Psychiatr Prax 2015; 42(06): 296-297
DOI: 10.1055/s-0034-1387499
Debatte: Pro & Kontra
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Psychoedukation ist ein überholtes paternalistisches Konzept – Pro

Psychoeducation is an Outdated Paternalistic Concept – Pro
Thomas Bock
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
,
Kolja Heumann
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
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Korrespondenzadresse

Prof. Dr. Thomas Bock
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Martinistraße 52
20246 Hamburg
eMail: bock@uke.de

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
26. August 2015 (online)

 

Pro

Psychoedukation ist verbreitet und vielfältig; ein Pauschalurteil ist schwierig. Bei der Wirksamkeit ist nach den Kriterien zu fragen; die Ergebnisse sind widersprüchlich. Unsere Auseinandersetzung mit der Psychoedukation ist grundsätzlicher und betrifft das Wesen und die Zielsetzung von Psychoedukation.


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Psychoedukation und Psychoseseminar waren Gegenpole; manches hat sich seitdem verändert.

Die Wirksamkeit von Psychoedukation steht infrage

In den britischen NICE-Leitlinien für die Behandlung von Psychosen gibt es aufgrund mangelnder Evidenz bzgl. einer Verbesserung des Krankheitsverlaufs explizit keine Empfehlung für eine spezifische „Adherence Therapy“ bzw. Psychoedukation [1]. Auch in deutschen Behandlungsleitlinien (z. B. zu Psychosozialen Therapien und zu Bipolaren Störungen) wird relativiert: Wenn Psychoedukation wirkt, dann eher durch Wiederholung in konstanten Gruppen. Ihre Nachhaltigkeit hängt zudem wesentlich davon ab, ob die Angehörigen einbezogen werden. Sind also eher der soziale Zusammenhalt und der Trialog entscheidend? In jedem Fall geht es um Beziehungskultur und Respekt, einseitige Information allein ist zu wenig [2]; das führt zu grundsätzlichen Fragen:

Edukation der Seele – wie soll das gehen?

Lässt sich die Psyche „erziehen“? Haben wir Therapeuten die inhaltliche und moralische Legitimation, Menschen in seelischer Not in dieser Weise zu leiten? Mit welchem Ziel und in wessen Auftrag? Stellen wir uns den individuellen Unterschieden und der subjektiven Brechung oder ignorieren wir beides? Nutzen wir unsere Sprachgewalt und Definitionsmacht aus oder suchen wir nach einer gemeinsamen auf Augenhöhe verbindenden Sprache? – Argumentiert wird, Wissen bedeute Macht und es sei daher notwendig, unser Wissen über Psychosen, Depressionen usw. (mit)zuteilen und uns mit diesem Wissen kritischen Fragen zu stellen. Nur haben wir wirklich einen allgemein gültigen lohnenden Wissensvorsprung? Welche Implikation vermitteln wir mit diesem Wissen? Nehmen wir andere Erklärungsmodelle ernst? Und wird durch die formale Gestaltung der Edukation das Machtgefälle nicht eher vergrößert? Drei Beispiele mögen verdeutlichen, in welche Richtung eine Erweiterung unserer Konzepte ansteht.

„Vulnerabilitäts-Stress-Modell“ – banal oder wertvoll?

Dieses Krankheitsmodell ist regelhaft Gegenstand der Psychoedukation. Dabei wird Vulnerabilität oft als biologisch/genetisch und quasi wie eine Vorstufe der Erkrankung angesehen. Womit die Chancen des Modells zunichte sind: Die Erkrankung erscheint unkontrollierbar weil biologisch determiniert. Ein derartiger Reduktionismus sorgt in der Öffentlichkeit für eine Vergrößerung der sozialen Distanz [3], im therapeutischen Zusammenhang kann sie zur inneren Distanz beitragen. In Psychose-Seminaren löst das Modell eher Erstaunen und Ernüchterung aus: „Dünnhäutige Menschen kommen schneller in Krisen … und das ist euer ganzes Wissen? Und warum braucht ihr dafür so umständliche Worte?“ Entscheidend ist wie pathologisch/anthropologisch wir die besondere Empfindsamkeit und Grenzenlosigkeit eines Menschen verstehen [4].

Krankheitseinsicht oder Sinnbedürfnis?

