Diabetes aktuell 2015; 13(04): 146-148
DOI: 10.1055/s-0035-1556939
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Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Expertenforum Diabetes – Neue Versorgungs- und Therapiestrategien auf dem Prüfstand

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Publication Date:
14 July 2015 (online)

 

Im Zentrum des Expertenform Diabetes – einer Veranstaltung in Zusammenarbeit mit der Deutschen Diabetes Gesellschaft, stand das Thema frühe Nutzenbewertung von Antidiabetika. Unter dem Vorsitz des Finanzwissenschaftlers und Gesundheitsökonomen Prof. Dr. Eberhard Wille, Mannheim, wurden Hintergründe der Entscheidungen, Auswirkungen für Patienten und mögliche Lösungen des Problems von den etwa 60 Teilnehmern intensiv diskutiert.

„Die Relevanz des Typ-2-Diabetes ergibt sich u. a. aus der hohen Erkrankungshäufigkeit“, erklärte der Präsident der Deutschen Diabetes Gesellschaft PD Dr. med. Erhard Siegel, machte aber gleichzeitig deutlich, dass die genaue Prävalenz des Diabetes in Deutschland unbekannt ist und dass es große regionale Unterschiede gebe. So liegt die Prävalenz im bayerischen Augsburg bei 5,8 %, in Halle (Sachsen-Anhalt) aber bei etwa 12 % [ 1 ].

Da die Erkrankung erhebliche individuelle Belastungen und hohe Ausgaben für das Gesundheitswesen zur Folge hat, forderte Siegel einen Nationalen Diabetesplan. Wichtigstes Ziel dieses Plans sei es, das Erkrankungsrisiko durch Gesundheitsförderung und Prävention zu senken. Bisherige Aktivitäten zur Reduktion des Erkrankungsrisikos durch Verhaltensprävention mit gut gemeinten Ratschlägen wie „fdH“, „Trimm dich“ oder „Rauchen kann tödlich sein“ hält Siegel zwar für richtig, aber weitgehend wirkungslos: „Die Politik, die vorrangig auf Information und den Aufruf zur individuellen Verhaltensprävention setzt, ist gescheitert.“ Er forderte deshalb eine Verhältnisprävention, die vernünftige Ernährung und Bewegung in den Lebenswelten der Menschen stärkt. Als Beispiele nannte er u.a. täglich 90 Minuten Bewegung in Kindergärten und Schulen sowie eine Zucker- und Fettsteuer.

Weitere Ziele eines Nationalen Diabetesplans sind Siegel zufolge:

  • Identifizieren und Erreichen von Risikogruppen und Erkrankten,

  • Stärken von Versorgungsstrukturen sowie

  • Stärkung der sozialen und regionalen Diabeteskompetenz.

AMNOG – gravierende Unwuchten beim Indikationsvergleich

Zur Therapie des Typ-2-Diabetes wurde in den letzten Jahren eine Reihe von neuen Wirkstoffen auf dem Markt eingeführt. Ein erheblicher Teil davon ist jedoch in Deutschland aufgrund schlechter Noten im Rahmen der frühen Nutzenbewertung durch das Arzneimittel-Neuordnungs-Gesetz (AMNOG) nicht verfügbar. Der Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) Prof. Josef Hecken betonte, dass derartige Nutzenbewertungssysteme auch in vielen anderen Gesundheitssystemen zum Einsatz kämen. So basiere beispielsweise auch in Frankreich, Italien, Japan und der Schweiz die Preisfindung für ein neues Arzneimittel auf der therapeutischen Bewertung. Hecken sieht die Nutzenbewertung auch nicht im Widerspruch zur arzneimittelrechtlichen Zulassung. Denn diese beurteile Sicherheit, Wirksamkeit und Qualität, während das AMNOG darüber hinaus den Mehrwert gegenüber anderen Therapieoptionen berücksichtige, so Hecken.

Bislang gab es in Deutschland 118 AMNOG-Bewertungen: Etwa 55% der neuen Wirkstoffe bekamen dabei einen Zusatznutzen bescheinigt. Dieser Wert liegt Hecken zufolge über dem internationalen Durchschnitt. Beim Vergleich unterschiedlicher Indikationen gebe es jedoch gravierende „Unwuchten“: Orphan Drugs, onkologische Wirkstoffe und Präparate für exotische Indikationen würden überdurchschnittlich häufig gut abschneiden.

