physiopraxis 2015; 13(09): 08-10
DOI: 10.1055/s-0035-1564464
physioforum
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Briefe an die Redaktion


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Publication Date:
10 September 2015 (online)

 

Zum Artikel „Die Zertifikatslüge – Vom Sinn und Unsinn der Zertifikatspositionen“, physiopraxis 6/2015

Zertifikatszwang verstärkt Fachkräftemangel

Sehr geehrter Herr Lamprecht,
mit großem Interesse habe ich Ihren Artikel zur Kenntnis genommen. Den Wissensstand Ihres Artikels kann ich aus den Erfahrungswerten unseres Verbandes bestätigen. Das Zertifikatssystem zementiert veraltete Denkweisen und Therapien, bindet bei jungen Therapeuten Kräfte, die für die persönliche Therapeutenentwicklung anderweitig besser genutzt werden könnten („Lebenslanges Lernen“). Auch die Minutenpreise sind gegenüber der klassischen Krankengymnastik nicht vorteilhaft. Mehr verdienen kann mit den Zertifikaten wirklich niemand. Da aber die Zertifikatspositionen beim Umsatz der Physiotherapiepraxen mit der GKV im Jahre 2013 bereits bei 41,05 Prozent lagen (Basis: GKV-HIS) kommt heute wohl keine Praxis mehr drum herum, diese Positionen vorzuhalten.

Aus dem Zertifikatssystem resultiert auch ein verstärkter Fachkräftemangel. Gesucht werden Inhaber von Zertifikaten und nicht die jungen Leute, die die Kurse erst noch absolvieren müssen. Die willkürliche Ausdehnung des MT-Kurses auf einen Gesamtzeitraum von zwei Jahren verschärft die Situation zusätzlich. Sie nutzt lediglich den Kursanbietern, weil ihr Geschäft so besser kalkulierbar ist.

Der VDB-Physiotherapieverband fordert seit langem die Integration der Zertifikate in die Ausbildung, im Herbst wollen wir dazu ein Konzept vorlegen. Es wird dringend Zeit, zu handeln. Wir heben uns von den anderen Verbänden dadurch ab, dass wir bereits seit Jahrzehnten keine Zertifikatskurse anbieten.

Mit freundlichen Grüßen
Dr. Stehr, VDB-Physiotherapieverband e.V.

Antwort des Autors

Sehr geehrter Herr Stehr,
vielen Dank für Ihre Anmerkungen zum Artikel Zertifikatspositionen. Sicher ist es so, dass man die Inhalte der Zertifikatspositionen in die Grundausbildung integrieren sollte. Dies kann aber nur bei einer Akademisierung der Physiotherapie erfolgen.

Der VDB mag ja die Abschaffung der Zertifikatspositionen fordern. Bei den Fortbildungsangeboten gewährt der VDB aber genau bei diesen Fortbildungen Preisermäßigungen für seine Mitglieder.

Mit freundlichen Grüßen
Hans Lamprecht


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Es braucht eine Qualitätssicherung

Sehr geehrter Herr Lamprecht,
haben Sie auch konstruktive Verbesserungsvorschläge oder erschöpft sich Ihre Kritik an der Zertifikatsweiterbildung, die „nicht mehr zeitgemäß, nicht aufrichtig – eigentlich sogar verlogen“ sei, im Vorschlag, sie abzuschaffen?

Die spärliche wissenschaftliche Evidenz für einzelne Techniken, die Sie als Hauptkritikpunkt anführen, gilt nicht nur für Techniken der Zertifikatskurse, sondern für die meisten Physiotherapietechniken und somit für alle Weiterbildungen und auch die Grundausbildung. Die Cochrane Collaboration hat nur einen Review für eine wirklich nachgewiesene Wirksamkeit in der Physiotherapie – zu pulmonaler Rehabilitation [1]. Die Medizin hat ähnliche Probleme, wenn zum Beispiel Studien die konservative Versorgung von LCA-Rupturen gleich gut wie die operative darstellen [2, 3]. Die Erfolge von Placebomedikamenten und -operationen sowie die hohe Anzahl unnötiger OPs sind inzwischen in den Medien allgemein bekannt. Und trotz aller Zweifel [4, 5] gibt es auch Hinweise „pro“ Physiotherapie [6, 7]. Daran müssen wir Therapeuten gemeinsam arbeiten, und das sollten auch die Zertifikatskurse vermitteln!

