Psychiatr Prax 2016; 43(03): 129-130
DOI: 10.1055/s-0042-102862
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Struktur und Tätigkeitsspektrum der Psychiatrischen Institutsambulanzen in Deutschland

Structure and Spectrum of Activities of Psychiatric Outpatient Clinics in Germany
Steffi Koch-Stoecker
1   Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Bethel, Evangelisches Krankenhaus Bielefeld, von Bodelschwinghsche Stiftungen Bethel
,
Martin Driessen
1   Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Bethel, Evangelisches Krankenhaus Bielefeld, von Bodelschwinghsche Stiftungen Bethel
,
Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank
2   LVR-Klinik Köln Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie
,
Thomas Pollmächer
3   Zentrum für psychische Gesundheit, Klinikum Ingolstadt
› Institutsangaben
Weitere Informationen

Korrespondenzadresse

Dr. med. Dipl.-Psych. Steffi Koch-Stoecker
Psychiatrische Institutsambulanz, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Bethel, Evangelisches Krankenhaus Bielefeld, von Bodelschwingh‘sche Stiftungen Bethel
Gadderbaumer Straße 33
33602 Bielefeld

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
07. April 2016 (online)

 

Mit der Publikation der Psychiatrie-Enquete [1] vor über 40 Jahren wurden für die psychiatrischen Fachkrankenhäuser die Voraussetzungen geschaffen, in begrenztem Umfang, nämlich für psychisch komplex Erkrankte mit multiprofessionellem Hilfebedarf, in sog. „Psychiatrischen Institutsambulanzen“ (PIAs) ambulant tätig zu werden. Seit 2001 sind auch psychiatrische Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern legitimiert, PIAs zu führen mit der Folge, dass inzwischen eine nahezu flächendeckende Ausstattung von ca. 500 PIAs mit mehr als 2 Mio. Behandlungsfällen verfügbar ist.

PIAs sind eine feste Säule im psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgungssystem und wirken nachhaltig zur Vermeidung von Drehtüreffekten im stationären Bereich, zur Stabilisierung bei chronischen Verläufen und zur akuten Krisenintervention.

Vor diesem Hintergrund überraschte die Charakterisierung der PIAs als „Black Box“ und „Webfehler im System“ durch den Vorsitzenden des Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) im Sommer 2014. Auch die Anrechnung der PIAs auf die Kassenarztsitze im nervenärztlichen Fachgebiet [2] führte in den Berufs- und Fachverbänden zu Unverständnis und Kritik [3] [4].

Es ist das explizite Anliegen der PIA-führenden psychiatrischen Fachkrankenhäuser und Abteilungen, Transparenz über die Strukturen, Funktions- und Arbeitsweisen sowie die Behandlungsprozesse der PIAs in der (Fach-)Öffentlichkeit herzustellen. Seit 2013 liegen den gesetzlichen Krankenversicherern und dem Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus (InEK) umfangreiche Daten der PIAs vor, die über den Prüfauftrag im Rahmen der Einführung eines neuen pauschalierenden Entgeltsystems für psychiatrische und psychosomatische Einrichtungen nach § 17 d Abs. 1 Satz 3 KHG verpflichtend erhoben und eingereicht werden müssen. Dieser Prüfauftrag soll klären, ob PIAs in das neue Entgeltsystem einbezogen werden sollten. Am 16.3.2012 wurde zwischen den gesetzlichen Krankenkassen (GKV) und der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) die sog. „PIA-Doku-Vereinbarung“ [5] geschlossen, deren Besonderheit in der verpflichtenden, an das InEk zu übergebenden Dokumentation aller Patientenkontakte der PIAs in vier Kategorien liegt:

PIA 001: Ohne Arzt/Psychologenkontakt – nicht aufsuchend
PIA 002: Mit Arzt/Psychologenkontakt – nicht aufsuchend
PIA 003: Mit Arzt/Psychologenkontakt – aufsuchend
PIA 004: Ohne Arzt/Psychologenkontakt – aufsuchend

Da diese Daten zwar dem InEK und den GKV vorliegen, nicht aber den Verbänden und der Öffentlichkeit, wurde vom Vorstand der Bundesdirektorenkonferenz (BDK) in Abstimmung mit dem Vorstand des Arbeitskreises für Chefärztinnen und Chefärzte der Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie an Allgemeinkrankenhäusern in Deutschland (ackpa) im Sommer 2014 eine kurzfristig zu realisierende internetbasierte Pilotstudie mithilfe des „SurveyMonkey“ [6] durchgeführt, die anhand von wenigen Fragen einen Eindruck von der tatsächlichen Lage der PIAs im Jahr 2013 erbringen sollte. Alle Kliniken und Abteilungen, deren Leitende Ärzte Mitglieder eines der beiden Verbände BDK und ACKPA sind, wurden per E-Mail im August 2014 angeschrieben und um ihre Teilnahme gebeten.

156 (knapp ein Drittel) aller PIAs nahmen teil. In diesen PIAs leisteten im Mittel (Median) 8 therapeutische Vollzeitkräfte zusammen 2,5 Mio. Patientenkontakte, davon 12 % aufsuchend. Die Streuung zwischen den teilnehmenden PIAs war ausgeprägt. Statistisch signifikante Zusammenhänge zwischen Diagnosen und Strukturmerkmalen der Kliniken sowie der Patientenkontakte konnten nicht gezeigt werden.