Dies bestätigte Prof. Dr. Beate Kretschmer, Lilly Deutschland GmbH, anhand aktueller Zahlen. Den 9 bewerteten Antidiabetika wurde in 78 % der Bewertungen kein und in 22 % maximal ein geringer Zusatznutzen zugebilligt. Bei anderen Indikationen (außer Orphan und Antidiabetika) zeigt sich ein deutlich günstigeres Bild: Das maximal vergebene Ausmaß des Zusatznutzens war in 1 % der Bewertungen erheblich, in 24 % beträchtlich und in 26 % gering (Abb. [ 1 ]) [ 2 ]. Ein möglicher Grund für das unterschiedliche Abschneiden ist laut Hecken die Tatsache, dass Zulassungsstudien für onkologische Produkte eine überdurchschnittliche Evidenz zeigen. Ursächlich dafür sei, dass der entscheidende Parameter, der mediane Zuwachs an Lebensverlängerung, relativ rasch und gut messbar sei. Dagegen lägen die Endpunkte bei Therapien chronischer Krankheiten, etwa Diabetes, erst in ferner Zukunft und seien im Rahmen von Zulassungsstudien kaum erreichbar [ 3 ].

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Abb. 1 Anti-Diabetika vs. andere Produkte [ 2 ].

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AMNOG und chronische Erkrankungen

Dies steht im Einklang mit den Aussagen von Hans-Holger Bless, Bereichsleiter Versorgungsforschung, IGES Institut GmbH, Berlin. Er unterstrich, dass das AMNOG ursprünglich teure Spezialpräparate im Visier hatte, sich jedoch zu einer bedeutsamen Hürde für Arzneimittel zur Behandlung chronischer Erkrankungen entwickelt habe: Das Risiko für Marktrücknahmen sei bei Arzneimitteln für chronische Erkrankungen deutlich erhöht.

Grund dafür seien die Charakteristika chronischer Erkrankungen: So erfordern diese eine Dauertherapie; die zur Bewertung herangezogenen Studien hätten jedoch nur eine begrenzte Laufzeit. Die schwerwiegenden Ereignisse, die durch die Dauertherapie verhindert werden sollen, lägen relativ weit in der Zukunft; patientenrelevante Endpunkte gebe es daher zum Zeitpunkt der Zulassung nicht. Außerdem seien die absoluten Risiken für ein schwerwiegendes Ereignis vergleichbar gering – die Häufigkeit der zu beeinflussenden Krankheitsereignisse gehe jedoch in die Nutzenbewertung ein. Und: Oftmals sei wie im Fall des Diabetes eine große Population betroffen, was bedeutsame Auswirkung auf den Budget-Impact der Gesetzlichen Krankenversicherungen habe. Schließlich seien in der Regel bereits etablierte Therapieoptionen vorhanden, so Bless.


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Surrogatparameter bei Zulassungen akzeptiert

Bei der Güterabwägung zwischen bestmöglicher Evidenz und dem Wunsch nach zeitnaher Verfügbarkeit neuer Therapieoptionen greifen die Zulassungsbehörden deshalb alternativ auch auf Surrogatparameter zurück. IQWiG und G-BA bedienen Bless zufolge jedoch nur eine Waagschale – den Wunsch nach Evidenz: Die kategorische Forderung nach patientenrelevanten Endpunkten zum Zeitpunkt der Zulassung sei eine Hürde für Therapien von Erkrankungen, deren Endpunkte weit in der Zukunft liegen. Dadurch werde die Intention der Zulassungsbehörde, den Zugang zu effektiveren Therapien schnellstmöglich zu ermöglichen, konterkariert, so Bless. Außerdem stehe dies im Konflikt mit der Gesetzesbegründung des AMNOG, nach der der frühe Zeitpunkt der Bewertung berücksichtigt werden solle. „Die Validierungsanforderungen des IQWiG konterkarieren die Güterabwägung der europäischen Arzneimittelbehörde EMA“, so Bless und ergänzte, dass die konstruktive Auseinandersetzung mit den Entscheidungsgrundlagen der EMA in Fragen der Nutzenbewertung und letztlich der Erstattung die größte Herausforderung des „lernenden Systems“ sei.

Intensiv diskutiert wurde auch die Sinnhaftigkeit des Heranziehens von Sulfonylharnstoffen als zweckmäßige Vergleichstherapie in den AMNOG-Bewertungen für neue Arzneimittel zur Therapie des Typ-2-Diabetes [ Kasten ].

Umfangreiches Themen-Potpourri

Das Programm des Expertenforums bot noch eine Reihe weiterer Themen:

  • Versorgungssituation und Therapieziele bei der medikamentösen Behandlung von Patienten mit Diabetes mellitus standen bei Prof. Dirk Müller-Wieland, Sprecher der Kommission „gesundheitspolitische Fragen“ der Deutschen Diabetes Gesellschaft, im Mittelpunkt. Er ging dabei u. a. kritisch auf die kardiovaskuläre Sicherheit von Sulfonylharnstoffen ein: So zeigen Daten von Bannister CA et al. eine deutlich erhöhte Mortalitätsrate bei Patienten unter einer Sulfonylharnstoff-Monotherapie vs. unter einer Metformin-Monotherapie [ 5 ].

