Dtsch Med Wochenschr 2015; 140(11): 845-847
DOI: 10.1055/s-0041-102263
Fachwissen
Standpunkt
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Analoge Krankheiten in der digitalen Welt

Analogue diseases in a digital world
Martin Middeke
1   Hypertoniezentrum München HZM
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Korrespondenz

Prof. Dr. med. Martin Middeke
Hypertoniezentrum München HZM
Excellence Centre of the European Society of Hypertension ESH
Herzzentrum Alter Hof
Dienerstr. 12
80331 München
Phone: 089-36103947   
Fax: 089-36104026   

Publication History

Publication Date:
28 May 2015 (online)

 

Kann man diese alten analogen Krankheiten im digitalen Zeitalter nicht einfach weggoogeln? Braucht man in der virtuellen Welt überhaupt noch leibhaftige Ärztinnen und Ärzte? Geschäftsmodelle, die auf solchen Vorstellungen aufbauen, schießen wie Pilze aus dem Boden. Ärztlicher Sachverstand scheint in diesen Systemen entbehrlich.


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Schöne neue Start-up-Welt

MetaMed – Medizin der Zukunft? | Neulich auf dem Rückflug mit Lithunian Airlines von einer Vortragsreise nach Vilnius las ich in der an Bord ausliegenden Zeitschrift „BQ Business Quarter –The Life and Soul of Business“ ein interessantes Interview mit Jaan Tallinn, dem Mitbegründer von Skype. Nach dem überaus erfolgreichen Verkauf von Skype an Microsoft investiert er nun in „MetaMed“, eine Healthcare Company in New York. Was er damit vorhat? Hier einige Zitate:

  • „MetaMed exists to ensure that the sum of human knowledge about a health condition can be accessed by the person suffering from that condition“.

Das kann man ja nur begrüßen.

  • „The majority of our clients are either terminally ill, or they have some serious chronic condition that they have not been able to have treated by the medical system“.

Da ist die Katze aus dem Sack: Die konventionelle analoge Medizin konnte leider nicht helfen, aber MetaMed findet die Lösung.

  • „We have had clients who had a rare sleep disorder but who were perfectly healthy otherwise – but we were able to help with the sleep disorder“.

Immerhin konnte MetaMed bereits insgesamt 60 (!) Patienten helfen – nicht nur bei mysteriöser Schlafstörung. Über weitere Erkrankungen erfährt man aber leider nichts. Und was kostet das?

  • „We have been experimenting with a pricing scheme. Currently during the intake process, we brainstrom and put together the research plan, and gather the data, all of which costs about $ 5,000.“

Davon träumen auch viele kleine Start-ups, die in Deutschland besonders in der Hauptstadt zu finden sind und „Internetmedizin“ betreiben wollen – ohne ärztlichen Sachverstand.

Geld verdienen mit digitaler Medizin | So viele Dollar wie bei MetaMed kommen in der ärztlichen Praxis selbst bei optimaler Anwendung unserer uralten GOÄ-Ziffern fürs „brainstorming,“ die gutachterliche Stellungnahme und die Aufstellung eines Therapieplans auch in ferner Zukunft nicht zusammen. 5000 Dollar sind aber nur die Untergrenze; weiter heißt es:

  • „Then we come back to the research plan which is dependent on how deep the client wants to go, and how complex the research looks. Our typical research plan is about $ 20,000. However, we have had cases where it costs up to $ 250.000“

Big data = Big business | Hier geht es zunächst nur um ein kleines Start-up mit galaktischen Preisen für wenige reiche Klienten. Ganz anders sieht es aus, wenn Google, Apple & Co, die Herrscher des Internet und die Besitzer der Datenautobahnen, mit viel niedrigeren Preisen für ihre Applikationen und Gesundheitsarmbänder weltweit ihre Klientel beglücken, persönliche Daten sammeln und das als e-health verkaufen. „Big data“ verspricht „big business“, bedeutet aber nicht unbedingt „better data“. Ein möglicher Nutzen großer Datenmengen für die wissenschaftliche Medizin ist vorstellbar, muss aber noch belegt werden.

Die magischen drei digitalen V’s stehen für „volume“, „velocity“ und „variety“.

Wenn damit auch unsere alt bekannten analogen Krankheiten umfangreicher und schneller diagnostiziert und besser behandelt werden können, soll es recht sein. Mit großen Datenmengen lassen sich zwar Muster erkennen und Algorithmen bestimmen. Diese beschreiben aber zunächst lediglich die Struktur des Datenhaufens an sich. Diese muss mit der Physiologie analoger Krankheiten nichts zu tun haben. Es lebe die Kasuistik – die Mutter der klinischen wissenschaftlichen Medizin!