Von den 8 therapeutisch tätigen Vollkräften waren 3 Ärzte, 1 Psychologe, 2 Pflegende sowie 1 Mitarbeitender anderer therapeutischer Berufsgruppen. Hinzu kamen 2 nicht therapeutisch tätige Mitarbeitende. Im Mittel (Median) versorgte eine PIA 3425 Patienten (Quartalsfälle), mit ebenfalls erheblicher Streuung. Die größte Gruppe waren Patienten mit affektiven Störungen (Median 29 %), gefolgt von solchen mit psychotischen (19 %), neurotischen, Angst- und Posttraumatischen Belastungsstörungen (12 %). Substanzbezogene Störungen waren mit 9 % und psychoorganische Störungen mit 8,5 % vertreten.

Knapp 88 % der 2 507 340 Patientenkontakte fanden in der PIA statt, davon ohne Arzt/Psychologe (PIA001) knapp 25 %, mit Arzt/Psychologen (PIA002) ca. 63 %. Aufsuchende Kontakte machten gut 12 % aus, davon mit Arzt/Psychologe (PIA003) ca. 10 % und ohne Arzt/Psychologe (PIA004) 2 %. Obwohl diese Pilotstudie keinen repräsentativen Anspruch erheben kann, ist es bemerkenswert, dass das InEK in einem Vortrag 2015 auf der Datenbasis aller Psychiatrischen Kliniken und Abteilungen eine nahezu identische Verteilung der Kontaktarten präsentierte.

Ärzte und Psychologen behandelten im Mittel (Median) 729 Quartalsfälle pro Jahr mit durchschnittlich 1412 Patientenkontakten in der PIA und 165 aufsuchenden Patientenkontakten. Zusätzlich fanden im Mittel (Median) durch Pflege- oder andere therapeutisch Mitarbeitende 801 Patientenkontakte in der PIA und 69 aufsuchend statt.

Im Mittel wurden pro Quartalsfall 3,3 Kontakte bei einer erheblichen Streuung berichtet. Dabei bleibt allerdings unberücksichtigt (da nicht erfragt) wie viele Quartale die Patienten die PIA aufgesucht hatten.

Diese Pilotstudie zeigt einige Trends der aktuellen Situation der PIAs in Deutschland auf. In den PIAs werden im Vergleich zu den Prävalenzraten in der Allgemeinbevölkerung [7] [8] ein weit überrepräsentativer Anteil von Patienten mit psychotischen Störungen (ICD-10 F2) und auch ein überrepräsentativer Anteil von Patienten mit affektiven (F3), substanzbezogenen (F1) und psychoorganischen Störungen (F0) behandelt, während neurotische, belastungs- und somatoforme Störungen (F4) unterrepräsentiert sind [9]. Ein Vergleich mit der Diagnoseverteilung in den Psychiatrischen und Nervenarztpraxen [10] zeigt ebenso einen in der PIA höheren Anteil von Diagnosen aus den Kapiteln F1, F2, F3 und Persönlichkeitsstörungen (F6), dagegen einen geringeren Anteil der Diagnosegruppe F4 [11]. Auch wenn hier nur Hauptdiagnosen berücksichtigt und Ko- und Multimorbidität sowie Chronizität nicht erfasst wurden, weisen die Ergebnisse darauf hin, dass PIAs entsprechend dem gesetzlichen Auftrag Patienten mit schweren Störungen behandeln.

Trotz insuffizienter Finanzierungsbedingungen finden immerhin 12 % der Kontakte aufsuchend statt. Wenn man die aufsuchende Arbeit und die komplexe Tätigkeitsstruktur des multiprofessionellen Teams betrachtet, wird deutlich, dass PIAs in Deutschland tatsächlich dem gesetzlichen Auftrag entsprechend komplexe Versorgungsangebote leisten, wie sie für schwer und chronisch Kranke erwartet werden. PIAs sind „innovativ und … ein Motor des Strukturwandels“ [12].

Ferner zeigen die Ergebnisse eine große Varianz bei der Anzahl aller Quartalsfälle, der Diagnoseverteilung, der Größe der therapeutischen Teams und damit auch der Anzahl der Patientenkontakte. Diese Varianz lässt sich nach Kontrolle der Gesamtzahl der Patienten (Quartalsfälle) durch die hier erfassten Strukturmerkmale der PIAs wie Krankenhaustyp, Versorgungsbereich und auch durch das Vergütungssystem nicht erklären. Auch die Diagnoseverteilung lässt sich aufgrund der vorliegenden Daten nicht durch die o. g. Strukturmerkmale erklären. Hier spielen vermutlich ganz andere – eher bedarfsorientierte – Faktoren eine Rolle, die neben der Ressourcenfrage und konzeptionellen Strategien besonders in der Struktur und Verfügbarkeit des gesamten regionalen Versorgungssystems begründet sind (z. B. Verfügbarkeit niedergelassener Fachärzte und/oder gemeindepsychiatrischer Dienste). Die große Streuung scheint also am ehesten den gewachsenen Bedingungen der jeweiligen Versorgungsregion geschuldet zu sein. Folgt man dieser – in weiteren Untersuchungen noch zu prüfenden – Annahme, ließe sich schlussfolgern, dass die PIAs mit ihren regionalen Kooperationen bereits jetzt zu integrierter, passgenauer ambulanter Versorgung beitragen, die im Versorgungsstärkungsgesetz angemahnt wird.


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Steffi Koch-Stoecker

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Dr. med. Dipl.-Psych. Steffi Koch-Stoecker
Psychiatrische Institutsambulanz, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Bethel, Evangelisches Krankenhaus Bielefeld, von Bodelschwingh‘sche Stiftungen Bethel
Gadderbaumer Straße 33
33602 Bielefeld


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