Z Orthop Unfall 2015; 153(03): 235-238
DOI: 10.1055/s-0035-1556919
Orthopädie und Unfallchirurgie aktuell
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

EU-Facharzt – Gemeinsame Weiterbildung in der EU: Mit 17 Ärztekammern nicht zu machen

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26 June 2015 (online)

 
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    Professor Fritz Uwe Niethard (Jahrgang 1945) war von 1996 bis 2010 Ordinarius und Ärztlicher Direktor der orthopädischen Universitätsklinik Aachen. Den Lesern dieser Zeitschrift dürfte er vor allem aufgrund seiner Arbeit in den Fachgesellschaften und als ehemaliger Herausgeber der ZfOU präsent sein. Niethard war 2000 Präsident der DGOOC, seit 2002 deren Generalsekretär, dito seit 2008 turnusmäßig alternierend auch Generalsekretär der DGOU. Eines seiner „Kernthemen“ ist die Weiterbildung – auch und gerade im europäischen Kontext. Aktuell leitet Niethard bei der DGOU eine AG zur Bedarfsplanung.

    Professor Fritz Uwe Niethard über die mühsame Suche nach neuen Standards der Weiterbildung auf EU-Ebene. Und darüber, wie sehr der Prozess in Richtung europäische Einigung auf die hiesige Organisation von Ausbildungswegen in den Arztberuf zurückkoppelt und in Frage stellt.

    ? Gibt es bald einheitliche Standards für die Weiterbildung zum Facharzt in der EU?

    Wir diskutieren aktuell eine EFORT-Vorlage dafür, ja. Das 48-seitige Papier mit dem Titel European Educational Platform Curriculum ist der Entwurf für eine einheitliche Weiterbildungsordnung für Orthopädie und Unfallchirurgie in Europa. Der muss aber auch bei EFORT noch konsentiert werden, geht dann über den Vorstand von EFORT weiter auch an die UEMS, die ebenfalls zustimmen soll (zu den Organisationen siehe auch den Kasten auf Seite 232).

    ? Die ganze UEMS?

    Die dortige Sektion für Orthopädie und Unfallchirurgie. Die UEMS ist eher das Organ auf der politischen Ebene.

    ? Sie hat die dickeren Drähte zur Politik, zu Brüssel, wo das Papier am Ende womöglich auch präsentiert würde als Position der Fachgesellschaften?

    Ja.

    ? Wann werden EFORT und UEMS das Papier verabschieden?

    Ich mag nicht ausschließen, dass wir einen Konsens in diesen Gremien schaffen, aber wann das ist, kann ich Ihnen nicht sagen. Denken Sie nur daran, dass Sie für das Thema Weiterbildung allein aus Deutschland nicht eine Position haben, sondern bis zu 17.

    ? Sie meinen die 17 Landesärztekammern, die in Sachen Weiterbildungsordnung autonom entscheiden?

    Richtig. Zwar haben wir die Musterweiterbildungsordnung bei der Bundesärztekammer, aber in deren Rahmen können die einzelnen Ordnungen der Ärztekammern ganz erhebliche Abweichungen haben. Und die Kammern machen ihre Autonomie auch bis heute ziemlich klar.

    ? OK, also von Europa erst nach Deutschland. Wo ist das Problem solcher Unterschiede in den Weiterbildungsordnungen der Kammern hierzulande, sind das nicht eher Abweichungen im Detail?

    Nicht immer. Denken Sie daran, dass der Katalog der nötigen Eingriffe, den ein Assistenzarzt, eine Assistenzärztin am Ende vorlegen muss, im Großen und Ganzen zwar vergleichbar ist. Aber es gibt einen § 10 in der Muster-Weiterbildungsordnung, der heißt „Anerkennung gleichwertiger Weiterbildung“. Nehmen wir mal an, jemand ist in einer Klinik, in der sehr viele Wirbelsäulen operiert werden, und weniger Hüften oder umgekehrt, dann kann ein Assistenzarzt in Anbetracht dieser unterschiedlichen Schwerpunkte im OP-Katalog für die Weiterbildung die eine durch die andere OP ersetzen. Diese Vorgabe wird nun wiederum bei den einzelnen Kammern und Weiterbildungsordnungen sehr unterschiedlich umgesetzt. So kann es sein, dass jemand mit einer relativ geringen Zahl von einem spezifischen Eingriff in dem einen Land den Facharzt bekommt, im anderen nicht.

