontinence in most of the cases. This includes patient history with a daily stool protocol and digital rectal investigation. Additional investigations may include anorectal manometry, anal sphincter EMG, conduction velocity of the pudendal nerve, needle EMG, barostat investigation, defecography and the dynamic MRI. Therapeutic interventions are focused on the individual symptoms and should be provided in close cooperation with gastroenterologists, surgeons, gynecologists, urologists, physiotherapeutics and psychologists (nutritional-training, food fibre content, pharmacological treatment of diarrhea/constipation, toilet training, pelvic floor gymnastic, anal sphincter training, biofeedback). Surgical therapy includes the STARR operation for rectoanal prolapse and sacral nerve stimulation for chronic constipation and anal-fecal incontinence. Surgery should not be applied unless the diagnostic work-up is complete and all conservative treatment options failed.
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Schlüsselwörter
Analinkontinenz - Stuhlinkontinenz - anorektale Manometrie - Defäkografie - ToilettentrainingKeywords
Anal incontinence - fecal incontinence - anorectal manometry - dynamic MRI - toilet trainingObwohl viele Menschen davon betroffen sind und die Symptome ihre Lebensqualität enorm einschränken, wird das Thema immer noch tabuisiert: die Stuhlinkontinenz. Während der Anamnese sollte daher behutsam nach Symptomen dieser Art gefragt werden. Wurde diagnostisch die genaue Ursache identifiziert, ist eine effektive Therapie möglich: Eine Ernährungsumstellung, Medikamente oder sogar chirurgische Eingriffe können den Patienten Abhilfe verschaffen.
Aktueller Fall
Symtomatik | Eine 67-jährige Frau stellt sich zur Abklärung von Stuhlunregelmäßigkeiten vor. Sie berichtet über Durchfälle mit Absetzen von flüssigem bis breiigem Stuhl in mehreren Portionen. Sie müsse innerhalb von 3 Stunden etwa 6-mal auf die Toilette und habe aber dann für etwa 6 Stunden Ruhe. Häufig habe sie das Gefühl der unvollständigen Entleerung. Die Patientin klagt zusätzlich über Meteorismus, der durch die Nahrung verstärkt wird und von dünnen Stühlen begleitet ist. Auf Nachfragen gibt sie Inkontinenzereignisse an, wenn sie nicht rechtzeitig die Toilette aufsuchen könne. Auch beim Husten und gelegentlich nachts spüre sie einen unfreiwilligen Stuhlabgang. Die Inkontinenz ist ihr peinlich und sie traue sich daher nicht mehr, ihre Wohnung für mehrere Stunden zu verlassen. Sie muss Vorlagen tragen.
Anamnese | Die Patientin hat 3 Geburten mit Episeotomie und einem Dammriss erfahren. Sie geht regelmäßig zur gynäkologischen Vorsorgeuntersuchung und hat vor 3 Jahren eine unauffällige Vorsorgekoloskopie durchführen lassen. Bei einem Gewicht von 86 kg und einer Körpergröße von 170 cm (BMI 29,8) ist sie übergewichtig und hat einen Diabetes mellitus II mit diabetischer autonomer Neuropathie, der mit Metformin behandelt wird.
Diagnostik | Nach mehreren Arztbesuchen wird die Patientin in einem Beckenbodenzentrum vorgestellt. Hier erfolgen systematische Untersuchungen:
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Proktoskopie
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Sigmoidoskopie
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anale Endosonografie
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Defäkografie
Diagnostiziert wird
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eine Schädigung des äußeren Schließmuskels,
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eine Sphinkterschwäche bei Ruhedruck und Willkürfunktion,
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eine Beckenbodensenkung und
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ein zirkulärer rektoanaler Prolaps.
Die ergänzend entnommenen Schleimhautproben aus dem Sigma schließen eine kollagene bzw. lymphozytäre Kolitis aus. Den Wasserstoffatemtests zufolge besteht keine Milchzucker- bzw. Fruchtzuckerunverträglichkeit.
Therapie | Es erfolgt eine
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Ernährungsberatung zur Gewichtsreduktion,
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Optimierung der Blutzuckereinstellung (HbA1c 8,9 %) und
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Vermeidung von blähenden Speisen.
