PiD - Psychotherapie im Dialog 2015; 16(03): 106-109
DOI: 10.1055/s-0041-102276
Ein Fall – verschiedene Perspektiven
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Fallbericht: Multiple psychosomatische und ­psychische Beschwerden

„Ich bin eine schlechte Mutter …“
Christina Huber
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
07. September 2015 (online)

 

Eine 46-jährige Patientin sucht die Psychotherapie wegen ­zahlreicher akuter psychosomatischer und psychischer Beschwerden auf. Die ­Anamnese ergibt eine lange Vorgeschichte von häuslicher Gewalt, ­lebensgeschichtlichen Schwierigkeiten und ­psychischen Problemen.


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Beschwerden, Zeitpunkt und Anlass der Symptombildung

Häufung belastender Ereignisse Die Patientin gibt an, dass ihr Befinden seit ca. 6 Monaten sehr schlecht sei. Sie habe ein hartes Jahr hinter sich: Ihr Mann habe vor ein paar Jahren Darmkrebs gehabt und bei der letzten Kontrolle sei sein Lymphknoten auffällig gewesen. Es habe 2 Einbrüche in ihrem eigenen Geschäft gegeben, und eine Tante sei verstorben, zu der sie ein inniges Verhältnis gehabt habe. Dann habe ihr Sohn einen Verkehrsunfall erlitten; 3 Stunden später habe sie erfahren, dass auch ihr Ehemann zusammen mit ihrer Tochter einen Verkehrsunfall gehabt hätte. Keiner der 3 sei gravierend verletzt worden.

Somatische Beschwerden Nach diesen Nachrichten habe die Patientin zunächst nichts gefühlt, dann ein paar Tage nur gelegen, sich dann zu nichts aufraffen können. Sie leide aktuell unter Sehstörungen, fühle sich wie im Unterzucker. Die Hände und Füße würden einschlafen, sie habe Kopfschmerzen, Schmerzen in den Gelenken, Konzentra­tionsschwierigkeiten, Schwindel, Herzrasen, Schwitzen. Sie fühle ein helmartiges Brennen auf ihrem Kopf, welches sich wie eine Gänsehaut über den ganzen Körper ziehe. Wenn das Brennen da sei, sei auch ihr Puls sehr hoch. Das Brennen sei nicht steuerbar, nur wenn sie Stress vermeiden könne, sei es etwas besser. Sie habe verschiedene medizinische Untersuchungen durchführen lassen, wie EEG, CT, Krebsvorsorge und Gesundheits-Check-up, jedoch ohne Befund.

Psychische Beschwerden Die Patientin berichtet, sie weine viel, könne ohne Medikamente nicht einschlafen und wache nachts von Alpträumen auf. Sie leide unter Appetitlosigkeit, einem Kloß im Hals, innerem Druck und Anspannung, und dem Bedürfnis, sich zu ritzen oder zu bestrafen. Sie habe Flashbacks und heftige Erinnerungen an ihre Kindheit. Die Patientin berichtet von Schuldgefühlen ihren Kindern gegenüber, sie fühle sich wie eine schlechte Mutter. Außerdem glaube sie, dass sie ihren Bruder im Stich gelassen habe. Sie denke, dass sie solch tolle Kinder und solch einen liebevollen Ehemann nicht verdient habe. Sie leide unter Verlustängsten und habe Angst vor Kontrollverlust, z. B. beim Autofahren.

Beginn der Beschwerden Die psychischen Schwierigkeiten hätten bereits im Alter von 17 Jahren begonnen. Die Patientin berichtet von Dissoziationen, Ritzen, Selbstbestrafungen, Selbstüberforderung sowie Störungen des Ess- und Trinkverhaltens.