Psychoedukation will Krankheitseinsicht vermitteln. Doch was ist damit gemeint? Wer nimmt Einsicht und in was? Welche Einsicht steckt dahinter, wenn jemand sagen kann „Ich habe F20“? Klar hilft es manchmal und manchem, wenn das Kind einen Namen hat (Rumpelstilzchen-Effekt). Aber entscheidend ist, ob es gelingt, den eigenen inneren Bezug zu wahren und zu fördern. Die abstrakte Definition einer nach außen verlagerten allgemeinen Erkrankung birgt die Gefahr, dass die Entfremdung verstärkt, die Aneignung der Erfahrung erschwert, also Kohäsion behindert wird. Das Hamburger SuSi-Projekt konnte zeigen, dass die überwiegende Mehrzahl (fast 80 %) der Psychosepatienten ein Sinnbedürfnis haben; d. h. sie bringen die eigenen Lebenserfahrungen und den individuellen Weg in die Psychose in Verbindung. Diese Haltung geht mit einer positiveren Einstellung zu Erkrankung und mit mehr Zuversicht in die Zukunft einher [5]. Menschen mit einem engen Krankheitskonzept haben ein höheres Depressions- und Suizidrisiko, solche mit „idiosynkratischen“, also eigensinnigen Konzepten mehr Lebensqualität [6]. Insofern ist es eher unsere Aufgabe, „Einsicht“ zu nehmen, warum ein bestimmter Mensch mit einer bestimmten Vorgeschichte in einer konkreten Situation psychotisch, depressiv oder manisch wird.

Einseitige Compliance oder Ringen um Kooperation

Psychoedukation will Compliance verbessern und meint damit v. a. die Bereitschaft zur Medikation. Suggeriert wird ein einseitiger Prozess. Der Patient soll den Spielregeln des Arztes folgen. Manche Patienten erleben das wie ein Unterwerfungsritual. Bei einer Störung, für die das Ringen um Autonomie und Individuation wesentlich ist, kann das der Weisheit letzter Schluss nicht sein [7]. Wie ist es um unsere Compliance bestellt? Kooperation ist das Ergebnis gemeinsamer Anstrengungen. Sie funktioniert nur auf Augenhöhe und braucht Zeit. Wir müssen bereit sein, uns auf den anderen einzulassen, Umwege zu gehen, damit Vertrauen wachsen kann. Die dafür notwendige Flexibilität und Kontinuität wird strukturell ständig behindert.

Alternativen und Perspektiven

Psychoseseminare und Trialogforen eröffnen einen anderen Sprachraum, eine andere Form der Begegnung als Experten durch Erfahrung bzw. Ausbildung und Beruf. Wechselseitige Fragen und Lernprozesse stehen im Vordergrund. Es geht um die Vielfalt des Geschehens, nicht um Standardantworten. Subjektive Perspektiven stehen nebeneinander; die Triangulierung bereichert alle. Psychoseseminare/Trialogforen ermöglichen eine aktive Krankheitsbewältigung, unterstützen Empowerment und Recovery-orientierte Prozesse – beim Einzelnen und in der Gruppe [5] [8].

Peerberater als Genesungsbegleiter erreichen auch eigensinnige Patienten und haben bei Menschen mit langfristigen psychischen Störungen eine gute Resonanz und eine mehrfache Wirkung hinsichtlich Lebensqualität, Selbstwirksamkeit, aber auch Rehospitalisierungsrate. Die Behandlungstreue wächst, aber mit gestärktem Selbstverständnis und tendenziell ohne Autonomieverlust [9]. Die Ergebnisse der randomisierten Studie des Hamburger Psychenet-Peer-Projektes (www.psychenet.de) dazu werden mit Spannung erwartet. Peergestützte Recovery-Gruppen wären in jedem Fall eine gute Alternative zur Psychoedukation, ein wissenschaftlicher Vergleich spannend.

Schlussfolgerung

„Wenn ich psychotisch werde, möchte ich in meiner Gewordenheit verstanden, in meinen So-Sein respektiert und in meiner Zukunftsperspektive ermutigt werden.“ Dieses Zitat von Gwen Schulz [10] verdeutlicht Wünsche an Psychotherapie und prägt zugleich das Selbstverständnis von Peerberatung. Information alleine ist zuwenig. Psychoedukation ist ein überholtes Konzept, wenn sie paternalistisch reduziert wird. Notwendig zu berücksichtigen sind die anthropologischen Aspekte psychischer Erkrankungen [4], die Vielfalt hinter den Diagnosen sowie die besonderen Aspekte der Genesung. Die Beteiligung der Angehörigen und die Wertschätzung der subjektiven Perspektive sollten Qualitätskriterien werden. Dann ist die Psychoedukation auf dem Weg zum Trialog und die paternalistische Haltung ist überholt.