Die Patientin erhält lösliche Ballaststoffe zur Verbesserung der Stuhlkonsistenz und sie wird zum Beckenbodentraining angehalten. Im Rahmen eines Toilettentrainings werden ihr die obstruierende Wirkung des anorektalen Prolapses bei vermehrtem Pressen erklärt und empfohlen, dass Pressen beim Stuhlgang zu vermeiden. Zusätzlich erhält sie kohlendioxidbildende Zäpfchen bzw. Mikroklysmen zur Stuhlentleerung.
Verlauf | Nach einigen Wochen haben sich die Beschwerden deutlich gebessert und die Inkontinenzereignisse sind zurückgegangen. Allerdings treten immer wieder unfreiwillige Stuhlabgänge auf, sodass sie mit ihrer Lebensqualität nicht zufrieden ist. Es werden deshalb im Beckenbodenzentrum eine Beckenbodenhebung, eine Rektopexie, eine Sakralnervenstimulation bzw. eine STARR-Operation diskutiert. Aufgrund des ausgeprägten Prolapses entschließt man sich für eine STARR-Operation. Danach treten keine Inkontinenzereignisse mehr auf.
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Stuhlinkontinenz
Definition und Einteilung | Die Stuhlinkontinenz beschreibt den unfreiwilligen Abgang von flüssigem oder festen Stuhl, die Analinkontinenz den unwillentlichen Abgang von Gas mit oder ohne Stuhl [1]. Die Inkontinenz kann grundsätzlich in 3 Schweregrade differenziert werden:
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Grad I: Inkontinenz für Winde
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Grad II: Inkontinenz für flüssigen Stuhl
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Grad III: Inkontinenz für festen Stuhl
Die Anal- bzw. Stuhlinkontinenz sind Symptome und keine Diagnose. Diese Beschwerden müssen speziell und einfühlsam erfragt werden, da sie immer noch tabuisiert sind.
Epidemiologie | Epidemiologische Untersuchungen zeigen eine Prävalenz von insgesamt 7–15 %, die mit bis zu 30 % in Krankenhäusern und bis zu 70 % in Pflegeheimen deutlich höher ist.
Risikofaktoren | Es gibt nur wenige unabhängige Risikofaktoren. Dies sind bei Frauen
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weiße Hautfarbe,
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Depression,
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Durchfall und
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Harninkontinenz,
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bei Männern nur die Urininkontinenz.
Als assoziierte Risikofaktoren gelten
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höheres Alter,
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weibliches Geschlecht,
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Schwangerschaft oder Z. n. Entbindung,
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eine Komorbidität mit Reduktion des allgemeinen Gesundheitsstatus mit Immobilität und
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die Unterbringung in Alten- bzw. Pflegeheimen.
Die chronische Obstipation spielt hierbei eine große Rolle, da die Stuhlretention im Rektum eine Anal-Stuhlinkontinenz begünstigt.
Weiterhin ist klinisch wichtig, dass Patienten mit Stuhlinkontinenz und Stuhlentleerungsstörungen das vermehrte Absetzen von kleinen Stuhlportionen als Durchfall empfinden können. Die eigentliche wässrige Diarrhoe sollte immer zur Abklärung infektiöser Ursachen führen.
Sozioökonomische Bedeutung | Nach Berechnungen der Gesundheitsversorger (Health Care Units) wird vermutet, dass in den USA bei Vorliegen einer Inkontinenz die jährlichen Kosten pro Patient und für Arztbesuche ca. 2800 US$ höher sind als bei Patienten ohne Inkontinenz [1]. Ein Großteil der sozioökonomischen Belastungen entsteht hierbei durch indirekte Kosten (Verlust der Produktivität, Einschränkung der Lebensumstände), weniger durch direkte (Vorlagen, Hygieneprodukte, Arzt-Pflegeversorgung) [1], [2], [3]. Schätzungen zeigen, dass der Bedarf für die Inkontinenz- bzw. Stomaversorgung in Deutschland etwa 17 % der Medizinprodukte beträgt.
