Aktuelle Urol 2015; 46(02): 99-100
DOI: 10.1055/s-0035-1549206
Referiert und kommentiert
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Venöse Thromboembolien – Höchstes Risiko nach radikaler Zystektomie

Contributor(s):
Antonie Post

J Urol 2014;
192: 793-797
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Publication History

Publication Date:
21 April 2015 (online)

 

Obwohl tiefe Venenthrombosen und Lungenembolien vergleichsweise selten nach urologischen Eingriffen auftreten, haben doch bestimmte Patientengruppen ein erhöhtes Risiko für venöse Thromboembolien. Eine retrospektive US-amerikanische Studie hat nun gezeigt, dass die postoperative Wahrscheinlichkeit venöser Thromboembolien stark abhängig von der Art des Eingriffs ist.
J Urol 2014; 192: 793–797

mit Kommentar

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(Bild: Sebastian Kaulitzki / Fotolia.com)

Mark D. Tyson, Urologische Abteilung der Mayo Clinic in Arizona, USA, und Kollegen werteten die NSQIP-Daten von Patienten aus, die sich zwischen Januar 2005 und Dezember 2011 einem urologischen Eingriff unterzogen. Das NSQIP (National Surgical Quality Improvement Program) sammelt klinische Daten von Patienten in über 200 Krankenhäusern und erfasst mehr als 130 Parameter, wie z. B. präoperative demografische Daten, Komorbiditäten, intra- und perioperative Komplikationen und die Mortalität bis 30 Tage nach dem Eingriff .

Risiko gleich null bei laparoskopischer Kolpopexie

Insgesamt unterzogen sich 82 808 Patienten in genanntem Zeitraum einer urologischen Operation. Eine postoperativetiefe Venenthrombose innerhalb von 30 Tagen entwickelten 0,8 % der Patienten (n = 633), eine Lungenembolie 0,4 % (n = 349). Das höchste Risiko für eine tiefe Venenthrombose hatten Patienten nach radikaler Zystektomie (4,0 %), gefolgt von partieller Zystektomie (2,4 %) und offener radikaler Nephrektomie (1,7 %). Das geringste Risiko hatten Patienten nach einer laparoskopischen Kolpopexie (0,0 %) sowie nach Schlingenplastiken bei weiblicher Harninkontinenz (0,1 %). Die meisten Lungenembolien (2,9 %) traten nach einer Zystektomie auf.

Waren die Patienten älter, männlich, hatten einen höheren BMI, einen geringeren funktionellen Status und disseminierte Metastasen, entwickelten sie mit einer höheren Wahrscheinlichkeit eine tiefe Venenthrombose. Diabetes, Raucherstatus oder ethnische Herkunft hatten laut der Studie keinen Einfluss auf das Risiko. Im Median dauerte es 11 Tage bis eine tiefe Venenthrombose postoperativ auftrat, bei einer Lungenembolie 9 Tage.

Die stärksten Prädiktoren für eine venöse Thromboembolie waren

  • der funktionelle Status des Patienten (OR 5,59, 95 % KI 3,54 – 8,82, p < 0,001),

  • eine frühere kongestive Herzinsuffizienz (OR 4,57, 95 % KI 2,80 – 7,47, p < 0,001) und

  • fortgeschrittene Tumorerkrankung mit disseminierten Metastasen (OR 3,12, 95 % KI 2,48 – 3,93, p < 0,001).

Zudem war ein Alter über 60 Jahre, eine Anästhesiedauer von mehr als 120 min und eine chronische Steroideinnahme mit der Entwicklung einer venösen Thromboembolie assoziiert.

Fazit

Die aktuelle Studie ist laut Aussage der Autoren die erste, die einen umfassenden Vergleich von Risiken in Bezug auf venöse Thromboembolien nach urologischen Eingriffen vornimmt. Mit dem Outcome der Studie könne ein Beitrag zur Prävention von Lungenembolien und tiefen Venenthrombosen geleistet werden, so die Autoren. Sie weisen aber auch auf die Limitationen ihrer Studie hin: Sie erfassten die Daten retrospektiv und es lagen keine Angaben für eine etwaige Thromboembolieprophylaxe vor. Wünschenswert sei außerdem ein postoperatives Follow-up von 90 Tagen gewesen.


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Kommentar

Differenzierte Erkenntnisse für die Urologie

Tyson und Kollegen zeigen in ihrer Studie anhand eines großen Kollektivs aktuelle Daten über die 30-Tages-Inzidenz von VTE nach urologischen Eingriffen. Hierbei betonen Sie die im Vergleich zu vorherigen Publikationen präzise Differenzierung der unterschiedlichen Operationen. Zum anderen erlaubt die Studienpopulation von knapp 83 000 Patienten mit jeweils umfangreicher Charakterisierung (> 130 bekannte Variablen / Patient) eine aussagefähige multivariate Analyse im Hinblick auf Risikofaktoren für VTE [ 1 ].

