Psychiatr Prax 2016; 43(02): 120-121
DOI: 10.1055/s-0042-102906
Mitteilungen DGGPP
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Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Gerontopsychiatrie und -psychotherapie (DGGPP)

H. Gutzmann
Krankenhaus Hedwigshöhe, Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie
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Prof. Dr. Hans Gutzmann
Krankenhaus Hedwigshöhe, Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie
Höhensteig 1
12526 Berlin

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Publication Date:
08 March 2016 (online)

 

Nachruf auf Dr. med. Lutz Drach[*]

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Dr. med. Lutz Drach

Liebe Trauergemeinde, liebe Familie,
liebe Kolleginnen und Kollegen,

wir hatten sehr gehofft, dass Lutz Drach seine schwere Krankheit, von der er seit dem Sommer wusste, überwinden würde.

Noch an der letzten Telefonkonferenz unseres Vorstands im alten Jahr hatte er teilgenommen. Wohl mit zusammengebissenen Zähnen.


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Dr. Lutz Drach verstarb in der Nacht auf den 24. Dezember 2015.

Worte für einen verstorbenen Kollegen zu finden, fällt mir nicht leicht.

Wir alle haben mit Lutz Drach einen lieben Kollegen verloren, sehr viele einen guten und engen Freund.

Manches angefangene Gespräch wird nun nicht mehr zu Ende geführt, mancher gemeinsame Plan wird nicht mehr Realität werden können.

Jeder von uns wird mit seinem Tod auf eigene Weise umgehen müssen.

Einige Daten mögen den beruflichen Lebensweg von Dr. Lutz Drach skizzieren:

Er war Hesse, was man auch problemlos immer wieder an seiner weichen Intonation erkannte. Als solcher hat er in Frankfurt studiert und seine Facharztausbildung auch wesentlich im Hessischen absolviert. Er war sowohl Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie als auch Facharzt für psychotherapeutische Medizin.

Als Zusatzqualifikationen sind noch Klinische Geriatrie und Rehabilitation zu nennen.

Außerdem hat er die vollständige Weiterbildung zum Facharzt für Neuropathologie am Edinger Institut in Frankfurt absolviert.

Für die Alterspsychiatrie bekam er wesentliche Impulse bei Brice Pitt und Peter Jeffreys am Royal College of Psychiatrists in London. Seine erste leitende Stellung bekleidete er dann auch im Funktionsbereich Gerontopsychiatrie in Riedstadt. Später, nach seinem sehr erfolgreichen Intermezzo in der Neuropathologie, wurde er Leitender Arzt der Abteilung Gerontopsychiatrie in Köppern.

Seit Oktober 2000 war er hier in Schwerin Chefarzt der Klinik für Alterspsychiatrie.

Für Lutz Drach war die Deutsche Gesellschaft für Gerontopsychiatrie und -psychotherapie stets ein besonders wichtiges Anliegen. Seit 2003 war er Mitglied in unserem Vorstand.

Er war ein in seiner Lebendigkeit unverzichtbarer Teil unserer Gemeinschaft, auf den wir nun doch endgültig werden verzichten müssen. Wir schätzten ihn als stets unverstellt, immer offen, mit nichts hinter dem Berg haltend. Auf ihn war Verlass, seine Äußerungen waren unzweideutig. Er hatte auch Ecken und Kanten. Er war ein sehr kluger Mann mit eminent schneller Auffassungsgabe und scharfem Blick für das Wesentliche. Er konnte ausführlich und unendlich geduldig erklären, wenn er beim Gegenüber Interesse und Lerneifer spürte.

Lutz Drach war Kliniker, und er war Grundlagenforscher – und damit vielen von uns voraus.

Er hat als Wissenschaftler am Edinger Institut an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt in den späten 80er- und frühen 90er-Jahren insbesondere die Akkumulation von Lipofuszin, dem sogenannten Alterspigment, in Hirnkernen untersucht.

