Psychiatr Prax 2015; 42(04): 225-226
DOI: 10.1055/s-0034-1387646
Mitteilungen der ackpa
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Mitteilungen des Arbeitskreises der Chefärzte und Chefärztinnen von Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie an Allgemeinkrankenhäusern in Deutschland (ackpa)

Karl H. Beine
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Publication Date:
04 May 2015 (online)

 

40 Jahre Psychiatrie-Enquete. Die 33. Jahrestagung der ackpa vom 5. – 7.3.2015 in Rotenburg/Wümme

Andreas Thiel, Chefarzt des Zentrums für Psychosoziale Medizin in Rotenburg/Wümme, und Karl Beine, ackpa-Sprecher, begrüßten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Die Rotenburger Klinik ging 1998 aus einer kleinen neurologisch-psychiatrischen Abteilung hervor und übernimmt seitdem die psychiatrisch-psychotherapeutische und psychosomatische Versorgung für den Landkreis Rotenburg.


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Die Rotenburger Werke der Inneren Mission (bis 2012 Träger des Krankenhauses) waren aktiv an der Zwangssterilisierung und an der Ermordung von Menschen mit Behinderungen im Nationalsozialismus beteiligt.

Beine verwies darauf, dass die Psychiatrie-Enquete vor dem Hintergrund einer deutschen Psychiatrie erkämpft wurde, die sich aus ihrer sozialdarwinistischen Haltung nicht gelöst hatte. Etablierte Amtsinhaber standen sozialpsychiatrischen Reformen ablehnend gegenüber. Menschenunwürdige Verhältnisse in den Kliniken wurden angeprangert und nach den Vorgaben der Enquete allmählich verändert. Die Empfehlungen der Expertenkommission von 1988 führten zur Schaffung gemeindepsychiatrischer Verbünde und zur Einrichtung von psychiatrischen Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern, die rasch die stationäre Pflichtversorgung ihrer Städte und Landkreise übernahmen. Die Psychiatrie-Personalverordnung sorgte ab 1991 für therapeutische Milieus.

Seitdem sinkt die Personalausstattung in Deutschland wieder, das neue Entgeltsystem zwingt die Kliniken dazu, untereinander zu konkurrieren und ihre Abläufe, d. h. Aufnahmen und Entlassungen betriebswirtschaftlich zu optimieren. Ordnungspolitische Verantwortung wäre nun gefragt, damit chronisch Kranke nicht an den Rand gedrängt werden. Täglich haben wir mit Situationen zu tun, bei denen Patientenwohl und betriebswirtschaftliche Erwägungen im Widerspruch stehen; Zwangsbehandlungen finden statt, weil die Zeit für geduldiges Begleiten, Unterstützen und Verhandeln fehlt.

Die Kernforderung von 1975 nach einem flächendeckenden therapeutisch-rehabilitativen Versorgungssystem wurde nicht erfüllt. Unsere Aufgabe ist es heute, psychisch Kranken Gehör zu verschaffen und selbstkritisch auf unsere Arbeit zu schauen. Unsere Aufgabe ist es nicht, pseudowissenschaftliche Begründungen für ökonomisch gewollte Veränderungen zu liefern.

Asmus Finzen: 40 Jahre danach, Blick zurück

Eine Kernforderung der Enquete war es, die Zugänglichkeit der psychiatrischen Dienste für alle zu gewährleisten. Am 2. Januar 1975 begann Finzen als Direktor der Anstalt in Wunstorf: 500 Männer hatten keinen Schrank für ihre Kleidung und ihre persönlichen Sachen; sie mussten Bargeld abgeben, den Besuchern war es verboten, den Patienten direkt Schokolade, Geld oder Rauchwaren zu geben. Männer und Frauen arbeiteten umsonst, um den Anstaltsbetrieb aufrechtzuerhalten. Reformer und konservative Modernisierer standen sich oft unversöhnlich gegenüber, in den Anstalten, in der Fachgesellschaft, bei den Kongressen, in den Medien. Fortschritte wurden erzielt, wenn Konfrontationen ohne persönliche Verletzungen ausgetragen wurden. Auf die Enquete folgte die Strukturreform mit differenzierten Diensten, Tageskliniken und kleineren dezentralisierten Kliniken. Die Entwicklung einer therapeutischen Kultur mit mehr Offenheit, Freiwilligkeit und Achtung der Grundrechte ist jedoch steckengeblieben. Die Zerrissenheit des Faches zeigt sich in einer Dreiklassenpsychiatrie aus Allgemeinpsychiatrie, Psychosomatik und Forensischer Psychiatrie, aber auch in den Auseinandersetzungen zwischen Vertretern der Psychiatrie und denen der Psychosomatik.