    ? Und das finden Sie …?

    Schlecht.

    ? Sie sind für eine bundesweit einheitliche Regelung?

    So ist es. Und damit sind wir im Grunde auch schon bei dem Kernproblem dessen, was in Europa abläuft. Bevor wir von neuen länderübergreifenden Standards in ganz Europa reden, sind wir dafür, zunächst mal die Weiterbildung in Deutschland einheitlich zu regeln.

    ? Wer ist wir?

    Ich meine hier die DGOU und schließe damit indirekt auch die beiden anderen Fachgesellschaften, DGOOC und DGU, ein. Die Basis der Qualitätssicherung ist die Weiterbildung und wenn die nicht funktioniert, muss man die sich daraus ergebenden Konsequenzen hinterher durch viele Qualitätssicherungsmaßnahmen wieder aufarbeiten.

    ? Von denen Sie sicherlich nicht alle wieder abschaffen können, selbst bei optimaler bundesweit einheitlicher Weiterbildung?

    Nein, aber mein Spruch ist: Wenn jemand es richtig gelernt hat, dann kann er es nicht falsch machen.

    ? Wenn Sie eine einheitliche Weiterbildung im Land wollen, müssten Sie, naja, ein ganz klein wenig die Autonomie der Kammern begrenzen?

    Genau, Sie müssten an der Verkammerung arbeiten, und das ist ein riesengroßes Rad. Aber im Prinzip ist genau das unsere Forderung. Wir sind im Übrigen in Europa eine Ausnahmeerscheinung mit der Selbstverwaltungsmacht der Ärztekammern. In anderen Ländern ist das völlig anders geregelt. So werden die Weiterbildungsregularien beispielsweise in den angelsächsischen Ländern von den Fachgesellschaften entwickelt.

    ? Ihre Kolleginnen und Kollegen von der Orthopädischen Fachgesellschaft in Großbritannien organisieren dort die Weiterbildung zum Orthopäden?

    So ist es, in den USA genauso. Entweder gestalten die Fachgesellschaften das in vielen Ländern ganz autonom oder aber in gemeinschaftlicher Arbeit mit Regierungsinstitutionen. Aber immer haben Sie das Heft hauptamtlich in der Hand.

    ? Wie ist das in anderen deutschsprachigen Ländern, etwa Österreich?

    Auch dort haben die Fachgesellschaften eine stärkere Stellung bei der Weiterbildung als bei uns. Österreich ist für uns derzeit besonders interessant, weil das deutsche Beispiel der Zusammenlegung von Orthopädie und Unfallchirurgie aufgegriffen worden ist. Die beiden Fachgesellschaften in Österreich, die für Orthopädie und die für Unfallchirurgie, haben dort aktuell von Regierungsseite den Auftrag erhalten, einen gemeinsamen Facharzt aufzulegen. Bis Ende dieses Jahres will die Regierung das Konzept sehen.

    ? Diesen gemeinsame Facharzt haben aber viele andere Länder in Europa nicht? Das schafft womöglich noch ganz andere Probleme bei der Suche nach Standards für die Weiterbildung?

    Richtig, die Briten, die Franzosen, die meisten Länder kennen ihn nicht in dieser Form, das System ist und bleibt in Europa sehr unterschiedlich. Im angelsächsischen Raum sind die chirurgischen Fächer stärker herausgehoben und zugleich untereinander stärker untergliedert als bei uns.

    ? Wie soll ein neuer Vorschlag der EFORT, vielleicht auch der UEMS, das alles zusammen führen in einer Weiterbildung?