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Ursachen
Physiologie | Die Kontinenzfunktion wird durch die strukturelle und funktionelle Integrität des Anorektums bestimmt [1], [2], [3], [4], [5], [6]. Hierbei sind die Anatomie des Beckenbodens und Anorektums, die rektale Sensibilität und die Compliance entscheidende Größen. Das Anorektum wird aus einem Muskelschlauch von Längs- und Ringmuskulatur (12–15 cm) gebildet, der durch Zug des M. puborectalis einen 90-Grad-Winkel (anorektaler Winkel) zum Anus (2–4 cm) aufweist. Der Analsphinkter besteht aus dem von der rektalen Zirkulärmuskuatur gebildeten M. sphincter ani internus (IAS) und dem durch die Expansion des M. levator ani geformten M. sphincter ani externus (EAS). Der IAS ist wesentlich für die Ruhekontinenz verantwortlich und bestimmt etwa
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70 % des Sphinkterruhedrucks,
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40 % des Druckes während der schnellen und
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65 % während der kontinuierlichen Rektumdehnung.
Die analen Schleimhautfalten und die Hämorrhoidalpolster bedingen etwa 10–20 % des Sphinkterruhedrucks. EAS, M. puborectalis und M. levator ani sind über den N. pudendus innerviert und bedingen den willkürlichen Verschluss und die willkürliche Entleerung.
Die Rektumdehnung wird parasympathisch über die Splanchnikusnerven vermittelt und induziert Rektumkontraktionen, das Defäkationsgefühl und die Relaxation des IAS und des EAS.
Der Eintritt von Gas bzw. Stuhl in den Analkanal wird durch sensible Nervenendigungen erfasst (u. a. Golgi-Mazzoni- / Krause-Pacini- / Meissner-Körperchen). Dies führt zur
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Differenzierung zwischen Flatus und Stuhl,
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Sensationen von Druck, Temperatur und Berührung und zur
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willentlichen Kontraktion des EAS und des M. puborectalis, während diese beiden Muskeln bei der willentlichen Defäkation relaxieren.
Der Anus ist normalerweise durch die tonische Muskelaktivität des IAS, durch den Willkürdruck des EAS und durch die hämorrhoidalen Schleimhautpolster dicht verschlossen. Der Verschluss wird durch den M. puborectalis mit Bildung des anorektalen Winkels verstärkt.
Gestörte Kontinenzfunktionen | Die Symptome der Inkontinenz entstehen in der Regel, wenn einzelne oder häufiger mehrere Kontinenzfunktionen gestört sind. So kann allein die Verminderung der Stuhlkonsistenz bei geschwächtem Sphinkterapparat das „Fass zum Überlaufen bringen“ und eine Inkontinenz bedingen.
Schädigung der Muskeln und Nerven | Im Einzelnen müssen Muskel- bzw. Nervenschädigungen durch Trauma, Operation, Geburt, Beckenbodensenkung bzw. Begleiterkrankungen abgeklärt werden.
Rektumcompliance und Sensorik | Ebenfalls wichtig ist die Erfassung einer verminderten Rektumcompliance durch Entzündungen oder nach Bestrahlung bzw. eine Störung der viszeralen Sensibilität durch Polyneuropathien. So kann die verminderte Sensorik zur geschwächten EAS-Kontraktion mit Inkontinenz führen und eine erhöhte Sensorik und verminderte Rektumcompliance bei Entzündungen zu vermehrten Sphinkterkontraktionen, erhöhtem Stuhldrang und Inkontinenz. Hierbei können die Symptome bereits erste Hinweise auf die zugrundeliegende Ursache geben.
So weisen mangelnde Stuhldifferenzierung, Stuhlschmieren in der Wäsche bzw. unbemerkter Stuhlabgang auf eine sensorische Störung hin. Die Stressinkontinenz bzw. die fehlende Kontrolle für Flatus, flüssigen oder festen Stuhl deutet dagegen auf eine Schwäche des EAS bzw. eine eingeschränkte Rektumcompliance hin.
Verstopfung | Die Inkontinenz nur bei Verstopfung kann ein Indikator für eine Überlaufinkontinenz sein. Ebenfalls ist an eine Koordinationsstörung mit erhöhtem Sphinkterdruck und geschwächter rektaler Entleerung zu denken.