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Karel Frasch: 40 Jahre danach, Blick nach vorn

Die Zukunft der Versorgung liegt in der weiteren Verkleinerung der Großkrankenhäusern zugunsten kleinerer wohnortnaher Kliniken – so Karel Frasch. Spezielle Angebote (z. B. EKT) können an den großen Kliniken angeboten werden. Verbesserungsmöglichkeiten liegen in rationeller Psychopharmakotherapie und diagnoseübergreifender Psychotherapie. Psychologen können in ihrer Rolle gestärkt werden, z. B. mit Rufbereitschaftsdiensten. Home-Treatment sei noch nicht finanziert, immer noch arbeiten wir in einer zersplitterten Versorgungslandschaft. MDK Prüfungen orientieren sich an absurden Fragen, z. B. wann die letzte Veränderung der medikamentösen Behandlung stattgefunden hat. Wir brauchen ein einfaches Finanzierungssystem und sollten uns über unsinnige Auswüchse bei der Qualitätssicherung empören. Forschung wird an der Universität im Medizinstudium nicht gelehrt, auch nicht in der ärztlichen Weiterbildung. Attraktive Forschungsstellen für Ärzte gibt es kaum. Alte Herren in hohen Gremien schaffen Barrieren für die nächsten Generationen mit teuren Zertifikaten, Qualifizierungen oder längeren Weiterbildungszeiten. Zwangsmaßnahmen sollten prinzipiell möglich sein, gesetzlich klar geregelt werden und einer unabhängigen Begutachtung unterliegen.

In der Diskussion wurden Visionen für die Psychiatrie vermisst und die Resignation gegenüber dem neuen Entgeltsystem kritisiert. Während viele Kliniken einfach für PEPP optieren, finden z. B. in Hanau wegweisende Veränderungen in Richtung einer vorwiegend ambulanten Behandlung für schwer und chronisch Kranke statt. Wir sind aufgefordert, unser Wissen über die psychischen Folgen von Flucht, Vertreibung und Krieg politisch einzubringen. Die Zusammenarbeit mit Psychiatrie-Erfahrenen, Angehörigen und ihren Organisationen ist die Voraussetzung für die Entwicklung von Visionen in der Psychiatrie.


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Wolfgang Jordan: 40 Jahre danach, ethische Betrachtungen

Die Psychiatrie brauche nach der einseitigen Medikalisierung mit den fatalen Folgen im Nationalsozialismus eine neue Orientierung in der Ethik und Philosophie – so begann Jordan seine Ausführungen. Die Menschenwürde erfordert in der Psychiatrie ein besonderes Wertefundament. Zentrale Themen der Ethik werden durch psychisches Kranksein berührt: Freiheit, Glück, das gute Leben, Konsens u. a. Ärzte in der Psychiatrie brauchen eine besondere ethische Kompetenz. Brauchen wir eine Rangordnung von ethischen Werten? Der ethische Therapeut beachtet die soziale Menschenwürde seiner Patienten, ermöglicht seinen Patienten eine Bedeutung für andere, eine aktive Einbindung und sorgt bei seinen Mitarbeitern für eine Ausrichtung an Tugenden.


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Ruth Fricke: 40 Jahre danach, persönliche Betrachtungen

Bereits im Zwischenbericht der Enquête 1973 kamen die menschenunwürdigen Zustände in der deutschen Psychiatrie zur Sprache – daran erinnerte R. Fricke am Anfang ihres Vortrags. Die Auflösung der Langzeitstationen scheint flächendeckend gelungen zu sein, allerdings an vielen Orten in große Heime, z. B. in Hamburg. Kleine Wohneinheiten mit Unterstützung vor Ort seien nicht überall entstanden. Das gelte auch für Patienten, die heute aus den Kliniken entlassen würden. Wir sollten aufhören, ständig Sondereinheiten für bestimmte Gruppen von psychisch Kranken zu schaffen. Mitarbeiter in Wohngruppen oder Tagesstätten sollten mehr Brücken in den Alltag bauen (Inklusion), statt ihre Patienten in eigenen Angeboten (Batik und Specksteinbearbeitung) zu exkludieren. Die Glaspaläste der Krankenkassen und der Kassenärztlichen Vereinigungen weisen auf eine Mittelverteilung weg von den Bedürfnissen der Patienten hin – so Frau Fricke.