Der von Ihnen zur Manuellen Therapie zitierte Zweifel an der Wirksamkeit der Manipulation [8] bezieht sich auf diese eine Technik, die nicht Inhalt der MT-Zertifikatsweiterbildung ist. Für die passive Mobilisation gibt es einige, wenn auch nur moderate Wirksamkeitsnachweise [9–11]. Bei Nackenschmerz beispielsweise ist passive Mobilisation gleich wirksam wie Akupunktur [12]. Betrachtet man die ebenfalls schwache Evidenz für Übungen etwa bei Nackenschmerz [13], wird „evidenzbasierte Physiotherapie“ schwierig.

Manuelle Therapie ist die Kombination von passiver Mobilisation mit aktiven Übungen im biopsychosozialen Denkmodell inklusive der von Ihnen zitierten „Hands-off“-Techniken (www.ifompt.com). Ein MT-Dozent wird (oder sollte) folglich nicht nur passive Gelenkmobilisation unterrichten. Ebenso wenig wird ein Lymphdrainage-Dozent nur die manuellen Massagegriffe und ein Bobath-Dozent nur Techniken zu Hemmung und Faszilitation zeigen, um nur einige Beispiele zu nennen. Die Zertifikatskurse verbessern die Kompetenz, Patienten mit muskuloskeletalen Beschwerden (MT) oder Ödemen (Lymphdrainage) oder neurologischen Problemen (Bobath) umfassend und wirksam zu behandeln. Das Label „Zertifikat“ besagt lediglich, dass es sich um in der Physiotherapie etablierte Verfahren handelt, die einen bestimmten Inhalt und Auftrag umfassen. Interessenten sollten vorher prüfen, ob der Kurs ihren Wünschen und Ansprüchen entspricht. Dann erhalten Sie eine gute Weiterbildung!

Ihre allgemeine Kritik ließe sich mit einer Qualitätssicherung in der Grund- und Weiterbildung beantworten. Diese ist nötig, wie Forderungen nach Standards [14] und Leitlinien [15] ergeben. Und sie ist möglich, wie unsere französischen Kollegen schon in den 1990er Jahren mit Konsensusverfahren gezeigt haben [16]. Dazu bräuchte es Initiativen zum Beispiel unserer Berufsverbände, die das jedoch nicht im Alleingang, sondern eben in einem Konsensusverfahren machen müssten. Ideal wäre es sicherlich, die so entwickelten Inhalte in die Grundausbildung zu integrieren. Dazu wären die (Hoch-)Schulen gefordert. Sie sind dafür verantwortlich, dass so viele Physiotherapeuten so manche Inhalte der Grundausbildung nicht für relevant oder ungenügend halten und deshalb nach Weiterbildungskursen suchen, um die Mängel auszugleichen.

Doch wann wird das kommen? Bis dahin können die Zertifikatsweiterbildungen den Kollegen eine abgeschlossene vertiefende Kompetenz im jeweiligen Fachbereich vermitteln. Bei guten Dozenten wird diese auch so weit wie möglich aktuell und evidenzbasiert und gut sein.

Mit freundlichen Grüßen
Jochen Schomacher, PhD, PT aus Küsnacht
in der Schweiz

Antwort des Autors

Sehr geehrter Herr Schomacher,
vielen Dank für Ihren Leserbrief. Sicher gibt es wenig wissenschaftliche Evidenzen für die Physiotherapie im Allgemeinen, allerdings ist die Lage so düster auch nicht, wie Sie diese schildern. Immerhin sind in der Physiotherapie Evidenz Datenbank PEDro über 30.000 randomisierte, kontrollierte Studien, systematische Reviews und klinische Praxisleitlinien in der Physiotherapie aufgelistet.