Psyche | Eine psychogene Inkontinenz ist bei Erwachsenen sehr selten; häufig sind es aber psychische Probleme wie Depressionen oder Ängste, die sich auf die Lebensqualität auswirken. Die verschiedenen Ursachen der Analinkontinenz sind in ▸ [ Tab. 1 ] aufgeführt.
Ursache |
Pathophysiologie |
Analsphinkterschwäche |
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anatomische Veränderungen des Beckenbodens |
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anorektale Entzündungen |
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ZNS-Störungen |
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spezielle Darmveränderungen |
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Sensibilitätsstörungen |
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Klassifizierung | Eine allgemeingültige Klassifizierung der Stuhlinkontinenz existiert nicht [1], [4]. Einteilungen sind anhand der Ursachen, der Pathophysiologie, der Art der Inkontinenz (Fein- / Grobinkontinenz, Dranginkontinenz, Überlaufinkontinenz, passive Inkontinenz, Kombinationen, Symptomenschwere) möglich. Zur Erfassung der Symptomenschwere eignen sich neuere Klassifikationen wie der Pescatori-, Wexner- (Cleveland Clinic), Vaizey- (St Marks), Rockwood-Score, die Modifizierten Manchester Health Questionnaires und das Fecal Incontinence and Constipation Assessment (FICA). Der ICIQ-B (Bowel version of the International Consultation of Incontinence Questionnaire) mit 24 Fragenkomplexen [7] und der Revised Fecal Incontinence Scale mit 5 Fragen [8] sind die aktuellsten validierten Einteilungen, die aber noch nicht allgemein verbreitet sind [1]. ▸ [ Tab. 2 ] zeigt die praktikable „Revised Fecal Incontinence Scale“ [8].
Frage |
Antwort |
Bewertung |
Verlieren Sie Stuhl, haben Sie Inkontinenz-Zwischenfälle oder verlieren Sie festen Stuhl? |
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Verlieren Sie Stuhl, haben Sie Inkontinenz-Zwischenfälle oder verlieren Sie flüssigen Stuhl? |
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Verlieren Sie Stuhl, wenn Sie nicht rechtzeitig eine Toilette finden? |
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Verlieren Sie Stuhl, sodass Sie die Unterwäsche wechseln müssen? |
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Belastet der unfreiwillige Stuhlabgang Ihre Lebensumstände (lifestyle)? |
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Diagnostik
Basis-Diagnostik | Die wichtigste Abklärung einer Stuhlinkontinenz ist die Basisuntersuchung mit ausführlicher Anamnese, ggf. mit der Anlage eines Stuhl- bzw. Ernährungstagebuchs, und die umfassende körperliche Untersuchung mit Inspektion und Austastung des Anorektums (▸ [ Tab. 3 ]).
Stufe |
Diagnostische Verfahren |
Basis-Diagnostik |
Anamnese mit Stuhl- und Ernährungstagebuch:
körperliche Untersuchung:
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ergänzende Diagnostik |
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erweiterte Diagnostik |
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Hierbei sollte das Tabuthema Inkontinenz behutsam, aber speziell erfragt werden.
Durch die Ernährungsanalyse können Nahrungsmittelunverträglichkeiten (z. B. Milchzucker-, Fruchtzucker-, Sorbitunverträglichkeit) mit Verminderung der Stuhlkonsistenz erfasst werden. Der erfahrene Arzt kann bereits
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Narben,
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Marisken,
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prolabierende Hämorrhoiden,
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einen Analprolaps,
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die Beckenbodensenkung oder
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einen klaffenden Analsphinkter sehen bzw.
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den Sphinkterruhedruck,
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die Willkürfunktion,
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den Rektumprolaps (▸ [ Abb. 1 ]) und
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Rektozelen qualitativ ertasten.
Diese Untersuchungen sind weiterhin essenzieller Bestandteil einer effektiven Diagnostik und können bereits in über 80 % die Ursachen der Stuhlinkontinenz abklären. Neuere Untersuchungen zeigen, dass die digitale rektale Austastung eine sehr effektive Bedside-Untersuchung ist. Diese erfasst die klinisch relevanten Kontinenzfunktionen und kann aufwendige Funktionsuntersuchungen in den meisten Fällen vermeiden [9]. Zum Nachweis einer Beckenbodensenkung bzw. eines rektoanalen Prolapses kann ein Defäkationsversuch in sitzender Position hilfreich sein.