Der Bundesverband der Psychiatrie-Erfahrenen erhält vom Bundesgesundheitsministerium zwar Mittel zur Veranstaltung der Mitgliederversammlung, anders als andere Verbände aber keine Förderung für Projekte. Selbsthilfestrukturen werden damit vom Bund benachteiligt, kritisierte Frau Fricke. Fortschritte in der Förderung von Selbsthilfe sind in NRW und in einzelnen Landkreisen zu verzeichnen.

Die alten Großkrankenhäuser seien längst noch nicht überall aufgelöst – so Ruth Fricke. Als Mitglied der staatlichen Besuchskommission sieht sie nach wie vor geschlossene psychiatrische Aufnahmestationen, obwohl diese nachweislich nicht nötig sind. Offene Stationen, auf denen Patienten mit ganz verschiedenen Problemen aufgenommen werden, schaffen eine entspannte Atmosphäre und fördern Solidarität und Selbsthilfe unter den Patienten. Behandlungsvereinbarungen seien geeignet, um Probleme bei künftigen Behandlungen wirksamer zu lösen. Solange es Sondergesetze für psychisch Kranke gibt, ist die Gleichstellung psychisch Kranker mit körperlich Kranken nicht erreicht. Der anstehende Staatenbericht zur UN Behindertenrechtskonvention werde hoffentlich die Gleichstellung befördern. Die durch PEPP verkürzten Liegezeiten und besonders vergüteten Zwangsmaßnahmen seien alleine schon Grund genug PEPP abzulehnen.

In der Diskussion wird die Öffnung der Stationen gefordert, ebenso die Wiedereinführung der Behandlungserlaubnis für die Sozialpsychiatrischen Dienste. Die Vorgaben einer psychiatrischen Ethik sind ohne Weiteres auch für die Medizin anzuwenden; ob es dann wirklich eine besondere psychiatrische Ethik braucht, bleibt offen. Es gibt auch eine institutionelle Ethik, deren Aufgabe es ist, Demütigung und Unterdrückung zu verhindern. Zu einer fortschrittlichen Behandlungskultur gehören niedrige Dosierungen bei Psychopharmaka, Zeit zur Genesung, Beteiligung derer, die einen kennen, z. B. des ambulant behandelnden Arztes, die Möglichkeit für eine Behandlungsvereinbarung, um Einfluss auf künftige Behandlungen zu nehmen.


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Was Ihr nicht tut mit Lust, das gedeiht Euch nicht

Die Kommende-Tagung am Samstagmorgen, hatte ebenfalls „40 Jahre Psychiatrie-Enquete – Blick zurück nach vorn“ zum Thema, sah aber ganz anders aus als all die Jahre zuvor. Keine Vorträge, kein PowerPoint, sondern das trialogische Gruppengespräch, die Diskussion. Das »Diskursformat«, das war ein Stuhlkreis, in den sich Ingrid Munk (Moderatorin, Berlin), Ruth Fricke (Herford), Margareta Müller-Mbaye (Herdecke), Martin Zinkler (Heidenheim), Gudrun Schliebener (Herford), Peter Kruckenberg (Bremen), Martin Kaiser (Merzig), Bettina Wilms (Nordhausen) und Wilfried Schöne (Radebeul) gesetzt hatten. Der Stuhl zwischen Martin Kaiser und Peter Kruckenberg blieb leer. Wenn jemand aus dem Publikum etwas sagen wollte, dann musste er auf diesen Stuhl – wenn er denn frei war. Natürlich sorgte die Äußerung von Juan E. Mendez, selbst ein Opfer argentinischer Folter, dass unfreiwillige Behandlungen Folter sind, für Diskussionsstoff. Und natürlich ist es strittig, wie sich denn Gewaltvermeidung und Freiwilligkeit in jedem Fall durchsetzen lässt. Nicht strittig war hingegen die Auffassung, dass die ebenso prägende wie lähmende Dominanz der Ökonomisierung gebrochen werden muss. Das wird wohl nicht gehen ohne die notwendige Streitlust. Die Kritik an den Verhältnissen, sie darf aber über eins nicht hinwegtäuschen: Wir müssen bei uns selbst anfangen. Da bleibt es nicht aus, wenn ackpa-Leute nicht jeden Morgen mit einem Dauergrinsen bei der Arbeit erscheinen und abends mit einem zufriedenen Lächeln heimgehen. Aber eins konnte man der Runde glauben: Das Ringen um den rechten Weg, das kann auch lustvoll sein und Spaß machen.

Martin Zinkler, Karl Beine


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