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Lebensgeschichtliche ­Entwicklung und ­Krankheitsanamnese

Gewalt durch die Mutter Die Patientin gibt an, dass ihre Mutter körperliche und verbale Gewalt gegen sie und ihren jüngeren Bruder (44 J.) ausgeübt habe. Der Bruder sei durch die körperlichen Misshandlungen stark körperlich und geistig behindert. Die Mutter habe beispielsweise seinen Kopf unter eiskaltes Wasser in der Badewanne gedrückt, die Patientin habe zuschauen müssen. Die 40-jährige Schwester, der 37-jährige und der 24-jährige Bruder hätten keine Misshandlungen erfahren, sie seien liebevoll behandelt worden.

Rolle des Vaters Der Vater habe von der Gewalt gegen sie und ihren Bruder vermutlich gewusst, aber nichts dagegen unternommen. Er habe viel gearbeitet und sei selten zu Hause gewesen. Zwar habe er sie nicht geschlagen, sei aber auch sehr zurückhaltend gewesen und habe nicht gezeigt, dass er sie gern gehabt habe.

Familiäre Entwicklung und aktuelle Situation Die Mutter sei auf Anzeige der Großmutter hin ins Gefängnis gekommen. Seit ihrem 6. Lebensjahr habe die Patientin bei ihrer Großmutter väterlicherseits gelebt, der jüngere Bruder sei in ein Behindertenheim gekommen. Sie habe von den Eltern aus keinen Kontakt zu ihm haben dürfen. Im Alter von 18 Jahren habe sie den Kontakt zur Familie abgebrochen und sich für den Kontakt zu ihrem jüngeren Bruder entschieden. 1998 sei die Großmutter verstorben, die für sie „ihre Familie bedeutet“ habe.

Schule und Ausbildung Im Kindergarten und der Schule sei die Patientin nicht integriert gewesen; sie habe auch heute Schwierigkeiten, Nähe zuzulassen. Sie habe die Realschule und Höhere Handelsschule besucht und 1988 ihr Fachabitur absolviert. In der Realschule habe sie ein Jahr wiederholen müssen; sie sei oft krank gewesen und habe nicht lernen können, ihre Leistungen seien schlecht gewesen. Nach dem Schulabschluss habe sie eine Ausbildung zur Rechtsanwaltsgehilfin absolviert.

Berufliche Stationen Nach einem halben Jahr im Beruf sei die Patientin mit ihrer Tochter schwanger gewesen. Nach deren Geburt habe sie aufhören müssen zu arbeiten, da die Kinderbetreuung nicht funk­tioniert habe. Nachdem sie mit ihrem Sohn schwanger gewesen sei, habe sie nicht mehr in ihrem Beruf gearbeitet, sondern diverse Jobs gehabt. Aufgrund häufiger Krankheitsphasen und psychischer Instabilität sei es in 2 Fällen zur Kündigung und Stellenwechseln gekommen. Aktuell betreibe sie selbständig 2 Kioske und habe hierfür 3 Angestellte. Dennoch sei sie oft von morgens 4 Uhr bis abends 22 Uhr auf den Beinen. Es sei viel Arbeit und es komme „wenig dabei rum“.

Aktuelle häusliche Situation Sie sei in 2. Ehe mit einem 63-jährigen Mann verheiratet, der in Rente sei. Ihre 21-jährige Tochter studiere, der 19-jährige Sohn mache eine Ausbildung im Verwaltungsbereich. Sie wohne gemeinsam mit ihrem Mann und den beiden Kindern im eigenen Haus.

1.  Ehe Ihren 1. Mann und Vater der Kinder habe die Patientin mit 14 Jahren kennen gelernt und sei bis zu ihrem 29. Lebensjahr mit ihm zusammen gewesen. Er habe ihr gegenüber Gewalt ausgeübt.

Sexuelle Übergriffe auf die Tochter Als ihre Tochter 6 Jahre alt gewesen sei, habe es einen sexuellen Übergriff gegeben. Sie habe eine Frau gekannt, die nach den Kindern geschaut habe, deren 14-jähriger Sohn habe ihre Tochter sexuell missbraucht. Ihre Tochter habe ihr diesbezüglich eine Zeit lang Vorwürfe gemacht.

