Psychiatr Prax 2016; 43(01): 10-11
DOI: 10.1055/s-0035-1552766
Debatte: Pro & Kontra
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

„Gefährdung Dritter als Rechtfertigung einer öffentlich-rechtlichen Unterbringung psychisch Kranker?“ – Pro

“Should Danger to Third Parties Justify Involuntary Admission to Psychiatric Hospitals Under Public Law?” – Pro
Norbert Schalast
Institut für Forensische Psychiatrie der Universität Duisburg-Essen
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Korrespondenzadresse

Dr. rer. nat. Dipl.-Psych. Norbert Schalast
Institut für Forensische Psychiatrie der Universität Duisburg-Essen
Virchowstraße 174
45147 Essen

Publication History

Publication Date:
14 January 2016 (online)

 

Im Rahmen schwerer psychischer Störungen können Betroffene für sich und andere eine Gefahr darstellen. Dies findet seinen Niederschlag in den Psychisch-Kranken-Gesetzen der Länder, in denen unter anderem die Voraussetzungen für eine Unterbringung in der Psychiatrie auch gegen den geäußerten Willen geregelt sind. Mit dieser „Ordnungsfunktion“ hatten die psychiatrischen Anstalten sich lange Zeit gut arrangiert.

Unter anderem gehörte die Zwangsmedikation zu den Routinen der Krisenintervention bei psychotisch erregten, bedrohlich auftretenden Patienten.

Die im Jahre 2008 verabschiedete und auch von Deutschland ratifizierte UN-Behindertenrechts­konvention hat eine verstärkte Debatte über psychiatrische Zwangsmaßnahmen angestoßen. BVerfG und BGH kamen in wegweisenden Entscheidungen zu der Feststellung, dass die bestehenden gesetzlichen Regelungen für eine Zwangsbehandlung nicht ausreichend vor Grundrechtsverletzungen schützen. Der Gesetzgeber hat daraufhin die Regelung für die Einwilligung des Betreuers in eine ärztliche Zwangsmaßnahme den höchstrichterlichen Vorgaben angepasst (mit Gesetz vom 18.2.2013, § 1906 BGB). Für die Praxis gilt allerdings, dass auch bei einem hoch erregten, aggressiv auftretenden psychotischen Patienten, der einer Klinik zwangsweise zugeführt wird, keine rasche medikamentöse (Zwangs-)Behandlung mehr erfolgen kann (wenn nicht die Annahme eines rechtfertigenden Notstands naheliegt, ein rechtlich allerdings „dünnes Eis“ [1]). Dies hat im Psychiatriealltag zu Belastungen geführt, z. B. einer Zunahme aggressiver Übergriffe durch einzelne Patienten [2].

In dieser Situation wird mit neuer Intensität darüber diskutiert, welche Versorgungskonzepte geeignet sind, die Notwendigkeit von Zwang generell zu reduzieren. Ansätze, die schon lange in der sozialpsychiatrischen Debatte eine Rolle spielen, finden verstärkte Beachtung, namentlich Krisendienste, Deeskalationstechniken, Behandlungsvereinbarungen, Hometreatment u. a. m. [1]. Eine „Ethische Stellungnahme der DGPPN“ vom 23.9.2014 untersucht die Konflikte, die sich aus der „Doppelrolle der Psychiatrie“ für die dort Tätigen ergeben und setzt sich mit den vorgenannten Konzepten auseinander. Während diese Stellungnahme es bei der differenzierten Analyse belässt, wird ihr federführender Autor in einem Beitrag für die Zeitschrift Nervenarzt deutlicher [3]. In diesem setzt er sich mit „Selbstbestimmungsfähigkeit“ auseinander (Informationsverständnis, Urteilsvermögen, Krankheitseinsicht, Behandlungseinsicht, Entscheidungsfähigkeit). Wenn ein in diesem Sinne selbstbestimmungsfähiger (d. h. ja: ziemlich gesunder) Patient gegen seinen Willen untergebracht sei und eine Behandlung ablehne, so müsse man fragen, ob die Klinik für ihn der richtige Platz ist. Solche Patienten beeinträchtigten eine „optimale stationäre psychiatrische Behandlung“, belasteten das therapeutische Milieu, könnten Personal und Mitpatienten durch bedrohliches bzw. gewalttätiges Verhalten gefährden und erschwerten es den Krankenhäusern, sich auf ihre Kernaufgabe, die Krankenbehandlung, zu konzentrieren. Für entsprechende Patienten sollten Sondereinrichtungen geschaffen werden.