Ergänzende Diagnostik | Die weiterführende proktoskopische Untersuchung gibt zusätzliche Informationen über Schleimhautvorfälle bzw. prolabierende Hämorrhoiden. Hier kann ein Defäkationsversuch (dynamische Proktoskopie) weitere Hinweise auf einen rektoanalen Prolaps liefern (▸ [ Abb. 2 ]). Beim Nachweis von Entzündungen oder einer echten Diarrhoe sollte eine komplette Koloskopie mit Stufenbiopsen und Stuhluntersuchungen ergänzt werden. Die Vorsorgeempfehlungen sind zu beachten.
Erweiterte Diagnostik | Nach diesen Basisuntersuchungen ist im Einzelfall eine erweiterte anorektale Diagnostik angebracht [4], [5], [6]. Dies ist insbesondere bei therapierefraktären Fällen der Fall. Hierbei wird nach Einzelkomponenten der meist komplex gestörten Kontinenzfunktionen gefahndet. Die differenzierten Untersuchungen sollten in spezialisierten Zentren erfolgen und sind nur bei der Minderheit der Patienten mit Inkontinenz erforderlich. Sie sollen die verschiedenen Komponenten der Inkontinenz klären und sind insbesondere zur Planung und Stratefizierung von chirurgischen Eingriffen notwendig.
Anale Endosonografie | Bei Hinweisen auf Verletzungen bzw. Geburtstraumata oder Operationen erlaubt die anale Endosonografie Aussagen über die morphologische Integrität der Analsphinkter (▸ [ Abb. 3 ]). Die standardisierte anorektale Manometrie gibt Auskunft über den gesamten Defäkationsverlauf, nämlich
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den Sphinkterruhedruck,
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die maximale Höhe und Haltedauer des Kneifdrucks,
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die Länge der Hochdruckzone,
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die rektale Compliance,
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die sensorischen Schwellen für die Perzeption, Defäkation und Schmerzen bzw.
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den rektoanalen Inhibitions- und Kontraktionsreflex und
Defäkografie | Die Defäkation eines instillierten Kontrastmittels unter Röntgendurchleuchtung gibt Hinweise auf das Vorliegen eines spastischen Beckenbodens, von Rektozelen, einem Prolaps bzw. einer Intussuszeption. Sie hat aber den Nachteil einer relativ hohen Strahlenbelastung (▸ [ Abb. 5 ]). Daher ist die Defäko-MRT eine Bereicherung, da ohne Strahlenbelastung zusätzliche Aussagen über die gesamte Beckenbodenbewegung und zeitgleich Informationen über die Anatomie aller Organe des Abdomens und Beckens einschließlich der Analsphinkter und ihr dynamisches Verhalten abgebildet werden.
Analkanaloberflächen-EMG | Damit lässt sich ein paradoxes Pressen mit Anstieg des Sphinkterdrucks beim Defäkationsversuch nachweisen. Spezielle neurologische Untersuchungen sind in letzter Zeit in den Hintergrund getreten (N. pudendus-Nervenleitgeschwindigkeit mittels Oberflächenelektrode, Nadel-EMG des EAS und M. puborektalis zur Detektion einer Neuropathie, Denervierung bzw. Myopathie). Die Barostat-Technik eignet sich zur kontrollierten Messung der Rektumcompliance und Sensorik; sie wird überwiegend im Rahmen von Studien eingesetzt.
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Therapie
Ziele | Die Therapie der Inkontinenz richtet sich nach der jeweiligen Symptomatik und sollte multidisziplinär in Zusammenarbeit von Gastroenterologen, Chirurgen, Gynäkologen, Urologen, Physiotherapeuten und Psychologen erfolgen – am besten in zertifizierten Beckenbodenzentren. Wesentliche Therapieziele sind hierbei
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die Verbesserung der Stuhlkonsistenz,
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die Förderung des Stuhlgangs,
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die Stärkung des Beckenbodens und des Analsphinkters und
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die kontrollierte, zeitlich planbare vollständige Stuhlentleerung.