27 % der potenziellen Patienten, die ihre Diagnose aufgrund von Informationen aus dem Internet selbst gestellt haben, gehen gar nicht mehr zum Arzt [1].

Wenn es sich um Banalitäten handelt – gut. Bedenklich wird es, wenn die „Diagnosestellung“ bei schweren Erkrankungen auf der Basis unzureichender und inkorrekter Informationen erfolgt.


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Was sagt die Politik dazu?

Politische Versäumnisse | Die Politik ist dringend gefragt, sich um

  • Datensicherheit,

  • Bürgerrechte im Netz,

  • digitale Selbstbestimmung sowie

  • die Tauglichkeit neuer Techniken und Applikationen

zu kümmern. Stattdessen sieht man die wirtschaftlichen Möglichkeiten und lässt der Kommerzialisierung der Medizin auch im Internet weiter freien Lauf. Die Nutzung von „big data“ zur Regulierung und Reglementierung ist für Politiker und Kostenträger zu verlockend.

In der deutschen Gesundheitspolitik geht es beim Stichwort e-health vorrangig um die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte.

In den USA diskutiert man die Rolle der Zulassungsbehörde FDA bei der Regulierung neuer Technologien und deren Evaluierung [2]. Jenseits des Atlantiks spricht man auch von mHealth (Mobile Health).

Gesetzlich vorgesehene Anreize | Ein e-health-Gesetz ist in Deutschland auf dem Weg mit dem Schwerpunkt Telematik. Apple bietet übrigens bereits eine kostenlose (!) elektronische Patientenakte an und will mit dem Research-kit auch in die Wissenschaft einsteigen.

Das Gesetz für sichere digitale Kommunikation und Anwendungen im Gesundheitswesen sieht eine Belohnung vor für Ärzte, die den elektronischen Datenaustausch unterstützen, und Strafen für Verweigerer.

Auch soll ein finanzieller Anreiz für den elektronischen Entlassungsbrief der Krankenhäuser (mit 1 Euro) und den Arztbericht der Vertragsärzte (mit 50 Cent !) geschaffen werden. Telemedizinische Leistungen sollen endlich in den EBM-Katalog (Einheitlicher Bewertungsmaßstab) aufgenommen und vergütet werden.


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Telemedizin ist in erster Linie Medizin

Möglichkeiten und Grenzen | Es ist schon erstaunlich zu erfahren, was unter dem Begriff Telemedizin verstanden wird. Die Bundeskanzlerin Angela Merkel äußerte sich dazu am 1. September 2013 im TV-Duell mit Peer Steinbrück so: „Ich glaube, dass wir insgesamt stolz sein können auf unser Gesundheitswesen, dass wir stolz sein können auf diejenigen, die in dem Gesundheitswesen arbeiten – vor allen Dingen auch die Krankenschwester. Und Ähnliches gilt für die Pflege, trotzdem haben wir Probleme zum Beispiel mit der medizinischen Versorgung im ländlichen Raum. Deshalb haben wir ein Gesetz gemacht, das die Versorgung mit Ärzten im ländlichen Raum verbessert. Wir werden sehr stark achten müssen, dass die Telemedizin sich gut entwickelt.“ Hoffen wir dass hiermit tatsächlich die Telemedizin gemeint ist und nicht die Telekom im Verbund mit der Elektroindustrie zur Kompensation des Ärztemangels.

  • Dass Telemedizin besonders im ländlichen Raum sinnvoll sei, ist eines der großen Missverständnisse.

  • Telemonitoring und Telemedizin sind bei richtiger Anwendung und Indikation auch mitten in der Großstadt von Nutzen.

Da es sich bei der Telemedizin nicht um eine neue Form der Medizin handelt, brauchen wir auch kein neues Berufsrecht. Die Bundesärztekammer bleibt zu Recht beim Verbot der Fernbehandlung. Es kann nur im ärztlichen Interesse sein, dass eine rein virtuelle Behandlung berufsrechtlich ausgeschlossen bleibt.

Was ist Telemedizin? | Telemedizin ist keine neue Form der Medizin, sondern bedeutet

  • die Nutzung neuer Technologien und Kommunikationsmöglichkeiten aus der digitalen Welt,

  • um die wohlbekannten analogen Krankheiten zu diagnostizieren und zu behandeln.

