Psychiatr Prax 2016; 43(04): 185-186
DOI: 10.1055/s-0042-105729
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Moderne Krankenhausarchitektur und Behandlungsqualität in Psychiatrie und Psychotherapie

Modern Hospital Architecture and Quality of Treatment in Psychiatry and Psychotherapy
Andreas Jochen Fallgatter
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universität Tübingen
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Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Andreas Jochen Fallgatter
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universität Tübingen
Osianderstraße 24
72076 Tübingen

Publication History

Publication Date:
04 May 2016 (online)

 

Wenn man sich die Geschichte und Gegenwart vieler deutscher Universitätsklinika im Hinblick auf Bau- und Sanierungsmaßnahmen anschaut, kann man häufig eine Verzögerung baulicher Investitionen gerade in den Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie feststellen. Ein Blick in die Geschichte der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Tübingen vermag dies beispielhaft verdeutlichen:

Nach einer jahrzehntelangen Vorgeschichte aufgrund von komplexen Finanzierungsproblemen wurde in Tübingen das insbesondere von Wilhelm Griesinger stark propagierte Konzept eines Neubaus einer Psychiatrischen Klinik als sogenanntes „Stadtasyl“ am Ende des 19. Jahrhunderts schließlich umgesetzt. Die Tübinger Universitätspsychiatrie war damals eine der ersten psychiatrischen Kliniken überhaupt, die nicht irgendwo im Wald in einer unwegsamen und abgelegenen Gegend, z. B. auf der Schwäbischen Alb, platziert wurde, sondern wurde wie ein zweites Schloss an einem prominenten Standort angrenzend an die Altstadt in Tübingen mit direkter Blickachse zum Schloss Hohentübingen mit hohem baulichen Aufwand gebaut.

1894 mit hochmoderner Architektur ausgestattet, wurde die Klinik über sechs Jahrzehnte intensiv genutzt. Prof. Walter Schulte wurde mit seiner Berufung im Jahr 1959 der Neubau einer Psychiatrischen Klinik „in spätestens 5 Jahren“ zugesagt. Diese Berufungszusage wurde weder in der Amtszeit von Prof. Schulte (1960 – 1972) noch in der von Prof. Hans Heimann (1974 – 1990), sondern erst im letzten Jahr der Amtszeit von Prof. Gerhard Buchkremer (1990 – 2010) umgesetzt. Es hat also sowohl für den erstmaligen Bau der Klinik 1894 als auch für einen ergänzenden Neubau im Jahre 2010 jeweils mehrere Jahrzehnte gedauert, bis die für eine Umsetzung der jeweiligen Planungen erforderlichen finanziellen Mittel bereitgestellt werden konnten.

Ähnliche Geschichten finden sich für viele andere deutsche Universitätsklinika und man mag spekulieren, was hierfür die Gründe sind. Die Möglichkeiten reichen vom, verglichen mit anderen Fächern, eher bescheidenen Auftreten psychiatrischer Lehrstuhlinhaber im Kampf um die knappen Mittel innerhalb eines Klinikums bis hin zu einem gewissen Neglekt für die Bedürfnisse psychisch Kranker auch bei Klinikumsleitungen bzw. Vorständen. Eine wesentliche Rolle dürfte auch spielen, dass psychisch Kranke in der Regel eine eher geringe Lobby in der Öffentlichkeit haben und ein schlechter Eindruck durch bauliche Mängel in psychiatrischen Kliniken eher wenig in der Öffentlichkeit diskutiert wird. Auch sind psychiatrische Kliniken fast immer voll belegt, sodass es aus betriebswirtschaftlicher Sicht keiner besonderen baulichen Investitionen bedarf, um Patienten zu gewinnen. Dabei erscheint eine ansprechende Krankenhausarchitektur gerade für Menschen mit psychischen Erkrankungen besonders wichtig, da sie ja meist mehrere Wochen in einer stationären Behandlung bleiben, während in den somatischen Fächern der Krankenhausaufenthalt auf meist wenige Tage begrenzt ist.

Die Vermutung liegt nahe, dass die Krankenhausarchitektur durch großzügige Gestaltung der Patientenzimmer und Funktionsräume, durch eine gelungene Farbgebung, durch viel Licht und eine gut auf die Behandlungsprozesse abgestimmte Architektur auch einen positiven Effekt auf die Behandlungsqualität bewirkt. Literatur, die auf einen solchen Zusammenhang einer verbesserten Behandlungsqualität durch architektonische Maßnahmen hinweist, ist jedoch relativ spärlich (vergleiche z. B.: [1] [2] [3] [4] [5] [6] [7]) zumal bei einer solchen Fragestellung ein entsprechend qualifiziertes Studiendesign im Sinne einer randomisiert kontrollierten klinischen Studie nicht möglich ist. Umso wichtiger erscheint es, Architektureinflüsse in naturalistischen Studien zu erfassen. Diese Möglichkeit bot sich in Tübingen, als alle stationär behandelten Patienten der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie im März 2011 aus den engen, dunklen, zum Teil mit vergitterten Fenstern versehenen Zwei- bis Vierbettzimmern ohne eigene Nasszelle in die neu konzipierten, modernen, lichtdurchfluteten, mit viel Glas und großzügig eingerichteten Stationen mit Parkettboden und ausschließlich Zwei- und Einbettzimmern mit eigenen Badezimmern und viel Rückzugsmöglichkeiten umzogen.