2. Ehe Ihren 2. Mann habe die Patientin kennengelernt, als sie sich Hilfe beim Jugendamt geholt habe, da sie glaubte, nicht mehr mit den Kindern zurechtzukommen. Sie habe Angst gehabt, den Kindern etwas anzutun, habe aggressive Seiten an sich festgestellt. Der Mitarbeiter des Jugendamtes, der sie ernstgenommen und ihr zugehört habe, sei inzwischen ihr Mann. Die Beziehung habe sich über die Zeit immer intensiver entwickelt. Sie kenne ihn seit 2002, 2005 seien sie ein Paar geworden und seit 2007 glücklich verheiratet.

Psychotherapeutische Vorbehandlung Vor 5 Jahren sei die Patientin ca. 1 Jahr lang einmal wöchentlich zur Psychotherapie gegangen und habe diese privat bezahlt. Zeitlich und finanziell sei ihr dies dann nicht weiter möglich gewesen. Sie habe gedacht, dass es ohne Therapie gehe. Auch ein Klinik­aufenthalt sei ihr empfohlen worden, sie habe jedoch zu viel Angst davor gehabt. Im Februar 2015 sei sie für 3 Wochen in einer Akutpsychosomatik gewesen, ein weiterer Aufenthalt sei demnächst geplant.

Persönliche Interessen Sie habe Freude an Spazierengehen, Sport, Malen, Lesen und Geschichten schreiben, habe jedoch jahrelang nichts mehr für sich gemacht.


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Psychischer Befund

  • Patientin in den Therapiesitzungen allseits orientiert und bei vollem Bewusstsein, berichtet jedoch von auftretenden Dissoziationen

  • Konzentrationsstörungen, formale Denkstörungen in Form von Grübeln, eingeengtem Denken bezüglich Schuld- und Insuffizienzgefühlen

  • kein Anhalt für inhaltliche Denkstörungen, Sinnestäuschungen und Ich-Störungen

  • affektiv deprimiert, ängstlich, weinerlich, innerlich unruhig und angespannt, Insuffizienzgefühle, Schuldgefühle

  • psychomotorisch antriebsarm, jedoch innerer Druck und Anspannung

  • sozialer Rückzug

  • Selbstbeschädigung in Form von Überarbeitung, Schmerzzufügung, z. B. durch Bewegen des gebrochenen Fingers oder etwas auf den Fuß fallen lassen

  • kein Anhalt für Suizidalität, Eigen- und Fremdgefährdung


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Somatischer Befund bzw. ­Konsiliarbericht

  • Medikation: zunächst homöopathisches Mittel zur Beruhigung, seit Februar Mirtazapin

  • Schlaf: Ein- und Durchschlafschwierigkeiten, Alpträume, Herzrasen, mit Medikation verbessert

  • Appetit: zunächst 12 kg abgenommen, jetzt wieder 10 kg zugenommen

  • Alkohol: ca. 1 x / Quartal ein Glas Wein

  • Nikotin: 3 Jahre lang geraucht, seit April 2014 aufgehört

  • Drogen: -

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Dipl.-Psych.Christina Huber


Psychologische Psychotherapeutin; Studium der Diplom-Psychologie an der Universität Mannheim und am Department of Psychology an der University of Arizona in Tucson; Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Projekt „Metaanalyse der Effekte stationärer psychosomatischer Rehabilitation“, Privatinstitut für Evaluation und Qualitätssicherung im Gesundheits- und Sozialwesen mbH, Karlsruhe; Psychologischer Fachdienst im CJD Christliches Jugenddorf Schloss Kaltenstein, Vaihingen an der Enz; Weiterbildung zur Psychologischen Psychotherapeutin mit Schwerpunkt Verhaltenstherapie, WIPP e.V., Landau; seit 2008 Mitarbeiterin des Städtischen Krankenhauses Pirmasens, Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie, und seit 2014 Mitarbeiterin der Praxisgemeinschaft Psychotherapie Dr. Dinger-Broda & Dr. Broda, Dahn.