  • Prof. Michael Höcker, Novo Nordisk, referierte über innovative Diabetestherapeutika – was können sie im Versorgungsalltag leisten?

  • Bei Christian Traupe, Unternehmensbereichsleiter Versorgungsmanagement, AOK Nordost, ging es um die Versorgung von Patienten mit Diabetes mellitus – was ist (noch) zu tun?

  • Helmut Hildebrandt, Vorstand OptiMedis AG, beschrieb anhand der Erfahrungen des Projektes „Gesundes Kinzigtal“ die Versorgung von Patienten mit Diabetes mellitus im Rahmen eines populationsorientierten Netzes.


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Leitlinien bleiben unberücksichtigt

Der Anspruch des Patienten auf eine State-of-the-Art-Behandlung findet sich sowohl im SGB V als auch in der Gesetzesbegründung des AMNOG. Die Diskrepanz zwischen Leitlinien einerseits und Verfügbarkeit ist jedoch insbesondere bei der Indikation Diabetes offensichtlich: So sehen beispielsweise die Nationalen Versorgungsleitlinien zur Therapie des Typ-2-Diabetes alle modernen Antidiabetika wie DPP-4-Inhibitoren, SGLT-2-Inhibitoren und GLP-1-Rezeptoragonisten vor [ 4 ]. Doch ist gerade dieser Bereich in den letzten Jahren von Marktrücknahmen erheblich betroffen. Nicht mehr in Deutschland verfügbar sind aufgrund der AMNOG-Bewertung die Wirkstoffe Linagliptin, Lixisenatid, Vildagliptin und Canagliflozin. Dies in Einheit mit DMP-Therapieempfehlungen, Regelungen zu Praxisbesonderheiten und Leitsubstanzen habe Bless zufolge in den letzten Jahren zu einem Anstieg des Insulinverbrauchs in Deutschland geführt, der nicht durch den Prävalenzanstieg zu erklären sei.

Insgesamt betrachtet gefährden die negativen Bewertungen im Rahmen des AMNOG Hecken zufolge die Arzneimittelversorgung jedoch nicht: So habe es bislang nur 9 Marktaustritte aufgrund einer negativen Bewertung gegeben und trotz AMNOG sei bisher keine Gruppe neuer Antidiabetika ganz verschwunden. Für die nächste Novelle des SGB V erwartet Hecken eine Flexibilisierung bei den zweckmäßigen Vergleichstherapien. Dazu habe sich der G-BA mit über 60 Firmen zum Thema Studiendesign beraten. Außerdem forderte Hecken eine Art „Ankerpreis“ für neue Wirkstoffe, denen nur ein mäßiger bis nicht vorhandener Zusatznutzen zugestanden wird. Im Bereich Onkologie könnten andererseits zusätzliche Forderungen z. B. nach Lebensqualitätsparametern eine gute Bewertung künftig erschweren.

Monika Walter, München

Quelle:
Expertenforum – Diabetes: „Diabetes als Volkskrankheit: Neue Versorgungs- und Therapiestrategien auf dem Prüfstand“ am 22. April 2015 in Berlin.


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  • Literatur

  • 1 Rathmann W et al. Dtsch Ärztebl Int 2013; 110: 331-337
  • 2 vfa; G-BA Beschlüsse zu 83 abgeschlossenen Verfahren; maximal vergebenes Ausmaß des Zusatznutzens je Verfahren (ohne Orphan). Stand: 19.02.2015
  • 3 Ärztezeitung online, 19.02.2014;
  • 4 Nationale Versorgungsleitlinien zur Therapie des Typ-2-Diabetes. 1 Auflage, Version 4, letzte Änderung November 2014
  • 5 Bannister CA et al. Diab Obes Metab 2014; 16: 1165-1173

  • Literatur

  • 1 Rathmann W et al. Dtsch Ärztebl Int 2013; 110: 331-337
  • 2 vfa; G-BA Beschlüsse zu 83 abgeschlossenen Verfahren; maximal vergebenes Ausmaß des Zusatznutzens je Verfahren (ohne Orphan). Stand: 19.02.2015
  • 3 Ärztezeitung online, 19.02.2014;
  • 4 Nationale Versorgungsleitlinien zur Therapie des Typ-2-Diabetes. 1 Auflage, Version 4, letzte Änderung November 2014
  • 5 Bannister CA et al. Diab Obes Metab 2014; 16: 1165-1173

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Abb. 1 Anti-Diabetika vs. andere Produkte [ 2 ].