Dabei konnte er zeigen, dass Lipofuszin bei der Alzheimer-Demenz nicht unbedingt häufiger vorkommt als in den Gehirnen gesunder älterer Menschen, wohl aber bei der Lewy-Körperchen-Demenz. Das brachte ihn früh zu der Hypothese, dass das Lipofuscin bei der Alzheimer-Demenz keinen eigentlichen Pathomechanismus repräsentiere, während es bei der Lewy-Körperchen-Demenz für eine mitochondriale Erkrankung spreche. Beides hat sich mittlerweile bestätigt. Sowohl die Mitochondrienpathologie bei der Lewy-Körper-Demenz als auch die Interaktion von Lipofuscin mit der Amyloidpathologie gelten heute als wichtige Hypothesen in der neuropathologischen Grundlagenforschung der Demenzen. Dass Lutz Drach diese grundlagenwissenschaftlichen Erfolge mit Blick auf die klinische Relevanz stets sehr bescheiden kommentiert hat, war für uns immer wieder tief beeindruckend.

Gerade in einer Zeit, in der Bescheidenheit wenig honoriert wird.

Er betonte immer wieder, dass seine im Vergleich zu den Lipofuszinstudien eher wenig spektakuläre Post-mortem-Studie zur Lewy-Körperchen-Demenz, in der er zeigen konnte, dass diese Demenzform oft übersehen wird, für ihn angesichts der klinischen Relevanz viel bedeutsamer war.

Und das sehen wir heute auch so wie er. Lutz Drach war in diesem Sinne ein herausragender Grundlagenwissenschaftler, der den Blick für die Klinik früh gewann und nie verlor.

Damit nahm er eine Sonderstellung ein – und nicht nur darin.

Er war nicht zuletzt der englischste von uns allen, von der Hose aus Manchester-Cord über das Tweed-Jackett bis zur schottischen Flatcap. Vor allem aber war er der wohl englischste Gerontopsychiater diesseits des Kanals. So kompetent, so komplett und solide verankert zwischen den Polen Klinik und Neuropathologie, so engagiert im Einsatz für seine Patienten.

Differenzialdiagnostik war ihm ebenso wichtig, wie die Ausleuchtung und Berücksichtigung des sozialen und familiären Umfelds seiner Patienten.

Er war auch ein Kollege mit hoher sozialer Kompetenz.

Seine Berichte über die Geburtswehen des Konsensus zu den diagnostischen Kriterien für die Lewy-Körperchen-Demenz, über den Keller in Newcastle upon Tyne, wo bei reichlich Brown Ale schließlich Einigkeit erzielt wurde, waren legendär.

An dieser Stelle sind mir einige Worte über das Verhältnis von Lutz Drach zum englischsten aller Barden wichtig. Shakespeare, so hat mir seine Ehefrau erst kürzlich versichert, war ein Hausheiliger. Stand der auf dem Spielplan eines erreichbaren Theaters, ging man hin. Lutz Drach liebte ihn, wusste sehr vieles über ihn, hatte sogar ein eigenes Shakespeare-Regal. Ich erinnere mich gut an eines unserer letzten Gespräche vor der Erkrankung. Darin ging es um Shakespeare und darum, dass ich mich unter die Shakespeare-Zweifler begeben hatte.

Ich war nicht mehr überzeugt davon, dass jener Kaufmann aus Stratford, in dessen ausführlichem Testament kein einziges Buch, kein einziges Manuskript aufgeführt ist und dessen Kinder ebenso wenig wie seine Frau Lesen und Schreiben gelernt hatten, unser Shakespeare gewesen sein soll.

Jener Shakespeare, der das Universum von Hamlet und Lear, von Romeo und Julia, von Puck und Zettel, von Falstaff und Richard III und so vielen anderen geschaffen hat, vor dem wir immer noch und immer wieder staunend stehen. Lutz sah das etwas anders – wie die Mehrheit der Shakespeare-Experten.