    Das Papier ist derzeit ein angelsächsisch dominierter Vorschlag für eine gemeinsame Weiterbildung in der orthopädischen Chirurgie.

    ? Was heißt das konkret? Steht da womöglich, die Weiterbildung dauert in Zukunft 10 Jahre … oder nur noch 3 Jahre?

    Nein, die Weiterbildung würde bei den 6 Jahren bleiben, wie wir sie aktuell in Deutschland haben. Und es würde auch eine einheitliche Basisweiterbildung geben, wie wir sie in Deutschland aktuell kennen.

    ? Ein Common Trunk für alle chirurgischen Fächer?

    Ja. Paradoxerweise liegen dabei jetzt wiederum gerade in Deutschland Pläne auf dem Tisch, diesen Common Trunk abzuschaffen. Die aktuell gültige Weiterbildungsordnung fasst ja im Common Trunk der ersten 2 Jahre insgesamt 8 chirurgische Fächer zusammen, von der aus man dann in verschiedene Zweige einsteigt. Leider soll genau diese gemeinsame Basis jetzt bei uns womöglich abgeschafft werden. Allerdings ist das Thema Weiterbildung vom letzten Ärztetag vertagt worden, da diskutieren wir noch.

    ? Zurück zu Europa, haben Sie noch ein paar Einzelheiten aus dem aktuellen Diskussionspapier?

    Der Entwurf des Curriculums ist sehr stringent und fordert nach jeder Passage von 2 Jahren Zwischenprüfungen, Alles das müsste nun theoretisch dann bei uns eine Landesärztekammer leisten. Vielleicht aber eben auch eine Fachgesellschaft. Wir haben als DGOU in unserer Stellungnahme bei EFORT gesagt, das Konzept als solches ist durchaus sinnvoll, aber weiterentwicklungsbedürftig.

    ? Wo zum Beispiel?

    Der vorliegende Entwurf wirft quasi auch das letzte Bisschen an Traumatologie der alten Art über Bord. Damit trifft er einen Nerv der deutschen Unfallchirurgen.

    ? Was meinen Sie?

    Viele Länder kennen den Unfallchirurgen unserer Prägung gar nicht. Die Philosophie in Großbritannien ist eine Einteilung der Chirurgischen Ärzte und Fächer viel strikter nach Körperregion, für die Lunge, oder für den Viszeralraum oder für Knochen und Gelenke. In UK gibt es wie in den USA primär einen orthopedic surgeon, und der macht praktisch alles, was mit Knochen und Muskeln zu tun hat, inklusive der entsprechenden Traumatologie an diesen Organen.

    ? Also die Unfallchirurgie?

    Exakt. „Höhleneingriffe“, also die Viszeralchirurgie, wird solch ein orthopädischer Chirurg im angelsächsischen System von Vorneherein nie machen.

    ? Was der hiesige Unfallchirurg durchaus macht …

    Zumindest machte, ja. Der deutsche Unfallchirurg war ja bis zur Zusammenlegung im gemeinsamen Facharzt für O und U eine Zusatzweiterbildung des Facharztes für Chirurgie. Was im angloamerikanischen Raum ja nie der Fall war. Deswegen ist der hiesige Chirurg mit der Zusatzweiterbildung in Unfallchirurgie auch befähigt gewesen, im Abdomen oder im Schädel tätig zu werden. Schon durch das Zusammenlegen von Orthopädie und Unfallchirurgie in Deutschland ist das natürlich erheblich erschwert, denn die Leute mit der neuen Weiterbildung gehen ja nicht mehr als Fachärzte für Chirurgie durch. Die haben vielleicht im Common Trunk 2 Jahre Basischirurgie gemacht, damit kriege ich aber keinen Bauch auf, geschweige denn einen Thorax oder einen Schädel.

    ? Will sagen, wer nach 2003 in O und U weitergebildet wird, kann solche Eingriffe nicht mehr machen?

    Mit Einschränkungen: wer die Kompetenz in einer erweiterten Weiterbildung, so z. B. in Traumazentren, erworben hat, ist natürlich weiterhin befugt.