Als quantitativ messbarer Indikator für die Behandlungsqualität wurde die Häufigkeit notwendiger Zwangsmaßnahmen in Form von Fixierungen und Zwangsmedikationen herangezogen. In einer Analyse der systematisch erfassten Daten der notwendigen Zwangsmaßnahmen in den fünf Jahren vor dem Umzug, also im Altbau, von Januar 2005 bis Dezember 2010, verglichen mit den ersten 3,5 Jahren nach dem Umzug in den Neubau von April 2011 bis Juni 2014, zeigte sich eine signifikante Reduktion aller notwendigen Zwangsmaßnahmen pro Patientenbett für die Anzahl fixierter Patienten, die Anzahl von Tagen mit Fixierungen, die mittlere Dauer von Fixierungen in Stunden und auch die mittlere Anzahl von Zwangsmedikationen um jeweils 50 – 85 %. Diese Daten wurden international in Form einer Kurzpublikation veröffentlicht [8].

Diese Ergebnisse einer Reduktion aller Zwangsmaßnahmen wurden zusätzlich noch für einen um ein halbes Jahr bis Dezember 2014 erweiterten Erfassungszeitraum in einer ausführlichen Analyse in einem deutschsprachigen Artikel dargestellt [9]. Diese Zahlen weisen trotz der in den Artikeln diskutierten Einschränkungen im Studiendesign daraufhin, dass eine verbesserte Krankenhausarchitektur zumindest wesentlich dazu beitragen kann, ein wichtiges Qualitätskriterium psychiatrischer und psychotherapeutischer Behandlung, nämlich die Notwendigkeit von Zwangsmaßnahmen, zu reduzieren.

Neben diesen quantitativ messbaren Indikatoren für eine verbesserte Behandlungsqualität sind natürlich auch qualitative Faktoren zu berücksichtigen. Die Patienten/innen äußern sich überwiegend sehr zufrieden über die räumlichen Bedingungen der stationären Behandlung im Neubau der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Tübingen und auch das Personal aller Berufsgruppen berichtet über eine deutliche Verbesserung der Behandlungsbedingungen. Man kann sich gut vorstellen, dass sich alleine dadurch auch die therapeutischen Interaktionen verbessern und viel Unmut und dadurch bedingte Auseinandersetzungen vermieden werden kann. Auch das Behandlungsklima gerade auf den Akutstationen hat sich spürbar verbessert: Meine persönliche Wahrnehmung ist, dass die früher üblichen „Ansammlungen“ von Patienten/innen hinter der Eingangstür von Akutstationen, die zum Teil ein Gefühl von Anspannung und Eskalationsgefahr vermittelt haben, fast vollständig verschwunden sind. Die Patienten/innen verteilen sich jetzt viel besser auf den Stationen, die Rückzugs- und Aufenthaltsmöglichkeiten in den wohnlichen Zimmern, aber auch in den großzügigen Aufenthalts- und Therapieräumen und den Flurnischen sowie dem Balkon werden genutzt. Es gibt einfach keine Gründe mehr, sich hinter der Eingangstür zu versammeln.

Investitionen für zeitgemäße bauliche Maßnahmen in Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie sind somit ein wichtiger Faktor, der die Qualität psychiatrisch-psychotherapeutischer Behandlung erhöhen kann. Es bleibt zu hoffen, dass die genannten sowie ähnliche Arbeiten dazu beitragen können, die Überzeugungskraft der Klinikdirektoren für Psychiatrie und Psychotherapie zu stärken, finanzielle Mittel für verbesserte Krankenhausarchitektur zum Wohle der Patienten/innen bei den zuständigen Geldgebern zu erreichen.


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Andreas Jochen Fallgatter

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  • Literatur

  • 1 Christenfeld R, Wagner J, Pastva MWG et al. How physical settings affect chronic mental patients. Psychiatr Q 2015; 60: 253-264
  • 2 Ulrich RS. Effects of interior design on wellness: theory and recent scientific research. J Health Care Interior Des 1991; 3: 97-109
  • 3 Evans GW. The built environment and mental health. J Urban Health 2003; 80: 536-555
  • 4 Gaskin CJ, Elsom SJ, Happell B. Interventions for reducing the use of seclusion in psychiatric facilities. Reveiw of the literature. Br J Psychiatry 2007; 191: 298-303
  • 5 Steinert MT, Martin V, Baur M et al. Diagnosis-related frequency of compulsory measures in 10 German psychiatric hospitals and correlates with hospital characteristics. Soc Psychiatry Psychiatr Epidemiol 2007; 42: 140-145
  • 6 Dijkstra K, Pieterse M, Pruyn A. Stress-reducing effects of indoor plants in the built healthcare environment: The mediating role of perceived attractiveness. Prev Med 2008; 47: 279-283
  • 7 Richter D, Hoffmann H. Architektur und Design psychiatrischer Einrichtungen. Psychiat Prax 2014; 41: 128-134
  • 8 Dresler T, Rohe T, Weber M et al. Effects of improved hospital architecture on coercive measures. World Psychiatry 2015; 14: 105-106
  • 9 Rohe T, Dresler T, Stuhlinger M et al. Bauliche Modernisierungen in psychiatrischen Kliniken beeinflussen Zwangsmaßnahmen. Nervenarzt DOI: 10.1007/s00115-015-0054-0.

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Prof. Dr. med. Andreas Jochen Fallgatter
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universität Tübingen
Osianderstraße 24
72076 Tübingen

  • Literatur

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