In unser aller ärztlichen Interesse formuliert die Kommission Telemedizin der DGIM den ersten „Lehrsatz“ der Telemedizin [3]: „Innerhalb der verschiedenen Bereiche von „e-health“ repräsentiert Telemedizin die ärztliche Tätigkeit an und mit dem Patienten über eine räumliche Distanz unter Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien.

Wo Telemedizin draufsteht, sollte auch Medizin drin sein.

Die Vorteile nutzen! | Wir müssen die neuen digitalen Möglichkeiten nutzen: zum Wohle unserer Patienten, um deren alte, analoge Krankheiten besser zu diagnostizieren, zu beobachten, und zu behandeln (Τηλε: altgriech. „tele“ = fern). Praktische ärztliche Telemedizin bedeutet:

  • die räumliche Distanz überwinden, auch wenn der Patient fern der Praxis oder Klinik ist,

  • über die Entfernung mittels Telemetrie (Fernmessung) aktuelle Werte erhalten und weiterleiten,

  • den Verlauf beobachten (Telemonitoring), und mit modernen Kommunikationsmitteln (Telefon, SMS, Email usw.) über den Pfad zurück zum Patienten die Therapie steuern.

So wird auf der Basis objektiver und gut dokumentierter Daten aus dem Alltag eine optimale verlässliche Diagnostik erstellt und die individuelle Betreuung der Patienten selbst in weiter Ferne ermöglicht. Hiervon profitieren die Patienten und ihre Ärzte gleichermaßen.

Nicht nur für Spezialisten | Mit der Telemedizin eröffnen sich neue Möglichkeiten für eine nachhaltige Therapieoptimierung, insbesondere für chronisch Kranke und Risikopatienten. Im Bereich der Herz-Kreislauf-Medizin sind bisher die größten Fortschritte zu verzeichnen. Das Indikationsspektrum reicht dabei von der Herzrhythmusstörungen und chronischer Herzinsuffizienz bis zur Schwangerschaftshypertonie [4].

Die Ärzteschaft ist aufgerufen, die Hemmschwelle und Vorbehalte gegen Telemedizin zu überwinden. Die Fachgesellschaften sind aufgerufen, sinnvolle Indikationen zu benennen und die Algorithmen des Telemonitorings zu definieren.

Die Telemedizin ist nicht nur etwas für Spezialisten. Die Betreuung von z. B. Hypertonikern findet heute überwiegend in der internistischen und allgemeinärztlichen Praxis statt. Dies trifft erst recht zu auf alle übergewichtigen Patienten mit metabolischem Syndrom zu, die von einem Gewichtsmanagement profitieren. Die Telewaage kann hierbei ein sehr nützliches Instrument sein.

  • Es ist unsere ärztliche Aufgabe, die zur Verfügung stehenden Angebote sinnvoll bei unseren Patienten einzusetzen.

  • Dabei müssen alte Vorbehalte überwunden werden.

Leidet die Arzt-Patienten-Beziehung? | Ein häufig gegen Telemedizin vorgebrachtes Argument ist, dass die Arzt-Patienten-Beziehung gestört sei bzw. gar nicht mehr stattfinde. Ärzte, die Telemedizin in der 1-zu-1-Betreuung ihrer Patienten tatsächlich einsetzen, berichten über gegenteilige Erfahrungen:

Telemedizin

  • verbessert die Arzt-Patienten-Kommunikation,

  • beeinflusst das Arzt-Patienten-Verhältnis positiv und

  • stärkt das Vertrauen des Patienten in den Arzt.

Das Telemonitoring medizinischer Parameter im Alltag und der häuslichen Umgebung erlaubt eine bessere Einsicht in die Zusammenhänge zwischen Befinden und Symptomatik des Patienten, den Krankheitsverlauf und den Therapieerfolg. Dies gelingt natürlich nur, wenn

  • nicht nur das Monitoring erfolgt, sondern auch

  • ein Austausch mit dem Patienten und

  • eine Zuordnung der erhobenen Befunde zum Alltagsgeschehen und der Symptomatik des Patienten.

Diese Kommunikation erfolgt heute über moderne Kommunikationskanäle. Telemedizin wird erst dann zur Medizin, wenn auch die ärztliche Therapiesteuerung auf der Basis der Telemonitoring-Daten erfolgt.

So findet keine Entfremdung zwischen Arzt und Patient in der virtuellen Welt statt, sondern eine intensivere Betreuung, die gleichzeitig geeignet ist die Selbstbestimmung des Patienten zu stärken und das Verständnis seiner Erkrankung zu verbessern.