    Die Mehrzahl der jungen Ärzte wird sich aber mehr mit der Organisation des Polytraumas beschäftigen als selbst die Höhleneingriffe durchzuführen.

    ? Bei Verletzungen im Bauchraum wird heute eher ein entsprechend spezialisierter Viszeralchirurg übernehmen und nicht der Orthopäde und Unfallchirurg?

    Insbesondere in den großen Kliniken: Ja. Und diese Änderung im Rollenbild ist etwas, was die Weiterbildung von Orthopädie und Unfallchirurgie in Deutschland sehr stark behelligt. Auf der anderen Seite ist die Anzahl der Schwerstverletzten zum Glück zurückgegangen, sodass die Verletzten in der Struktur der Traumazentren gut und kompetent aufgefangen werden können.

    ? Aber dann können Sie in der Hinsicht womöglich mit dem vorliegenden Papier der EFORT doch ganz gut leben? Oder sollten da doch mehr Inhalte der Unfallchirurgie mit hinein?

    Ich finde, das bleibt zumindest breiter auch auf Gremienebene in der EU zu diskutieren. Wir halten das deutsche Modell aus verschiedenen – auch ökonomischen Gründen – für sinnvoll. Deshalb wünschen wir uns bei EFORT und anderen Fachgremien auch eine fairere Stimmengewichtung.

    ? Was hat das mit den Unfallchirurgen zu tun und ihrer zu geringen Würdigung im aktuellen Diskussionspapier?

    Die deutschen Unfallchirurgen sind in der EFORT als einem, historisch gesehen, Zusammenschluss vorrangig der orthopädischen Fachgesellschaften nur mit einem Beobachtersitz aber nicht mit Stimmrecht vertreten. Die Stimmen bei EFORT werden rein nach Nationen vergeben. Jedes Land hat 2 Stimmen. Nach dem Zusammengehen zum gemeinsamen Facharzt in Deutschland haben wir es zwar geschafft, dass auch die Gesellschaft der Unfallchirurgen mit in die EFORT hinein kam, aber ohne Stimmrecht. Stimmberechtigt sind dort bislang laut Satzung nur Vertreter der DGOOC und des BVOU.

    ? Damit zu wenig Vertretung auch unfallchirurgischer Gesichtspunkte deutscher Sichtweise?

    Ja. Dabei möchten wir die Stimmenverteilung generell verändern. Es ist meiner Meinung nach nicht möglich, dass eines Tages über eine orthopädisch-unfallchirurgische Weiterbildungsordnung in der EU abgestimmt wird, wo Monaco oder die baltischen Länder genauso viel Stimmen haben wie Deutschland.

    ? Mehr Proporz nach Einwohnerzahl eines Landes?

    So ist es, aktuell hat bei EFORT jedes Land 2 Delegierte. Ob Estland, Litauen oder Monaco, Frankreich, Deutschland oder Luxemburg – alle haben 2 Stimmen. Wir wünschen uns eine repräsentative Demokratie in der EFORT.

    Wir haben sonst zu oft das Problem, dass sich unsere Positionen nicht angemessen in den Papieren wiederfinden.

    Aus ähnlichen Gründen monieren wir auch, dass, unserer Ansicht nach, die orthopädisch konservativen Inhalte im neuen Entwurf einer Weiterbildungsordnung zu wenig drin sind.

    ? Lassen Sie raten, weil die Briten auch diese medizinischen Inhalte, wiederum bei anderen Fachärzten verorten?

    Ja, diese konservativen Inhalte sind in Großbritannien und einigen anderen Ländern eher unter der Rheumatologie zu finden, mithin in einer anderen Facharztausbildung. In den meisten Ländern gibt es gar keinen konservativen Orthopäden wie bei uns. Sie stoßen hier mit der Frage nach einer einheitlichen Weiterbildung in der EU erneut ganz klar an die großen Unterschiede je nach Versorgungssystem. Die Holländer kennen in der Niederlassung überhaupt keine Orthopäden, sondern nur einen General Practitioner. Wenn diese Ärzte auf orthopädische Probleme bei ihren Patienten stoßen, dann überweisen die in die Klinik und dort gibt es dann den Orthopedic Surgeon, der sich kümmert.