Die aktuellen S3-Leitlinien zur VTE-Prophylaxe in Deutschland empfehlen eine Einstufung der Patienten in Gruppen mit geringem, mittleren oder hohem VTE-Risiko. Dafür müssen expositionelle (aus dem Eingriff resultierende) und dispositionelle (bei dem Patienten individuell vorliegende) Risikofaktoren bedacht werden [ 2 ]. Die vorliegende Arbeit liefert hierfür eine breite Datenbasis mit detaillierten Angaben für verschiedene urologische Eingriffe. Zusätzlich werden bereits bekannte dispositionelle Risikofaktoren (Vorherige VTE, Alter > 60 Jahre, Thrombophilie, aktive Malignom-Erkrankung, Sexualhormonmanipulation, Chronische Herzinsuffi zienz, BMI > 30, Infekt mit Immobilisation) um die statistisch signifikanten Prädiktoren schlechter Allgemeinzustand, Steroidtherapie und Dauer der Anästhesie > 2 Stunden ergänzt.

Ein interessanter Punkt der vorliegenden Arbeit sind die unterschiedlichen VTE-Raten bei offenen vs. laparoskopischen Eingriffen. Auch wenn nicht explizit statistisch verglichen, so erscheinen unter den 10 Eingriff en mit der höchsten VTE-Rate (Zystektomie mit 3,96 % bis zu offener partieller Nephrektomie mit 0,97 %) bis auf die „off ene oder laparoskopische Steinsanierung“ keine laparoskopischen Interventionen. Somit scheint hier ein Anhalt für eine möglicherweise geringere VTE-Rate in der laparoskopischen urologischen Chirurgie zu bestehen. In den Leitlinien wird bisher keine Differenzierung zwischen offener und laparoskopischer Chirurgie betrieben. Aufgrund der hohen Kosten sowie der potenziellen Risiken der VTE-Prophylaxe (z. B. heparininduzierte Thrombozytopenie) käme einer genaueren Unterscheidung eine hohe Relevanz zu. Aufgrund der einer retrospektiven Studie inhärenten Einschränkungen in Bezug auf Selektionsbias und andere Confounder sollte hier jedoch nur von einer Hypothese gesprochen werden und nicht von einem wissenschaftlichen Nachweis. Weitere Studien diesbezüglich wären wünschenswert.

Kritisch zu werten ist der mit 30 Tagen relativ kurze Beobachtungszeitraum der Studie, wodurch möglicherweise einige späte VTE übersehen wurden. Nichtsdestotrotz wissen wir aus ähnlichen Arbeiten, dass z. B. für die radikale Prostatektomie die Mehrzahl der VTE innerhalb der ersten 4 Wochen postoperativ auftritt [ 3 ]. Ein Schwachpunkt dieser Arbeit sind die fehlenden Angaben zur perioperativen VTE-Prophylaxe. Prinzipiell stehen hier dem behandelnden Arzt medikamentöse (z. B. Heparin) und komplementäre (z. B. Frühmobilisation, adäquate Hydrierung, Kompressionsstrümpfe) Maßnahmen zur Verfügung. Die Adhärenz zu den gängigen Leitlinienempfehlungen hatte vermutlich einen starken Einfluss auf die Studienergebnisse und wurde leider nicht erfasst. So ist es erstaunlich, dass die TVT-Rate (TVT: Tiefe-Venen-Thrombose) nach radikaler Zystektomie mit einem Wert von 3,96 % in der vorliegenden Studie ähnlich den Ergebnissen aus den 90er Jahren sind (3,7 %), einer Zeit als die VTE-Prophylaxe noch nicht flächendeckend durchgeführt wurde [ 4 ]. Bezüglich der Interpretation der Daten für den deutschsprachigen Raum ist anzumerken, dass in den USA die VTE-Prophylaxe in der Regel erst postoperativ beginnt, während in Deutschland die Heparin-Erstgabe meist am Vorabend der OP erfolgt. Des Weiteren werden in den USA einige Eingriffe, die hierzulande regelhaft unter stationären Bedingungen erfolgen, ambulant durchgeführt (z. B. die URS).

Für die Praxis liefert die vorliegende Arbeit eine gute Datenbasis für die Einschätzung des VTE-Risikos gängiger urologischer Eingriffe und identifiziert einen schlechten Allgemeinzustand, Steroidtherapie und Dauer der Anästhesie > 2 Stunden als zusätzliche unabhängige Risikofaktoren für VTE.

Dr. Axel John, Prof. Dr. Maurice-Stephan Michel, Mannheim


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Dr. Axel John


ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Klinik für Urologie der Universitätsmedizin Mannheim

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Prof. Dr. Maurice-Stephan Michel


ist Direktor der Urologischen Klinik der Universitätsmedizin Mannheim

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(Bild: Sebastian Kaulitzki / Fotolia.com)