Kommentare zum Fallbericht


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Verhaltenstherapeutische Ideen

Assoziationen zum klinischen Bild Die Patientin macht auf mich einen chronisch-depressiven und traumatisierten Eindruck. Aktuelle Stresssymptome (inklusive dissoziative Symptome) und Selbstverletzungstendenzen weisen auf Probleme mit der Emo­tionsregulation hin. Auch für eine Posttraumatischen Belastungsstörung (PTB) finden sich starke Hinweise. Die Auslöser der aktuellen Episode bestehen aus einer Kumulation von Stressoren in den letzten 12 Monaten. Störungsaufrechterhaltend für die depressive Episode sind Verstärkerverlust, negative Grundannahmen und Einstellungen (Thema: Schuld und Versagen), Überforderungstendenzen und vermutlich ein soziales Kompetenzdefizit.

Fragen Was erhält die PTB aufrecht? Möglicherweise die Schuldgefühle? Das kognitive und behaviorale Vermeidungsverhalten müssten erfragt werden. Die Stresssymptome könnten als Übererregungssymptome im Rahmen der PTB auch als Stressreaktion auf die aktuelle Überarbeitung gewertet werden. Die dissoziativen Symptome und die hohe innere Anspannung (inkl. Selbstschädigungsdruck) müssten beobachtet werden. Die Stresstoleranz scheint gering zu sein. Zudem interessieren mich die Ressourcen der Patientin, die ihr helfen, eine gute Ehe zu führen. Gibt es hier positive Selbstannahmen, die es ihr ermöglichen zu sich selbst in dieser Ehe gut zu sein?

Assoziationen zur Behandlung Vermutlich wird eine verhaltensaktivierende Therapie rasch an Grenzen stoßen, da die negativen Grundannahmen ein konsequentes „Für-sich-selbst-eintreten“ erschweren. Daher würde ich sowohl die aktuellen Überforderungstendenzen als auch die kognitiven Verzerrungen rasch in ein – mit der Patientin transparent entwickeltes – Störungsmodell einarbeiten, dass sich am Beck´schen Modell der Depression orientiert, aber Elemente der Traumatherapie berücksichtigt. Über die Traumaerfahrungen würde ich Einstellungsmuster elaborieren, die der Überforderung und Selbstschädigung zugrunde liegen. Die wahrscheinlich zugrundeliegende Überzeugung, wert- und / oder hilflos zu sein, würde ich konkretisieren und der Patientin die daraus folgenden langfristig schädlichen Verhaltenskonsequenzen plausibel machen.

Traumaaufarbeitung Eine dauerhafte Stimmungsverbesserung bei der Patientin erfordert wahrscheinlich eine konsequente Aufarbeitung ihrer traumatisierenden Erfahrungen, denn die kognitive Vulnerabilität wird sich wohl am ehesten in Rückbezug auf die Traumatisierungen mildern lassen. Voraussetzung wäre eine wenigstens teilweise Verbesserung der Verstärkerrate und der Erwerb und Einsatz von Skills zur Emotionsregulation. Vermutlich erlebt die Pa­tientin die traumatogenen Schuldgefühle als besonders belastend. Daher würde ich diese im Rahmen emotionsevozierender Sitzungen vor möglichen massierten Konfrontationssitzungen bearbeiten. Ich würde der Patientin vorschlagen, die Therapie unter das Thema zu stellen: „Darf es mir gut gehen?“ und ihr Mut machen, sich gegen das Erbe ihrer schwierigen Erfahrungen zu wehren, indem sie an ihren Kognitionen und Emotionen arbeitet und sich erlaubt, neue, zunächst verunsicherende Verhaltensweisen auszuprobieren.

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Dr. rer. nat. Anne Boos, Dipl.-Psych.