    ? Und die deutschen Vertreter mühen sich nun darum, mehr konservative Orthopädie in ein EU-weites Curriculum für die Weiterbildung zum Orthopäden aufzunehmen? Das wirkt nach Einzelkämpfer-Dasein?

    Ich sage mal so: Man kann in der EU am Ende keine Weiterbildung aus einem Guss machen, solange die Versorgungssysteme so unterschiedlich sind. Wir haben in Deutschland eine Weiterbildungsordnung, die auf Länderebene organisiert ist. Wie sollen wir da jetzt europäische Regularien schaffen? Und für die einzelnen Staaten Dinge harmonisieren, wo wir es noch nicht mal bei uns geschafft haben, eine allgemeinverbindliche Weiterbildung auf staatlicher Ebene zu organisieren.

    ? Stimmt denn zumindest die Diskussionskultur bei EFORT oder kloppt man sich so, wie wir das mitunter bei den Fragen rund um die Staatsschulden und den Euro erleben?

    Bei uns ist das unaufgeregt und läuft ganz geordnet ab.

    ? Sehen Sie wirklich eine Chance, dass man sich zumindest in diesen Gremien der Ärzteschaft in absehbarer Zeit auf Spielregeln für eien neue länderübergreifende Weiterbildung in der EU einigt?

    Wir arbeiten immer in Richtung Konsens und nicht destruktiv. Wir haben daher als deutsche Vertreter bei EFORT gesagt, ja, der Vorschlag ist erweiterungsfähig, im Sinne einer Rahmenstruktur, die in den einzelnen Ländern die Spezifika der jeweiligen Gesundheitsversorgung berücksichtigt. Und nun können ja Bau-steine, Module der Weiterbildung in den einzelnen Ländern durchaus vergleichbar sein. Der Hintergrund, mit dem man in Europa alles diskutieren kann, ist die Freizügigkeit. Wenn dann jemand aus Spanien oder Lissabon nach Deutschland käme und man weiß, diese und jene Module hat er gemacht, dann können die sich dieses anrechnen lassen und jenes eben nicht.

    ? Credit Points für Module der Weiterbildung so wie beim Bologna-Prozess auf Hochschulebene?

    In etwa, ja. Wir möchten darüber natürlich auch ein bisschen Druck auf die BÄK ausüben, um auch innerhalb von Deutschland zu einer besseren Weiterbildung zu kommen. Denn deren Qualität entspricht bei Weitem nicht mehr der, die wir vor Jahren hatten.

    ? Was läuft schief?

    Ein Grund dafür ist, dass wir in einem Land mit einem erheblichen Ärzteüberschuss leben.

    ? Wie bitte? Normalerweise beklagen viele Ärztevertreter oft den Ärztemangel hierzulande.

    Wir brauchen für solche Feststellungen überhaupt erstmal eine Bedarfsplanung. Wir haben heute aber eindeutig mehr Leute in der Weiterbildung als vor Jahren und das bei insgesamt etwa gleichen Patientenzahlen. Damit sinken die Möglichkeiten für den Einzelnen, Erfahrungen und Kenntnisse in der Weiterbildung zu gewinnen. Nach meiner Kalkulation müsste ein Arzt heute in der Weiterbildung 3-mal so lange arbeiten, wollte er auf den Erfahrungsstand kommen, den ein frisch gekürter Facharzt in den 1970er Jahren hatte. Macht also statt 6 Jahren 18 Jahre Weiterbildung, um auf den gleichen Stand zu kommen. Wir sind so indirekt dabei, die Anforderungen an den Weiterzubildenden herunterzuschrauben.

    ? Doktor made in Germany kein Gütesiegel?

    Die Qualität der Weiterbildung ist gesunken.

    ? Wo ist sie heute besser?