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Thomas Bock

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Kolja Heumann

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  • Literatur

  • 1 National Institute for Health and care Excellence (NICE). Psychosis and schizophrenia in adults: treatment and management. 2014. Erhältlich unter: http://www.nice.org.uk/nicemedia/pdf/CG82NICEGuideline.pdf
  • 2 Schmidt F. Nutzen und Risiken psychoedukativer Interventionen für die Krankheitsbewältigung bei schizophrenen Erkrankungen. Köln: Psychiatrie-Verlag; 2013
  • 3 Schomerus G, Schwahn C, Holzinger A et al. Evolution of public attitudes about mental illness: a systematic review and meta-analysis. Acta Psychiatr Scand 2012; 6: 440-452
  • 4 AG der Psychoseseminare. Es ist normal verschieden zu sein. 2007. erhältlich unter www.irremenschlich.de
  • 5 Bock T, Klapheck C, Ruppelt F. Sinnsuche und Genesung. Köln: Psychiatrie-Verlag; 2013
  • 6 Roessler W. Does the place of treatment influence the quality of life of schizophrenics?. Acta Psychiatr Scand 1999; 100: 142-148
  • 7 Bock T. Eigensinn und Psychose – Noncomplaince als Chance. Neumünster: Paranus; 2007
  • 8 Bock T, Priebe S. Psychosis-seminars: An unconventional approach for how users, carers and professionals can learn from each other. Psychiatric Services 2005; 11: 1441-1443
  • 9 Doughty C, Tse S. Can consumer-led mental health services be equally effective? An integrative review of CLMH services in high-income countries. Community mental health Journal 2011; 47: 252-266
  • 10 Schulz G. Spurensuche, Zu-Trauen, Geduld, Übersetzen, Hoffen – mein Wunsch an Psychotherapie. In: von Haebler D, Mentzos S, Lempa G, Hrsg. Psychosenpsychotherapie im Dialog. Band 26. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht; 2012

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. Thomas Bock
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Martinistraße 52
20246 Hamburg
eMail: bock@uke.de

  • Literatur

  • 1 National Institute for Health and care Excellence (NICE). Psychosis and schizophrenia in adults: treatment and management. 2014. Erhältlich unter: http://www.nice.org.uk/nicemedia/pdf/CG82NICEGuideline.pdf
  • 2 Schmidt F. Nutzen und Risiken psychoedukativer Interventionen für die Krankheitsbewältigung bei schizophrenen Erkrankungen. Köln: Psychiatrie-Verlag; 2013
  • 3 Schomerus G, Schwahn C, Holzinger A et al. Evolution of public attitudes about mental illness: a systematic review and meta-analysis. Acta Psychiatr Scand 2012; 6: 440-452
  • 4 AG der Psychoseseminare. Es ist normal verschieden zu sein. 2007. erhältlich unter www.irremenschlich.de
  • 5 Bock T, Klapheck C, Ruppelt F. Sinnsuche und Genesung. Köln: Psychiatrie-Verlag; 2013
  • 6 Roessler W. Does the place of treatment influence the quality of life of schizophrenics?. Acta Psychiatr Scand 1999; 100: 142-148
  • 7 Bock T. Eigensinn und Psychose – Noncomplaince als Chance. Neumünster: Paranus; 2007
  • 8 Bock T, Priebe S. Psychosis-seminars: An unconventional approach for how users, carers and professionals can learn from each other. Psychiatric Services 2005; 11: 1441-1443
  • 9 Doughty C, Tse S. Can consumer-led mental health services be equally effective? An integrative review of CLMH services in high-income countries. Community mental health Journal 2011; 47: 252-266
  • 10 Schulz G. Spurensuche, Zu-Trauen, Geduld, Übersetzen, Hoffen – mein Wunsch an Psychotherapie. In: von Haebler D, Mentzos S, Lempa G, Hrsg. Psychosenpsychotherapie im Dialog. Band 26. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht; 2012

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