Psychologische Psychotherapeutin, niedergelassen in eigener Praxis, Autorin klinischer Praxismanuale, 2000–2009 Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Institutsambulanz und Tagesklinik der TU Dresden, seit 2000 in Aus-, Fort- und Weiterbildung bundesweit und in Österreich tätig, klinischer und wissenschaftlicher Schwerpunkt: Kognitive Verhaltenstherapie nach chronischer Traumatisierung.


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Psychoanalytische Perspektive

Trauma Die geschilderten Symptome lassen die Vermutung zu, dass die aktuellen schweren Belastungen zur Reaktivierung von Traumata aus der frühen Kindheit führten, welche die Patientin bis zum 6. Lebensjahr erfuhr. Dissoziationen sowie die geschilderten psychosomatischen Beschwerden entsprechen vermutlich ihrem Erleben in traumatischen Situationen.

Traumakompensatorische Bewältigungsversuche Als traumakompensatorischen Bewältigungsversuch scheint die Patientin unbewusst die Unterdrückung eigener Bedürfnisse und Gefühle gewählt zu haben. Sie ist in der Gegenübertragung als Person kaum fassbar. Aufkommende Gefühle an traumatische Erfahrungen hat sie vermutlich über lange, intensive Arbeit vom Bewusstsein fernzuhalten versucht. Gleichzeitig ermöglichte ihr die Arbeit Ich-Aktivität und damit auch ein Stück Ich-Identität, um ihr in traumatischen ­Situationen verlorengegangenes Selbstgefühl zu rekonstruieren.

Irrationale Schuldgefühle Die Patientin fühlt sich schuldig, ihren Bruder im Stich gelassen zu haben, und gibt sich die Verantwortung für Taten ihrer Mutter. Damit zeigt sie eine Identifikation mit dem Aggressor. Aggressionen richtet sie gegen sich selbst in Form von Selbstbestrafung. Wenn sie Wut in sich spürt (z. B. den Kindern gegenüber, weshalb sie auch eine Beratung aufsuchte), hat sie Angst, wie ihre Mutter zu sein.

Ressourcen Beachtlich ist, dass sie ein Fachabitur machen konnte und offensichtig eine gute Mutter für ihre Kinder war und ist. Alte Beziehungsmuster, die sich durch Gewalt und Entwertung auszeichneten, hat sie durchbrechen können und eine Partnerbeziehung eingehen können, in der sie Unterstützung und Wertschätzung erfährt.

Erste Behandlungsschritte Die traumatischen Erfahrungen der Patientin sollten soweit aufgearbeitet werden, dass sie nicht mehr unkontrolliert triggerbar sind, sondern willentlich abrufbar und in Worten beschreibbar werden. Ein erster Schritt wäre die Nutzung ihrer präsymbolischen Formen der Erinnerung zur Rekonstruktion der vergangenen Traumata. Die Verknüpfung aktueller Beschwerden und Gefühle mit der Vergangenheit führt i. d. R. dazu, dass Pa­tienten sich besser verstehen und die Heftigkeit der Gefühle abnimmt. Weiterhin geht es darum, dass die Patientin ihre Bedürfnisse und Grenzen zu spüren beginnt. Da die Arbeit Gefühlsregulation und Ich-Aktivität ermöglicht, wäre hier ein gutes erstes Übungsfeld. Wenn sie realisiert, wie viel Arbeit ihr gut tut und wann die Arbeit selbstschädigend wird, könnten ihre traumakompensatorischen Bewältigungsversuche als Resilienzstrategien genutzt werden.

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PD Dr. phil. Rosmarie Barwinski


Psychoanalytikerin, Psychotherapeutin ASP/FSP; Privatdozentin an der Universität zu Köln; enge Kooperation mit dem Deutschen Institut für Psychotraumatologie (DIPT) und der Steinbeis-Hochschule Köln; Leiterin des Schweizer Instituts für Psycho­traumatologie (SIPT).