    Zum Beispiel in Großbritannien, zum Beispiel in den Niederlanden. Und ein Grund ist eine striktere Bedarfsplanung in diesen Ländern. Die Niederländer haben klare Spielregeln, die rechnen, wie viele Ärzte brauchen wir. Damit ist das Verhältnis von Arztzahlen pro Kopf Bevölkerung dort viel tarierter, Ärzte in Weiterbildung bekommen am Ende so auch eher die nötige Praxis.

    ? Ist das eine staatliche Stelle, die, etwa in den Niederlanden, die Vorgaben macht?

    Nein, es sind die Fachgesellschaften, die rechnen. Dabei kalkulieren die Kollegen in Holland auch, wie viel Weiterzubildende eine Klinik mit dem und dem Rüstzeug übernehmen kann. Und drittens erhält jede Klinik, für jeden Assistenten, den sie qualifiziert weiterbildet, 100 000 Euro pro Jahr. Und viertens werden die Weiterzubildenden in ein stringentes System gepackt und richtig geprüft und kommen hinterher als qualifizierte Leute heraus. Als Folge all dieser Dinge ist die Qualität der Weiterbildung in Ländern wie Holland, und nachfolgend eben die Qualität der Versorgung, ganz sicher nicht schlechter als in Deutschland.

    ? Wer soll bei uns festlegen, wie viele Ärzte benötigt, und wie viele daher zur Weiterbildung zugelassen werden?

    Wir stellen gerade mit unserer Arbeitsgruppe zur Weiterbildung bei der DGOU ein Gremium zusammen, in dem wir die Kassen mitnehmen, die KBV und auch die Patientenverbände.

    ? Also ein Thema für die Selbstverwaltung?

    Ja, denn letzten Endes haben wir alle das gleiche Interesse – eine bestmögliche Versorgung ohne Fehlsteuerungen. Wir wissen, dass wir in den letzten Jahren eine unglaubliche Ausweitung von Versorgungsstrukturen bei uns haben. Beispielsweise gibt es augenblicklich um jede Ecke eine neurochirurgische Wirbelsäulenabteilung. Die Neurochirurgen selber waren die ersten, die offiziell gesagt haben, wir haben zu viele Neurochirurgen, wir haben innerhalb von 10 Jahren völlig am Bedarf vorbei 1000 Neurochirurgen zusätzlich weitergebildet. Die sind statt 600 jetzt 1600 und so viele Spezialisten brauchen wir auf dem Gebiet einfach nicht.

    Parallel haben wir bekanntlich eine massive Zunahme bei den Wirbelsäulenoperationen in Deutschland. Ein Grund ist, dass ein Neurochirurg, der früher am Schädel oder am Nerven operiert hat, heute überwiegend an der Wirbelsäule operiert. Es sind diese Dinge, die bei uns im Hintergrund überhaupt nicht gut laufen. Um in Zukunft besser planen zu können, brauchen wir Zahlen und die wollen wir in unserer AG bei der DGOU jetzt erheben.

    ? Und das Papier bei EFORT und UEMS? Angenommen den Experten gelingt die Einigung auf eine gemeinsame europäische Weiterbildungsordnung für Orthopäden und irgendwo auch Unfallchirurgen. Das würde ja nicht ausreichen, um das einzuführen? Wer kann diese Standards am Ende in den EU-Ländern einführen?

    Festlegen können das nur die politischen Gremien. Alles, was von EFORT und UEMS kommt, kann nur ein Vorschlag sein. Das hat ja null gesetzgeberische Wirkung. Auf der anderen Seite ist diese Diskussion auf Fachebene ganz wichtig, unverhofft mündet das dann auf EU-Ebene eben doch auch in neue gesetzgeberische Verfahren.

    ? Laut Gesetz ist diese Frage der Weiterbildung in der EU aber eigentlich doch längst geregelt. Nach der Berufsanerkennungsrichtlinie 2005/36/EG muss ein Facharzt aus einem anderen EU-Land ohne Probleme diesen Titel auch bei einer hiesigen Ärztekammer erhalten. Wieso eigentlich noch die Suche nach Standards für eine EU-einheitliche Weiterbildung bei EFORT und UEMS?