Die Grundlagen einer an Leitlinien und Standards orientierten Ausbildung lassen sich sicher durch eine Vollakademisierung der Physiotherapie leichter vermitteln. Österreich und die Schweiz haben diesen Weg gewählt. Deutschland ist das einzige Land in Europa, in dem die vollständige Akademisierung nicht Realität ist. Dies wird ein langer Weg werden, doch wir müssen ihn immer wieder forcieren. Dass bis dahin Zertifikatspositionen notwendig sein sollen, ist nicht nachvollziehbar.

Ein guter Dozent sollte sich mit der Evidenz auf seinem Fachgebiet auseinandersetzen. Die Realität sieht aber anders aus. Welche Qualitätsstandards werden denn in der Ausbildung von Dozenten zu den Zertifikatspositionen tatsächlich gefordert? Ist eine regelmäßige Qualitätskontrolle der Dozenten vorgesehen? Wer führt diese durch? Werden die Curricula von externen Experten kontrolliert? Und wenn ja, wer sind diese Experten?

Fortbildungen sind sicher sinnvoll, man kann von jeder Fortbildung profitieren. Allerdings ist es nicht sinnvoll und zu hinterfragen, wenn in Fortbildungen falsches oder deutlich veraltetes Wissen weitergegeben wird. Müssen Pflichtfortbildungen wirklich sein, die – zumindest in der Neurologie – ein antiquiertes Wissen vermitteln?

Warum soll nicht jeder Therapeut auf seiner Homepage bestimmte Therapieformen anbieten, zum Beispiel Fachtherapeut Manuelle Therapie (ifomt oder Maitland oder …), Fachtherapeut für neurologische Rehabilitation (Forced Use oder Spiegeltherapie oder …) oder Lymphdrainage-Therapeut (Földi oder Asdonk oder …).

Mit freundlichen Grüßen
Hans Lamprecht

Zum Artikel „Funktionsdiagnose bei CMD“, physiopraxis 2/15


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Erratum

Im Artikel „Funktionsdiagnose bei Craniomandibulärer Dysfunktion“ hat sich ein Fehler eingeschlichen. Bei Untersuchung Gruppe III im Diagnosealgorithmus auf Seite 38 sind die beiden Pfeile „beide negativ“ und „einer/beide positiv“ vertauscht. Richtig ist, dass der Pfeil „einer/beide positiv“ zu den Diagnosen „IIIa: Arthralgie“ und „IIIb: Osteoarthritis“ führt. Der Pfeil „beide negativ“ dagegen zu „keine Diagnose in Gruppe III“ und der Diagnose „IIIc: Osteoarthrose“ ( Abb.). Zudem sind im Untersuchungspfad der Gruppe II auf Seite 39 beide Diagnosen mit der gleichen Zahl benannt. Richtig ist bei der Diagnose „Diskusverlagerung ohne Reduktion ohne limitierte Mundöffnung“ die Bezeichnung IIc, nicht IIb.

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Zum Artikel „Schmerztherapie im Alter“, physiopraxis 6/15


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Erratum

Im Artikel „Schmerzphysiotherapie im Alter“ hat sich ein Fehler eingeschlichen. Auf Seite 36 steht: „Als sie im nächsten Schritt ihre Schmerzen auf der Numerischen Rating-Skala [5] angeben soll, schaut sie die Therapeutin nur fragend an. Ihr fällt es schwer, die Skala von eins bis zehn in ein Verhältnis zu ihren Schmerzen zu setzen.“ Es muss heißen: […] die Skala von null bis zehn […]. Bei Quelle [5] fehlt die Angabe der Ausgabe. Die Numerische Rating-Skala haben wir in physiopraxis 11-12/2008 vorgestellt.


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