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Schematherapeutische Gedanken

Verständnis Beim Lesen des Falles fühle ich mich überwältigt von erlebter Gewalt, Vernachlässigung und aktueller Last; dann auch beeindruckt von erstaunlicher Stärke in der Lebensgestaltung. Schematherapeutisch interessiert zunächst, wie ein kleines Mädchen eine von Misshandlung, Kälte und Desinteresse geprägte frühe Kindheit überlebt, wie diese Erfahrung ins weitere Leben hineinwirkt und um welchen Preis die Lebensbewältigung möglich ist: Welche Bedürfnisse werden frustriert, welche Schemata entstehen und in welchen Modi finden sie Ausdruck? Vermutlich sind hier als Ergebnis der Frustration wesentlicher Grundbedürfnisse u. a. die Schemata Emotionale Entbehrung und Verlassenheit, Misstrauen / Missbrauch, Unzulänglichkeit / Scham und Isolation vorhanden. Als Ergebnis von Gewalt- und Ablehnungserfahrungen ist bei der Patientin der Modus des verletzlichen Kindes sicher stark ausgeprägt.

Bewältigung Entsprechend ihrer Schemastruktur bindet sie sich mit 14 an ihren ersten Mann, zahlt für die „Befriedigung“ ihres Bindungsbedürfnisses mit Unterwerfung und einer Wiederholung erlebter Gewalt. Im Leistungsbereich bewahrt sie sich eine gewisse Unabhängigkeit (Modus des Gesunden Erwachsenen). Aktuell arbeitet sie erneut selbständig, scheint hierfür jedoch einem hohen Leistungsanspruch (Modus fordernde Eltern, Vermeidung) unterworfen zu sein. Selbstfürsorge und Ausgleich sind kaum vorhanden. Vermeidung ist der Hauptbewältigungsmodus, in Form von Dissoziation, emotionaler Betäubung, zeitweise depressivem Rückzug und Isolation, Somatisierung und übertriebener Leistung. Langfristig findet Bedürfnisbefriedigung so jedoch nicht statt, die vermiedenen Schemainhalte treten immer wieder ins Erleben. Die Patientin erlebt sich seit ihrem 17. Lebensjahr psychisch belastet, erschöpft, körperlich bedroht, wertlos, überfordert und schuldig. Aktuell reaktivieren drohende Verluste ihre negativen Kindheitserfahrungen, Bewältigungsstrategien versagen und die Symptome verstärken sich.

Behandlung Mit dem Entschluss zur regulären Therapie hat die Patientin einen ersten selbstfürsorglichen Schritt getan. Zentrale Inhalte einer schematherapeutischen Behandlung werden Erleben von Schutz und Sicherheit in der therapeutischen Beziehung sein. Mittel hierzu ist das Angebot begrenzter elterlicher Fürsorge in Anlehnung an die Ressource erlebter großmütterlicher Zuwendung. Durch imaginative Arbeit kann Kontakt zum verletzten Kind hergestellt, seine Bedürftigkeit verstanden, das Kind geschützt, die misshandelnden, vernachlässigenden Eltern-Introjekte entmachtet und mithilfe therapeutischer Ermutigung mit der Erwachsenenseite der Patientin für Selbstfürsorge, Genuss- und leistungsunabhängige Selbstverwirklichung in der Gegenwart gesorgt werden. Umschriebene traumatische Situationen können mittels Imaginativem Überschreiben bearbeitet werden.

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Dr. med. Knut Weis


niedergelassen als Arzt für Psychotherapeutische Medizin, Neurologie und Psychiatrie in Ladenburg am Neckar seit 1993; Weiterbildung in Transaktionsanalyse (CM), Tiefenpsychologie, Verhaltenstherapie und Schematherapie (ISST). Supervisor für Verhaltenstherapie und Schematherapie; Schwerpunkte: Neurologische Psychosomatik, Gruppenpsychotherapie, Emotionsfokussierte Psychotherapie.


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