Aktuelle Urol 2016; 47(06): 441-443
DOI: 10.1055/s-0036-1597163
Referiert und kommentiert
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Mikrohämaturie – Abklärung bei Frauen nach der Menopause – Werden die Leitlinien berücksichtigt?


J Urol 2016;
195: 937-941
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Publication History

Publication Date:
29 December 2016 (online)

 

Die aktualisierten Leitlinien der US-amerikanischen urologischen Fachgesellschaft empfehlen grundsätzlich schon bei einmaligem Nachweis einer asymptomatischen Mikrohämaturie (AMH) ab dem 35. Lebensjahr eine Zystoskopie und Mehrphasen-Kontrastmittel-CT von Niere und ableitenden Harnwegen, um ein Malignom auszuschließen. Medizinerinnen der Duke University haben die Anwendung der Leitlinien bei postmenopausalen Frauen untersucht.


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mit Kommentar

Bei mehr als einem Viertel aller Frauen, die wegen einer nach der Menopause auftretenden AMH untersucht werden, geschieht das nicht in Übereinstimmung mit den Leitlinien der American Urological Association. Zu diesem Ergebnis komme Megan Bradley und ihre Kolleginnen, die Daten von 237 zwischen August 2012 und August 2014 in ihrem Zentrum untersuchten Frauen in ihre retrospektive Auswertung aufgenommen haben.

Eingeschlossen wurden alle Frauen ab dem 55. Lebensjahr (im Durchschnitt 67 Jahre). Bei ihnen überprüften die Wissenschaftlerinnen zunächst das Vorliegen einer „echten“ AMH, also den mikroskopischen Nachweis von≥3 Erythrozyten pro Gesichtsfeld bei größtmöglicher Auflösung. Frauen mit einer geringeren Erythrozytenzahl oder solche, deren AMH-Diagnose lediglich auf einen für Blut positiven Urin-Stix zurückging, wurden als „Stix-positiv“ betrachtet. Anschließend wurden aus den Akten das weitere Vorgehen der behandelnden Ärzte und die endgültigen Diagnosen entkommen.

Dabei fand sich bei knapp drei Viertel der Frauen eine echte AMH nach obiger Definition (n=169; 71,3%). 40 Frauen wiesen in der Urinuntersuchung weniger als 3 Erythrozyten pro Gesichtsfeld auf, und bei 48 Frauen lag lediglich ein positiver Stix-Test vor. Nur bei 60 Frauen wurde bereits am Tag des positiven Urin-Stix-Tests eine Urinprobe entnommen und eingeschickt, die restlichen Patientinnen wurden zur Abklärung der AMH überwiesen, ohne dass diese Diagnose gesichert war. Insgesamt 234 Frauen wurden zystoskopiert.

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Erythrozytenzylinder im Urin sind beweisend für eine glomeruläre/renale Ursache der Hämaturie (phasenkontrastmikroskopisches Bild). (Bild: Beetz R, Walz PH. Differenzialdiagnose der Hämaturie. In: Stein R, Beetz R, Thüroff JW, Hrsg. Kinderurologie in Klinik und Praxis. 3. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2011)

Nur bei 150 Frauen erfolgte eine vollständige gynäkologische Untersuchung zur Abklärung einer Atrophie des Vaginalepithels und eines urogenitalen Prolaps, die ebenfalls Ursachen einer AMH sein können. Eine vaginale Atrophie lag bei 90 Frauen vor, ein Prolaps Stadium II oder höher bei 17 Frauen. Bei 36 Frauen bestand der Verdacht auf einen rezidivierenden Harnwegsinfekt.

Insgesamt fand sich bei 3 der 210 Frauen (1,4%), die vollständig untersucht worden waren, ein Malignom des Harntrakts: 1 Nierenkarzinom bei einer Stix-positiven Frau (Testreifen 1+auf Blut) und 2 Blasenkarzinome bei Frauen mit echter AMH.

Fazit

Bei 28,7% der hier beschriebenen Frauen, bei denen mit teilweise aufwendigen Methoden die Ursache einer AMH geklärt werden sollte, lag per definitionem überhaupt keine AMH vor. Darüber hinaus wurden Patientinnen oft schon zur weiteren Diagnostik überwiesen, bevor überhaupt die Sicherung der AMH versucht wurde. Hätte zunächst eine mikroskopische Untersuchung des Urinsediments stattgefunden bzw. wäre eine Urinkultur angelegt worden, hätte eine erhebliche Zahl von Untersuchungen vermieden werden können. Dabei war die Häufigkeit von Malignomen in dieser Gruppe der postmenopausalen Frauen gering, sodass die Leitlinien bei ihren diagnostischen Empfehlungen weitere Faktoren berücksichtigen sollten, bevor eine Zystoskopie gefordert wird, so die Autoren.