    Die Diskussion ist eben nicht erledigt. Insbesondere in manch ländlichen Regionen, vor allem in den neuen Bundesländern, gibt es Kliniken, die sehr viele Stellen mit Ärzten aus dem Ausland, auch und gerade dem EU-Ausland, besetzen. Auch da ist aber mein Eindruck, dass wir da manche Dinge vorschnell einfach so akzeptieren, und dass wir längst Fakten geschaffen haben, bevor manchen auffällt, dass die Qualität der Versorgung dann eben vielleicht doch nicht stimmt.

    ? Nicht auszuschließen, dass aufgrund der Gesetzeslage Facharzttitel anerkannt werden, wo man vielleicht noch mal genauer hinschauen sollte?

    Auch das Überschreiben von Facharzttiteln wird wieder sehr unterschiedlich gehandhabt, je nach Landesärztekammer. Das findet bei den Kammern auf Sachbearbeiterebene statt. Und dieses Verfahren entspricht nicht ganz unseren Vorstellungen eines vereinten Europas und vor allem nicht den Qualitätsanforderungen, die wir an unsere hiesigen Ärzte in der Weiterbildung stellen.

    Und nebenbei, die Amerikaner haben ja das so genannte ECFMG-Examen (siehe http://www.ecfmg.org/). Wenn Sie als Europäer in den USA arbeiten wollen, müssen Sie erst dieses amerikanische Staatsexamen machen.

    ? Die EU setzt mit ihrer Richtlinie bislang ganz auf die gegenseitige Anerkennung der Abschlüsse. Auch die UEMS hat es bis heute kaum geschafft, ihre Examina wie das EBOT-Examen (siehe dazu den Haupttext, Anm. Red.) als Standard in der EU zu verankern.

    Richtig, eben weil die Systeme so unterschiedlich sind, klappt das nicht.

    ? Was tun?

    Wir müssen langfristig eine qualitativ hochwertige und einheitliche EU-Weiterbildung etablieren. Auch wenn das noch ein langer Weg sein könnte.

    ? Von Kompromiss zu Kompromiss innerhalb der gemeinsamen Fachgremien?

    So ist es. Und dabei brauchen wir nach meinem Eindruck unbedingt mehr Engagement von hiesigen Experten. Wir sind das Land in Europa mit den meisten Orthopäden und Unfallchirurgen, wir haben in Deutschland pro Kopf die meisten Ärzte in Europa. Und wir sind andererseits bei europäischen Gremien, auch bei EFORT, oft sehr gering vertreten. Ich finde, es gehen zu wenige unserer Ärzte zu den europäischen Gremien und Tagungen. Die sagen sich vielleicht auch, der DKOU ist doch viel größer als die jährliche Tagung der EFORT, da gehe ich doch lieber zum wichtigeren DKOU. Das ist aber ein Trugschluss. Denn die wirklich wichtigen Entscheidungen werden zunehmend in den europäischen Gremien getroffen. Dass uns über Europa immer mehr Dinge reinschwappen werden, bei denen wir uns in der Frühphase der Diskussionen beteiligen müssen, das berücksichtigen zu viele nicht. Noch nicht.

    Das Interview führte Bernhard Epping


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    Professor Fritz Uwe Niethard (Jahrgang 1945) war von 1996 bis 2010 Ordinarius und Ärztlicher Direktor der orthopädischen Universitätsklinik Aachen. Den Lesern dieser Zeitschrift dürfte er vor allem aufgrund seiner Arbeit in den Fachgesellschaften und als ehemaliger Herausgeber der ZfOU präsent sein. Niethard war 2000 Präsident der DGOOC, seit 2002 deren Generalsekretär, dito seit 2008 turnusmäßig alternierend auch Generalsekretär der DGOU. Eines seiner „Kernthemen“ ist die Weiterbildung – auch und gerade im europäischen Kontext. Aktuell leitet Niethard bei der DGOU eine AG zur Bedarfsplanung.