Diarrhoe | Bei verminderter Stuhlkonsistenz sollte immer eine Nahrungsunverträglichkeit ausgeschlossen werden. Therapeutisch sollten möglichst lösliche nicht blähende Ballaststoffe gegeben werden (z. B. OptiFibre® 3 × 1 Messbecher, Flohsamen 40 g / Tag, Kokosmehl). Bei echter Diarrhoe kann nach mikrobiologischer und endoskopischer Ursachenabklärung Loperamid® (maximal 12 mg / Tag) die Motilität bzw. Sekretion vermindern und den Tonus des Afterschließmuskels erhöhen.
Obstipation | Die Behandlung einer Obstipation sollte nach der aktuellen deutschen Leitlinie erfolgen [11] (▸ [ Abb. 6 ]). Sie ist häufig aufgrund der Stuhlretention im Rektum mit einer Stuhlinkontinenz assoziiert. Makrogole (3 × 1 Btl. / Tag) bzw. Laxanzien (z. B. Bisacodyl, Natriumpicosulfat) können einzeln oder kombiniert verabreicht werden. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die Makrogole erst nach mehreren Tagen der Einnahme ihre stuhlfördernde Wirkung erzielen. Bisacodyl und Natriumpicosulfat können bei akuter funktioneller und bei chronischer Obstipation gegeben werden; sie gehören zu den Mitteln der ersten Wahl. Bei chronischer Obstipation richten sich Dosierung und Einnahmefrequenz nach dem individuellen Bedarf. Eine Begrenzung des Einnahmezeitraums ist unbegründet.
Bei regelhaftem Gebrauch sind stimulierende Laxantien sichere und effektive Medikamente: Neben dem Stuhlverhalten verbessern sie auch die Lebensqualität der Patienten. Bei Langzeiteinnahme müssen sie eher in niedrigerer Dosierung eingenommen werden.
Entleerungsstörung und Prolaps | Bei unvollständiger Entleerung, Prolaps bzw. Überlaufinkontinenz sollte der Patient ein sog. Toilettentraining machen. Hierbei werden die wesentlichen Ursachen der Stuhlentleerungsstörung vermittelt und darauf hingewiesen, das vermehrte Pressen während des Stuhlgangs zu vermeiden. Der Patient versucht zusätzlich zu definierten Zeiten den Enddarm mithilfe von Klysmen bzw. kohlendioxidbildenenden Zäpfchen (z. B. Lecicarbon® supp., 3 × 1 / Tag) vollständig zu entleeren. Sinnvoll ist im Einzelfall auch, die Stuhlimpaktierung durch einen Hebe-Senkeinlauf bzw. ein Irrigationssystem (z. B. Qufora®) zu beseitigen.
Beckenbodensenkung | Beckenbodengymnastik bzw. Sphinktertraining kann eine Beckenbodensenkung verbessern.
Sphinkterschwäche | Die Therapie einer Sphinkterschwäche bzw. paradoxen Kontraktion (spastischer Beckenboden) ist die Domäne für das Biofeedbacktraining mit und ohne Elektrostimulation.
Chirurgie | Neben der Beckenbodenplastik bei Beckenbodensenkung bzw. der Rektopexie bei anorektalem Prolaps werden zunehmend neuere Verfahren eingesetzt – z. B. die STARR-Operation bei anorektalem Prolaps und die Sakralnervenstimulation bei Beckenbodeninsuffizienz, Sphinkterdefekten bzw. Obstipation.
Die Indikation zur chirurgischen Therapie sollte erst nach ausführlicher Diagnostik und Ausschöpfung aller konservativen Möglichkeiten in erfahrenen Zentren erfolgen.
STARR-Operation und Sakralnervenstimulation| Diese Operationsmethode (Staplerunterstützte Trans-Anale Rektum-Resektion) dient der schonenden Entnahme von überschüssiger Wand des Rektums bei Intussuszeption und Rektozele. Bei der Sakralnervenstimulation werden feine Sonden durch Punktionstechnik in die Nähe der Hinterwurzeln des Rückenmarks platziert. Der Schrittmacher gibt schwache elektrische Impulse an die Nerven im Bereich der dorsalen Sakralwurzeln ab, die Darm, Rektum und Blase steuern. Neben der Stuhlinkontinenz können hierdurch auch Blasenfunktionsstörungen behandelt werden. Es erfolgt zunächst eine Teststimulation über einen externen Teststimulator. Bei Erfolg wird dann der Schrittmacher subkutan platziert. In erfahrenen Zentren sind bei entsprechender Patientenauswahl für beide Therapieverfahren Erfolge zwischen 70 und 80 % beschrieben.
