Aktuelle Urol 2015; 46(06): 433-434
DOI: 10.1055/s-0035-1569087
Referiert und kommentiert
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Ureterkolik – Medikamentöse Expulsionstherapie

Contributor(s):
Judith Lorenz
Pickard et al..
Lancet 2015;
DOI: 10.1016/S0140-6736(15)60933–3.
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Publication History

Publication Date:
24 November 2015 (online)

 

Bei vielen Patienten mit Ureterkoliken kommt es unter analgetischer Therapie zu einem spontanen Steinabgang. Die Ergebnisse einiger kleinerer Studien deuten darauf hin, dass die Steinpassage durch eine Behandlung mit dem die glatte Uretermuskulatur relaxierenden Alpha-Rezeptorblocker Tamsulosin bzw. dem Kalziumantagonisten Nifedipin beschleunigt werden kann. Pickard und Kollegen haben untersucht, ob diese beschriebenen Effekte der medikamentösen Expulsionstherapie (MET) auch im Rahmen einer multizentrischen, randomisierten, placebokontrollierten Studie bestätigt werden können.
Lancet 2015; DOI: 10.1016/S0140-6736(15)60933–3

mit Kommentar

In die SUSPEND-Studie (SUSPEND: Spontaneous Urinary Stone Passage Enabled by Drugs) wurden an 24 britischen Zentren 1167 Patienten (Alter 18–65 Jahre) eingeschlossen, bei denen ein computertomografisch detektierter, singulärer Ureterstein (Durchmesser = 10 mm) vorlag, der für ein exspektatives Management geeignet war. 391 Patienten wurden über 4 Wochen bzw. bis zum spontanen Steinabgang oder einer Interventionsbedürftigkeit mit 400µg Tamsulosin 1-mal tgl. p. o. behandelt. 387 Patienten erhielten 1-mal tgl. 30 mg Nifedipin p. o. und 389 ein Placebo. Sowohl die Patienten als auch die Behandler und das Studienpersonal waren für die Gruppeneinteilung verblindet.

Der primäre Studienendpunkt war der Anteil von Patienten mit spontaner Steinpassage innerhalb von 4 Wochen, definiert als das Fehlen der Notwendigkeit für weitere Interventionen. Die sekundären Outcome-Parameter umfassten das Schmerzempfinden, die Dauer bis zum Steinabgang, den gesundheitlichen Zustand der Patienten, Nebenwirkungen der Therapie sowie ökonomische Betrachtungen.

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Uretersteine. (Bild: Liske P, Lahme S. Nieren- und Uretersteine. In: Wille S, Heidenreich A, Hrsg. Atlas der diagnostischen Endourologie. Stuttgart: Thieme; 2009)

In die Analyse des primären Outcomes gingen die Daten von 378, 379 bzw. 379 Patienten der Tamsulosin-, der Nifedipin- und der Placebo-Gruppe ein. Der Anteil der Patienten mit spontaner Steinpassage innerhalb von 4 Wochen war – auch nach Adjustierung bezüglich Geschlecht, Steingröße und -lokalisation – in allen 3 Behandlungsgruppen gleich: In der Tamsulosin-Gruppe blieben 307 Patienten (81 %) ohne Intervention, in der Nifedipin-Gruppe 304 (80 %) Patienten und unter Placebo 303 (80 %). Es zeigte sich weder für die aktive MET versus Placebo noch für Tamsulosin versus Nifedipin ein signifikanter Therapievorteil.

Auch bezüglich des Anteils von Patienten mit Steinpassage innerhalb von 12 Wochen, des Schmerzempfindens bzw. Analgetikagebrauchs, der Dauer bis zum spontanen Steinabgang sowie des allgemeinen Gesundheitszustands ließen sich keine signifikanten Unterschiede zwischen den 3 Gruppen nachweisen. In der Nifedipin- bzw. Placebo-Gruppe traten bei 3 bzw. einem Patient schwere unerwünschte Nebenwirkungen auf.

Fazit

Im Rahmen der großen randomisierten Studie konnte keine Überlegenheit der MET gegenüber Placebo bei der konservativen Behandlung von Patienten mit Ureterkoliken nachgewiesen werden. Weder mit 400 µg Tamsulosin noch mit 30 mg Nifedipin ließ sich eine Beschleunigung der spontanen Steinpassage erreichen. Auch die Beschwerden sowie der Gesundheitszustand der Patienten besserten sich unter der medikamentösen Therapie nicht signifikant. Da ein klinischer Nutzen der beiden Pharmaka in der beschriebenen Dosis und Applikationsdauer ausgeschlossen werden könne, so die Schlussfolgerung der Autoren, sei ihre weitere klinische Erforschung in diesem Indikationsbereich nicht zu empfehlen. Stattdessen sollte die therapeutische Effektivität alternativer medikamentöser Therapieverfahren evaluiert werden.