Wir hatten vorher den ganzen Nachmittag über mit einer Kollegin an einem Brief an den Gesundheitsminister gefeilt.

Das Grübeln über Formulierungen zum neuen Erlössystem für die Psychiatrie war eine denkbar dröge Materie gewesen. Danach waren wir auch noch bekocht worden, wobei ich Lutzʼ kulinarische Kompetenz nur still bewundern konnte. Und schließlich waren wir beide doch recht müde geworden.

Angesichts des Bekenntnisses meiner Apostasie wurde Lutz auf dem Heimweg plötzlich wieder sehr munter. Shakespeare weckte also erneut seine Lebensgeister. Wir gerieten in einen lebhaften Disput pro und contra Stratford. Wir stritten über Francis Bacon, Christopher Marlowe und über den Grafen von Oxford. Über Orthodoxe und Anti-Stratfordianer, über Leben und Theater im elisabethanischen London. Schließlich endeten wir bei einem für beide sehr befriedigenden Kompromiss:

Wer immer Shakespeare gewesen sein mag, wir liebten ihn beide.

Solche für alle Beteiligten befriedigenden Kompromisse waren auch bei anderen Kontroversen mit Lutz immer möglich, wenn sich der Pulverdampf verzogen hatte.

Auf der Todesanzeige von Lutz Drach kommt Prospero aus Shakespeares letztem Stück, dem STURM, zu Wort.

Nachdem Schiffbruch und Romanzen, Schurken und Helden, gute und böse Geister die Szene erheblich durcheinandergewirbelt haben, entwirft der alte Herzog und höchst erfolgreiche Zauberer Prospero für die Beteiligten ein versöhnliches Bild.

In der Schlegelʼschen Übersetzung heißt das Zitat im Kontext:

Das Fest ist jetzt zu Ende; unsre Spieler,
Wie ich Euch sagte, waren Geister, und
Sind aufgelöst in Luft, in dünne Luft.
Wie dieses Scheines lockrer Bau, so werden
Die wolkenhohen Türme, die Paläste,
Die hehren Tempel, selbst der große Ball,
Ja, was daran nur Teil hat, untergehn
Und, wie dies leere Schaugeprängʼ erblasst,
Spurlos verschwinden. Wir sind solcher Zeug
Wie der zu Träumen,
Und dies kleine Leben umfasst ein Schlaf.

(Im Original) “And our little life is rounded with a sleep”

Zu wissen, dass Lutz Drach nicht mehr mitredet, nicht mehr seine immer kreativen und gelegentlich provokativen Beiträge wie nebenher einstreut, fällt uns allen sehr schwer.

Er wird uns, er wird der Gerontopsychiatrie, er wird vor allem natürlich seiner Familie fehlen.

Wenn wir aber nur diejenigen endgültig verloren haben, an die wir uns nicht mehr erinnern, so wird Lutz Drach Dank seiner humorvollen Wärme und Menschlichkeit, seiner überlegenen Fachlichkeit und seines oft kämpferisch vorgetragenen Engagements das Schicksal des Vergessenwerdens sicher erspart bleiben.

Bei den Überlegungen, welche Weichen in Zukunft gestellt, welche Wünsche und Bedürfnisse mehr Beachtung finden müssen, aber auch, welche Probleme relativiert gehören, werden wir immer wieder „Lutz mitdenken“.

Lutz Drach hat sich um die Gerontopsychiatrie, er hat sich um uns alle verdient gemacht.

Wir wollen seiner in Dankbarkeit gedenken.


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* gering gekürzte Fassung der Rede von Prof. Dr. Hans Gutzmann, Präsident der DGGPP, Berlin, gehalten auf der Trauerfeier in den Helios Kliniken Schwerin am 30. Januar 2016.



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Prof. Dr. Hans Gutzmann
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Dr. med. Lutz Drach