Dr. Elke Ruchalla, Bad Dürrheim

Kommentar

Mikrohämaturie: „Makrohämaturie light“ – oder noch weniger?

Wir alle haben mit der medizinischen Muttermilch eingesogen, dass die Abklärung einer asymptomatischen Mikrohämaturie ein wichtiges Instrument ist, um urologische Malignome zu entdecken. Aus unserer Tätigkeit in der Klinik sprechen dafür zwei Beobachtungen: Bei einer Makrohämaturie finden wir häufig einen Tumor, und der weitaus überwiegende Teil unserer Blasentumorpatienten hat zum mindesten eine Mikrohämaturie.


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Überraschende Zahlen?

Umso ernüchternder sind die Daten aus der Literatur: In einer sehr groß angelegten Studie der Arbeitsgruppe um Jung [1] wurden bei 156 691 Probanden nur bei 0,68% urologische Tumoren gefunden, in der um Loo [2] bei 2 630 Probanden bei 1,9% und in der Gruppe von Murakami [3] bei 1034 Probanden bei 3,1%. Lediglich in der Gruppe um Mishriki [4]war bei kleiner Probandenzahl von 292 Patienten die Tumorfindungsrate mit 5,4% höher. Auf dem letzten AUA-Kongress 2016 in San Diego stellten Samson et al. eine Studie vor, in der bei 1 761 Patienten lediglich 14 Malignome gefunden wurden, also bei 0,85% der Patienten.

In der vorliegenden Studie wurden in einem gynäkologischen Tertiary-Care-Setting postmenopausale Frauen mit asymptomatischer Mikrohämaturie untersucht, die keinen Anhalt für eine gynäkologische Blutungsursache hatten. Im Hinblick auf Risikofaktoren hat diese Gruppe orientiert am Lebensalter ein höheres, im Hinblick auf das Geschlecht ein geringeres Risiko für ein urologisches Malignom, insbesondere für ein Urothelkarzinom. Die Diagnostik wurde entsprechend der AUA-Leitlinie mit Zystoskopie und CT durchgeführt. Bei 237 Frauen fanden sich in 1,3% der Fälle Malignome, und zwar 2 Blasenkarzinome und 1 Nierenzellkarzinom. Diese Zahl liegt im Rahmen dessen, was wir aus bisherigen Studien kennen.

Es gibt weltweit wenige Leitlinien zur Mikrohämaturieabklärung ([Tab. 1]). Die spezifischste für die Urologie ist die AUA-Leitlinie, die 2012 revidiert und deutlich verschärft wurde: Nach nur einmaliger Sicherung einer Mikrohämaturie (>3 Erythrozyten/Gesichtsfeld) werden dort Zystoskopie und multiphasisches CT-Urogramm vorgegeben. Die Sonografie wird nur als Ersatzuntersuchung genannt, die Urinzytologie abgelehnt. Andere Leitlinien empfehlen 2–3 Urinuntersuchungen, teils als Sediment, teils als Teststreifenunteruntersuchung, vor Beginn der weiteren Diagnostik. Alle fordern die Anamnese auf Risikofaktoren und beschreiben die untere Altersgrenze für die invasive Diagnostik mit 35 (AUA) oder 40 Jahren. Die deutsche Leitlinie der DEGAM bezieht ausdrücklich die Medizinische Fachangestellte (MFA, „Arzthelferin“) in den Abklärungsprozess ein.

Tab. 1 Die Diagnostik der Mikrohämaturie in Leitlinien.