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Last not least: Digitales Lernen

Kostenlos im Internet | Wenn Medizinstudenten heute kein einziges Lehrbuch mehr in ihrem nicht vorhandenen Bücherschrank haben und der ärztliche Nachwuchs keine medizinische Zeitschrift mehr abonniert, weil angeblich jeder Lernstoff und jede notwendige medizinische Information digital und kostenlos zur Verfügung steht, wird das langfristig weitreichende medizinische Konsequenzen haben und die ärztliche Kunst beeinträchtigen.

Die digitale Kompetenz der „digital natives“ ist ein großer Vorteil des medizinischen Nachwuchses, aber per se noch kein Qualitätsmerkmal einer besseren Medizin. Sie erleichtert den Zugang zu digitalen Medien, den Umgang mit Apps und anderen digitalen Anwendungen.

Die rasche Zunahme neuer Open-Access-Journals als Geschäftsmodelle insbesondere in China und Indien [5] ist die Kehrseite der digitalen Medaille und problematisch. Gefährlich kann es werden, wenn keine Begutachtung mehr stattfindet. Die Qualität bleibt bei vielen online-Informationen leicht auf der Strecke.

Apropos Qualität | Es ist der Bevölkerung bis heute nicht bekannt, dass die Honorierung im deutschen Gesundheitssystem noch weitgehend unabhängig von Qualitätsmerkmalen geschieht. Vielen Medizinern mag das auch egal sein. Engagierte Ärzte, die nicht nur ihren Job machen kümmern sich selbst um eine qualitative Fortbildung und nutzen weiterhin Lehrbücher und Zeitschriften. Natürlich nutzen sie auch begutachtete und redaktionell bearbeitete digitale Angebote. Die klassische Aufgabe der traditionellen Medizinverlage bleibt auch für online-Produkte erhalten. Meine pro domo-Empfehlung: www.thieme.de/dmw-im-netz.


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Prof. Dr. med. Martin Middeke

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ist Leiter des HZM Hypertoniezentrum München und DMW Schriftleiter
martin.middeke@gmx.de

Interessenkonflikte

Der Autor ist Schriftleiter der DMW, Autor bzw. Herausgeber zahlreicher medizinischer Lehrbücher u. a. des ersten Telemedizin-Lehrbuchs [4] sowie wissenschaftlicher Leiter verschiedener Telemedizin-Projekte u. a. zur Chronischen Herzinsuffizienz, Schwangerschaftshypertonie und EUSTAR (European Society of Hypertension Telemedicine in Arterial Hypertension Register)

  • Literatur

  • 1 Landro L. A better online diagnosis before the doctor visit. The Wallstreet Journal 22.07.2013;
  • 2 Cortez NG, Cohen IG, Kesselheim AS. FDA Regulation of mobile health technologies. N Engl J Med 2014; 371: 372-379
  • 3 Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) – Kommission Telemedizin zum Referentenentwurf „Gesetz für sichere digitale Kommunikation und Anwendung im Gesundheitswesen“. Internist 2015; 56: 285-286
  • 4 Goss, Middeke, Mengden, Smetak Hrsg. Praktische Telemedizin in Kardiologie und Hypertensiologie. RRK (Referenzreihe Kardiologie) Stuttgart – New York: Georg Thieme Verlag; 2009
  • 5 Antes G. Als Arzt steht man auf dünnem Eis. Interview. Dtsch Med Wochenschr 2015; 140: 694-695

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Prof. Dr. med. Martin Middeke
Hypertoniezentrum München HZM
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Dienerstr. 12
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Fax: 089-36104026   

  • Literatur

  • 1 Landro L. A better online diagnosis before the doctor visit. The Wallstreet Journal 22.07.2013;
  • 2 Cortez NG, Cohen IG, Kesselheim AS. FDA Regulation of mobile health technologies. N Engl J Med 2014; 371: 372-379
  • 3 Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) – Kommission Telemedizin zum Referentenentwurf „Gesetz für sichere digitale Kommunikation und Anwendung im Gesundheitswesen“. Internist 2015; 56: 285-286
  • 4 Goss, Middeke, Mengden, Smetak Hrsg. Praktische Telemedizin in Kardiologie und Hypertensiologie. RRK (Referenzreihe Kardiologie) Stuttgart – New York: Georg Thieme Verlag; 2009
  • 5 Antes G. Als Arzt steht man auf dünnem Eis. Interview. Dtsch Med Wochenschr 2015; 140: 694-695

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