Dem Tenor dieser Stellungnahme entspricht in Grundzügen ein „Eckpunktepapier“ der DGPPN vom 9.5.2015, welches Empfehlungen für die Novellierungen der Psychisch-Kranken-Gesetze gibt. Punkt 4 des Papiers lautet: „Die öffentlich-rechtliche Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus ist nur dann und nur so lange statthaft, als sie auch der Behandlung dient. Eine vorläufige Unterbringung bis zur Klärung der Frage, ob eine Erfolg versprechende Behandlung möglich ist, sollte befristet genehmigungsfähig sein.“ Dies hieße in der Konsequenz, dass die Allgemeinpsychiatrie sich von einer verbindlichen Sicherungs- und Schutzfunktion verabschiedet. Ein wegen Fremdgefährlichkeit untergebrachter Patient, der sich konsequent der Behandlung verweigert, dürfte von der Klinik entlassen werden (oder wäre in eine noch zu schaffende „Sondereinrichtung“ zu verlegen).

In einer berufsethischen Analyse fokussiert auch Pollmächer [4] auf den zur freien Willensbestimmung fähigen psychisch kranken Patienten, der sich der Behandlung verweigert. Ihm gegenüber Zwangsmaßnahmen durchzusetzen, widerspreche dem ärztlichen Ethos. Aber welcher akut psychisch kranke und fremdgefährliche Patient ist im oben zitierten Sinne selbstbestimmungsfähig? Der Zustand einer schweren psychiatrischen Störung schließt von der Natur her einen Verlust von Selbstbestimmung und Selbstverfügbarkeit ein [5]. Wenn erhebliche Rechtsgüter bedroht sind, ist es eine Pflicht des Gemeinwesens, vorübergehend (fremdbestimmte) Fürsorge zu leisten. Dem entspricht die geltende Rechtslage. Auch besteht in solchen Fällen zwischen Behandlung im Interesse des Patienten und im Interesse des Gemeinwesens kaum ein Widerspruch. Es gilt ja nicht nur, Dritte zu schützen, häufig Familienangehörige, sondern auch den Patienten selbst – vor den bisweilen existenziellen Folgen einer rechtswidrigen Tat.

Man fragt sich, warum gerade in der aktuellen Situation anspruchsvolle Abhandlungen über die ethischen Grenzen von Zwang in der Psychiatrie vorgelegt werden [3] [4], und dies nicht zu Zeiten geschah, als etwa die Zwangsmedikation zu den selbstverständlichen Routinen gehörte. Die Debatte ist wohl auch Ausdruck eines gekränkten Reflexes auf die Einschränkungen, die durch Rechtsprechung und Gesetzgeber erfolgten, nach dem Motto: „Wenn man uns die Mittel nimmt, Problempatienten gemäß unseren etablierten Maßstäben zu behandeln, dann mögen sich doch bitte andere kümmern.“ Dieser Reflex ist angesichts des herausfordernden und belastenden Klinikalltags prinzipiell nachvollziehbar.

Die gesellschaftliche Aufbruchsstimmung der 70er-Jahre erfasste auch das psychiatrische Versorgungssystem. Kontrovers wurde debattiert, ob die stationäre Psychiatrie ihren Auftrag auf offenen Stationen und ohne jeden Zwang erfüllen kann [6]. Dieses Ideal prägte die Konzeption vieler neuer psychiatrischer Abteilungen. Parallel zur Öffnung und Liberalisierung der Allgemeinpsychiatrie gab es allerdings einen deutlichen Anstieg der Unterbringungen in der forensischen Psychiatrie. Schanda [7] sprach von einer international „verblüffend uniformen Technik der Verlagerung bestimmter Patienten in den forensisch-psychiatrischen Bereich“ (S. 72). Diese Technik besteht nicht in der „Abschiebung in die Forensik“, welche allgemeinpsychiatrischen Kliniken ja auch rechtlich nicht zusteht. Viel häufiger wird hingenommen, dass nach PsychKG untergebrachte, deliktgefährdete, „unmotivierte und krankheitsuneinsichtige“ Patienten die Klinik – nach Abgabe einer Freiwilligkeitserklärung – gegen ärztlichen Rat verlassen [8].

Folgte der Gesetzgeber bei der Novellierung von Psychisch-Kranken-Gesetzen dem Eckpunktepapier, so würde die Rechtslage einer problematischen Praxis angepasst. Ohne Zweifel sind offene Abteilungen der Gemeindepsychiatrie mit manchen untergebrachten Doppel- und Dreifachdiagnose-Patienten überfordert und bedarf es differenzierter Behandlungsangebote. Darum ist eine neue Debatte über Versorgungsstrukturen und notwendige Ressourcen wichtig, die die Psychiatrie tatsächlich in die Lage versetzt, allen Aspekten ihrer Versorgungsverantwortung gerecht zu werden [9]. Keine Lösung ist es, diese einzuschränken und die Ausgrenzung von Problempatienten aus der – selbstverständlich auch fachärztlichen – Versorgung zum rechtlichen Prinzip zu machen.