Kommentar

MET wird infrage gestellt

MET in aktuellen Leitlinien empfohlen

Die medikamentöse expulsive Therapie (medical expulsive Therapy, MET) mit Alphablockern stellt seit fast einer Dekade einen festen Bestandteil des Therapiealgorithmus von Harnleitersteinen dar. Sowohl die europäischen als auch die im Frühjahr neu erschienenen deutschen Leitlinien zur Urolithiasis empfehlen die Therapie mit Alphablockern oder einem Kalziumkanalblocker (Nifedipin) uneingeschränkt unter dem Hinweis des „Off-label-Use“ zur Erleichterung der Steinpassage und Verbesserung der Schmerzsymptomatik bei Harnleitersteinen und im Prinzip nach jeglicher interventioneller Steintherapie zur erleichterten Fragmentpassage [ 1 ], [ 2 ].

Bisherige Studien bestätigten die Wirksamkeit

Diese Empfehlungen basieren auf mehreren Metaanalysen und einem Cochrane Review aus dem letzten Jahr. All diese Analysen hatten die Wirksamkeit einer supportiven medikamentösen Therapie nach Aufarbeitung von zahlreichen, allerdings durch größtenteils methodische Schwächen gekennzeichneten randomisierten klinischen Studien (RCTs) bestätigt [ 3 ]–[ 5 ]. Die Wahrscheinlichkeit des Steinabgangs, die Zeit bis zum Transit und der Schmerzmittelbedarf waren in diesen Analysen signifikant geringer verglichen zur Placebo-Einnahme. Tamsulosin zeigte in einer multizentrischen RCT einen besseren Effekt als Nifedipin [ 6 ]. Das Cochrane Review stellt eine Metaanalyse von 32 Studien mit insgesamt 5864 Patienten dar [ 4 ], die Metaanalyse von Seitz et al. von 2009 umfasst 29 Studien mit 2419 Patienten [ 5 ].

Robert Pickard und Kollegen bemängeln zu Recht den Einschluss einer Vielzahl von Studien mit teils geringen Teilnehmerzahlen, da hierdurch eine hohe Inhomogenität von Einschluss- und Analysekriterien entsteht. Außerdem wurde bei vielen der eingeschlossenen Studien die Verblindung von Personal und Patienten als unzureichend bemängelt.

Dies haben sie in der aktuellen Studie zu vermeiden versucht. Insgesamt wurden in einer großen multizentrischen Studie in 24 Kliniken in einem 3-armigen Design Tamsulosin vs. Nifedipin vs. Placebo an 1167 Patienten getestet. Als primäres Studienziel wurde die Notwendigkeit zur Intervention innerhalb von 4 Wochen nach Diagnosestellung definiert. Transitzeit und Dauer der Analgesie wurden als sekundäre Studienziele definiert.

Studie stellt Empfehlungen und gängige Praxis infrage

Insgesamt ließ sich in allen 3 Gruppen kein Unterschied bezüglich der Interventionsraten feststellen (jeweils ca. 20 %). Transitzeit und Analgesiebedarf waren ebenfalls gleich zwischen den 2 Therapiearmen und dem Placeboarm. Immerhin hatten in allen Therapiearmen etwa 25 % der Patienten Harnleiterkonkremente von > 5 mm. Bei diesen größeren Konkrementen schien die MET effektiver zu sein, allerdings lässt sich hier höchstens ein Trend erkennen, ohne ein signifikantes Niveau zu erreichen.

Diese neuen, hochrangig publizierten Daten stellen die gängige Praxis und die aktuell gültigen Leitlinienempfehlung infrage. Die Autoren konstatieren am Ende der Diskussion, dass aufgrund des überragenden Studiendesigns und der präzisen Ergebnisse zukünftige weitere Untersuchungen dieser Substanzklassen zwecklos seien.

Wenn diese Daten in die aktuellen Leitlinien Einzug erhalten, müssen gängige Empfehlungen zum „Off-label-Use“ von Alphablockern in der konservativen Steintherapie widerrufen oder zumindest relativiert werden. Neuere, erst kürzlich publizierte Studienergebnisse zu noch patentgeschützten Alphablockern, die deren Überlegenheit in der Steintherapie gegenüber den etablierten Alphablockern suggerieren, müssen in Kenntnis dieser Arbeit ebenfalls kritisch gesehen werden.

Für den praktizierenden Arzt wird dies in Zukunft bedeuten, dass der gängige „Standardcocktail“ für Patienten mit Koliken bei Verdacht auf Harnleiterstein um eine mittlerweile etablierte Komponente reduziert wird.

Ein zukünftiges Studiendesign könnte Alphablocker als Eskalationsstufe in der Therapie bei persistierenden Beschwerden durch Harnleitersteine oder einliegende Harnleiterschienen evaluieren. Hierfür wäre ein ähnlich gutes Setting, wie es von Robert Pickard und Kollegen für ihre Fragestellung benutzt wurde, wünschenswert.

PD Dr. Andreas Neisius, Mainz

Der Autor ist Mitglied der Steuerungsgruppe der deutschen S2K-Leitlinie zur Diagnostik, Therapie und Metaphylaxe der Urolithiasis, herausgegeben vom Arbeitskreis Harnsteine der DGU


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PD Dr. Andreas Neisius


ist Oberarzt an der Urologischen Klinik und Poliklinik der Universitätsmedizin Mainz

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Uretersteine. (Bild: Liske P, Lahme S. Nieren- und Uretersteine. In: Wille S, Heidenreich A, Hrsg. Atlas der diagnostischen Endourologie. Stuttgart: Thieme; 2009)