AUA [5] 2012

Kanada [6] 2009

UK [7] 2008

DE: (DEGAM) [8] 2013

Testmethode

Urinsediment

Urinsediment

Teststreifen

Teststreifen

Grenzwert

>3/GF

>2

>1+

10 Ery/ul

Zahl der Tests

1

2

2–3

2–3

Diagnostik, primär

Nephrologie?* KEINE Urinzytologie/Biomarker. Zystoskopie und CT, alt. MRT, US

Nephrologie?* Sonografie Urinzytologie

Nephrologie?*

Nephrologie?*

Diagnostik, sekundär

Zystoskopie CT

Überweisung

Überweisung

  • Nephrologie

  • Urologie

  • Nephrologie

  • Urologie

Risikofaktoren (Box)

beachten

beachten

beachten

beachten

Altersgrenze

35 Jahre

40 Jahre

40 Jahre

40 Jahre

*Nephrologie?: Erythrozytenmorphologie, Proteinurie, Zylinder, Kreatinin, Blutdruck


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Herausforderung für Patienten

Unabhängig von der Kostenfrage ist die Mikrohämaturieabklärung eine Herausforderung für den Patienten, denn sie schließt Patientenbelastung durch Zystoskopie, Strahlenbelastung und Kontrastmittelrisiken ein. Und wir sollten die psychische Belastung nicht vergessen, weil der Begriff „Blut“ vom Patienten nahezu automatisch mit „Krebs“ assoziiert wird. Und das obwohl wir aus der Literatur wissen, dass bei der Mikrohämaturieabklärung allenfalls in 5% unselektierter Patienten – vermutlich deutlich seltener – ein Tumor zu finden ist. Darüber hinaus ist bedenkenswert, dass keine der Studien eine Kontrollgruppe mit normalem Urinbefund hatte, und wir wissen, dass bei jeder Abklärung des Harntrakts – gleichgültig aus welchem Anlass – Tumoren entdeckt werden können. Dies dürfte die Zahlen unserer Fragestellung weiter relativieren. Vergleichen wir unsere Zahlen mit denen der PSA-gestützten Prostatakarzinomdiagnostik, so finden wir dort eine 10fach höhere Rate damit entdeckter Tumoren, und dennoch wurden wir von Epidemiologen und der Presse heftig gescholten wegen eines Missverhältnisses von Untersuchungsergebnissen und Patientenbelastung.


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Was tun?

Insgesamt müssen wir unser „Bauchgefühl“ korrigieren und fühlen uns in einem Dilemma, gerade, wenn wir Kliniker sind (nur 2–3% der Patienten eines Quartals werden stationär eingewiesen und nur die schwerer Erkrankten): Bei der Mikrohämaturieabklärung finden wir vergleichsweise selten Tumoren im Harntrakt bei doch deutlicher Patientenbelastung durch die Diagnostik, und vieles spricht gegen ein pauschalisiertes und striktes Vorgehen, so wie es die AUA-Leitlinie vorgibt. So ist eine daran angelehnte Stufendiagnostik denkbar, bei der zunächst eine nicht belastende Urindiagnostik mit mehrfachem Urinsediment, Erythrozytenmorphologie, Infektausschluss, Proteinuriediagnostik und Urinzytologie durchgeführt wird, gefolgt von der Sonografie, die in Deutschland in der Hand des Urologen ist. Ein wesentlicher Punkt ist es, Risikofaktoren für ein Malignom im Harntrakt (Box) zu erfassen. Auf dieser Basis kann dann differenziert die weitere Diagnostik mit Zystoskopie, Schnittbilduntersuchungen und ggf. weiteren Untersuchungen mit dem Patienten abgesprochen werden, wenn er nicht vor lauter Angst (MFA: „Sie haben aber Bluhut im Urin. Das kann Krebs sein!“) allem zustimmt.

Risikofaktoren für Malignome im Harntrakt

  • Männliches Geschlecht

  • Alter: >35–40 Jahre

  • (Ex-)Raucher

  • Chemikalienexposition

  • Phenacetinabusus

  • Cyclophosphamid-Therapie

  • Miktionsbeschwerden

  • Bestrahlung im Becken

Prof. Dr. Helmut Haas, Heppenheim


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Prof. Dr. Helmut Haas ist niedergelassener Urologe in Heppenheim an der Bergstraße und Honorarprofessor an der Urologischen Klinik der Johannes Gutenberg-Universität Mainz



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Erythrozytenzylinder im Urin sind beweisend für eine glomeruläre/renale Ursache der Hämaturie (phasenkontrastmikroskopisches Bild). (Bild: Beetz R, Walz PH. Differenzialdiagnose der Hämaturie. In: Stein R, Beetz R, Thüroff JW, Hrsg. Kinderurologie in Klinik und Praxis. 3. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2011)