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Norbert Schalast

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  • Literatur

  • 1 Stierl S. „Notfall Seele“ Verschiedene Krisen brauchen verschiedene Antworten. Soziale Psychiatrie 2013; 37: 4-8
  • 2 Flammert E, Steinert T. Auswirkungen der vorübergehend fehlenden Rechtsgrundlage für Zwangsbehandlungen auf die Häufigkeit aggressiver Vorfälle und freiheitseinschränkender mechanischer Zwangsmaßnahmen bei Patienten mit psychotischen Symptomen. Psychiat Prax 2015; 42: 260-266
  • 3 Vollmann J. Zwangsbehandlung in der Psychiatrie. Der Nervenarzt 2014; 85: 614-620
  • 4 Pollmächer T. Moral oder Doppelmoral. Das Berufsethos des Psychiaters im Spannungsfeld zwischen Selbstbestimmung, Rechten Dritter und Zwangsbehandlung. Nervenarzt 2015; 86: 1148-1156
  • 5 Wienberg G. Gewaltfreie Psychiatrie – eine Fiktion. In: Kerbel, Pörksen, Aktion Psychisch Kranke, Hrsg. Gewalt und Zwang in der stationären Psychiatrie. Tagungsberichte Bd. 25. Köln: Rheinland-Verlag; 1998: 67-79
  • 6 Sollberger D, Lang UE. Psychiatrie mit offenen Türen. Der Nervenarzt 2014; 85: 312-318
  • 7 Schanda H. Probleme bei der Versorgung psychisch kranker Rechtsbrecher – ein Problem der Allgemeinpsychiatrie?. Psychiat Prax 2000; 27: S72-S76
  • 8 Schalast N. Aggression, Gewalt und die Psychiatrie. Recht & Psychiatrie 2014; 32: 179-188
  • 9 Heinze M. Forensische und Allgemeinpsychiatrie auf getrennten Wegen. Ein Symptom für das Schwinden der Vollversorgungsverantwortung in der Psychiatrie. Kerbe 2013; 31: 8-11

Korrespondenzadresse

Dr. rer. nat. Dipl.-Psych. Norbert Schalast
Institut für Forensische Psychiatrie der Universität Duisburg-Essen
Virchowstraße 174
45147 Essen

  • Literatur

  • 1 Stierl S. „Notfall Seele“ Verschiedene Krisen brauchen verschiedene Antworten. Soziale Psychiatrie 2013; 37: 4-8
  • 2 Flammert E, Steinert T. Auswirkungen der vorübergehend fehlenden Rechtsgrundlage für Zwangsbehandlungen auf die Häufigkeit aggressiver Vorfälle und freiheitseinschränkender mechanischer Zwangsmaßnahmen bei Patienten mit psychotischen Symptomen. Psychiat Prax 2015; 42: 260-266
  • 3 Vollmann J. Zwangsbehandlung in der Psychiatrie. Der Nervenarzt 2014; 85: 614-620
  • 4 Pollmächer T. Moral oder Doppelmoral. Das Berufsethos des Psychiaters im Spannungsfeld zwischen Selbstbestimmung, Rechten Dritter und Zwangsbehandlung. Nervenarzt 2015; 86: 1148-1156
  • 5 Wienberg G. Gewaltfreie Psychiatrie – eine Fiktion. In: Kerbel, Pörksen, Aktion Psychisch Kranke, Hrsg. Gewalt und Zwang in der stationären Psychiatrie. Tagungsberichte Bd. 25. Köln: Rheinland-Verlag; 1998: 67-79
  • 6 Sollberger D, Lang UE. Psychiatrie mit offenen Türen. Der Nervenarzt 2014; 85: 312-318
  • 7 Schanda H. Probleme bei der Versorgung psychisch kranker Rechtsbrecher – ein Problem der Allgemeinpsychiatrie?. Psychiat Prax 2000; 27: S72-S76
  • 8 Schalast N. Aggression, Gewalt und die Psychiatrie. Recht & Psychiatrie 2014; 32: 179-188
  • 9 Heinze M. Forensische und Allgemeinpsychiatrie auf getrennten Wegen. Ein Symptom für das Schwinden der Vollversorgungsverantwortung in der Psychiatrie. Kerbe 2013; 31: 8-11

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