Anus-praeter-Anlage | Wenn alle Therapieversuche unbefriedigend sind, kann man die Möglichkeit einer Anus-praeter-Anlage erwägen, die im Einzelfall die Lebensqualität entscheidend verbessern kann.
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Die Stuhlinkontinenz ist ein häufiges Symptom, das aufgrund der Tabuisierung subtil, sensibel und detailliert angesprochen werden muss. Wegen der epidemiologischen Entwicklung wird es stark zunehmen.
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90 % der Fälle können durch eine ausführliche Anamnese und körperliche Untersuchung inkl. digitaler Sphinkter- und Rektumpalpation sicher erfasst und eingeordnet werden. Nur in seltenen Fällen ist eine weiterführende differenzierte Diagnostik notwendig, möglichst in spezialisierten Zentren.
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Die Therapie reicht von der diätetischen Berücksichtigung von Nahrungsunverträglichkeiten über das Toilettentraining bis hin zu Beckenbodengymnastik und kohlendioxidbildenden Zäpfchen bzw. Mikroklysmen. Bei der häufig assoziierten Obstipation können Laxanzien bzw. neue Koloprokinetika versucht werden.
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In therapierefraktären Fällen kommen das Irrigationssystem zur Darmreinigung und chirurgische Verfahren wie die Beckenbodenplastik, die Rektopexie, die STARR-Operation bzw. die Sakralnervenstimulation zum Einsatz.
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Wichtig ist die interdisziplinäre Betreuung der Patienten, möglichst in Beckenbodenzentren.
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Prof. Dr. med. Thomas Frieling
ist Direktor der Medizinischen Klinik II am Helios Klinikum Krefeld.
thomas.frieling@helios-kliniken.de
Interessenkonflikt
Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
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Literatur
- 1 Bharucha AE, Dunivan G, Goode PS et al. Epidemiology, pathophysiology, and classification of fecal incontinence: state of the science summary for the National Institute of Diabetes and Digestive and Kidney Diseases (NIDDK) Workshop. Am J Gastroenterol 2015; 110: 127-136
- 2 Nelson RL. Epidemiology of fecal incontinence. Gastroenterology 2004; 126: PS3-PS7
- 3 Miner PB. Economic and personal impact of fecal and urinary incontinence. Gastroenterology 2004; 126: PS8-PS13
- 4 Rao SSC. Pathophysiology of fecal incontinence. Gastroenterology 2004; 126: PS14-PS22
- 5 Norton C. Behavioural management of fecal incontinence in adults. Gastroenterology 2004; 126: PS64-PS70
- 6 Bharucha AE. Outcome measures for fecal incontinence: anorectal structure and function. Gastroenterology 2004; 126: PS90-PS98
- 7 Cotterill N, Norton C, Avery KN et al. Psychometric evaluation of a new patient-completed questionnaire for evaluating anal incontinence symptoms and impact on quality of life: The ICIQ-B. Dis Colon Rectum 2011; 54: 1235-1250
- 8 Sansoni J, Hawthorne G, Fleming G, Marosszeky N. The revised faecal incontinence scale: a clinical validation of a new, short measure for assessment and outcomes evaluation. Dis Colon Rectum 2013; 56: 652-659
- 9 Soh JS, Lee HJ, Jung KW et al. The diagnostic value of a digital rectal examination compared with high-resolution anorectal manometry in patients with chronic constipation and fecal incontinence. Am J Gastroenterol 2015; 110: 1197-1204
- 10 Keller J, Wedel T, Seidl H et al. S3 guideline of the German Society for Digestive and Metabolic Diseases (DGVS) and the German Society for Neurogastroenterology and Motility (DGNM) to the definition, pathophysiology, diagnosis and treatment of intestinal motility. Z Gastroenterol 2011; 49: 374-390
- 11 Andresen V, Enck P, Frieling T et al. S2k Leitlinie Chronische Obstipation. Z Gastroenterol 2013; 51: 651-672
Korrespondenz
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