Psychiatr Prax 2014; 41(03): 126-127
DOI: 10.1055/s-0034-1369818
Debatte: Pro & Kontra
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Psychose-Risikostadien als eigene Diagnosekategorie – Kontra[*]

Risk States for Psychosis as a Distinct Diagnostic Category – Contra
Richard Warner
1   Colorado Recovery Inc. and University of Colorado, Boulder, Colorado, USA
› Author Affiliations
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Korrespondenzadresse

Prof. Richard Warner, M.B., D.P.M.
University of Colorado and Colorado Recovery Inc.
2818 13th Street
Boulder, Colorado 80304 USA

Publication History

Publication Date:
01 April 2014 (online)

 

Kontra

Viele gute Gründe sprechen gegen eine Einführung von „Psychose-Risikostadien“ als eigener diagnostischer Kategorie in die ICD-11. Dazu zählen unnötige Stigmatisierung und Behandlung, oft mit antipsychotischer Medikation, sowie die hohen Kosten von Screenings in großen Populationen [1] [2]. Das Hauptargument wird jedoch häufig übersehen: ein simpler statistischer Irrtum.


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Bereits vor 250 Jahren entwickelte Grundlagen der Wahrscheinlichkeitstheorie zeigen, dass die vorhandenen Screeningverfahren für Psychoserisiken bei ihrer Ausweitung von der Forschung in die allgemeine Anwendung bestenfalls nutzlos, schlimmstenfalls gefährlich würden. Wer sich ernsthaft für Prävention interessiert, muss folgende statistische Überlegungen verstehen.

Reverend Thomas Bayes starb 1761. Zwei Jahre später wurde das nach ihm benannte Wahrscheinlichkeitstheorem in der Royal Society vorgestellt. Wissenschaftliche Autoritäten des frühen 19. Jahrhunderts hielten es bereits für ebenso wichtig für die Wahrscheinlichkeitstheorie wie den Satz des Pythagoras für die Geometrie [3].

Bayes löste folgendes Problem: Wenn mehrere Personen hinsichtlich eines Merkmals eingeschätzt werden, das eine Erkrankung vorhersagt, dann wird dieses Merkmal bei einigen Personen als vorhanden und bei einigen Personen als nicht vorhanden gewertet werden. Dann werden einige Personen die Krankheit entwickeln, und einige werden sie nicht bekommen. Dies zeigt [Tab. 1]. Ein guter Screeningtest identifiziert viele Personen, deren Test positiv ausfällt und die auch die Krankheit entwickeln (a in [Tab. 1]), und produziert nur eine kleine Anzahl falsch negativer Fälle (c). In ähnlicher Weise sollten viele Personen, die die Krankheit nicht bekommen, ein negatives Testergebnis haben (d), und nur wenige der später Nichterkrankten sollten ein positives Testergebnis gehabt haben (b).

Tab. 1

Aufbau des Bayes-Theorems.

entwickelt Psychose

Screeningtest

ja

nein

total

positiv

a

b

a + b

negativ

c

d

c + d

total

a + c

b + d

a + b + c + d

Maße für die Exaktheit des Tests sind seine Sensitivität a/(a + c) und Spezifität d/(b + d). Diese Maße sind Merkmale des Screeninginstruments und ändern sich nicht bei Anwendung an anderen Screeningpopulationen. In der Forschung wird allerdings häufig anstelle dieser Kennzahlen der positive Vorhersagewert (positive predictive value, PPV), nämlich der Anteil der positiv getesteten Personen, die später die Erkrankung entwickeln, dargestellt: a/(a + b). Dieser Wert allerdings hängt von der untersuchten Population ab [4].

Das Bayes-Theorem lehrt, dass die Vorhersagekraft eines Instruments von drei Faktoren abhängt: (1) der Sensitivität des Instruments, (2) seiner Spezifität und (3) der Häufigkeit des Auftretens dieser Störung in der zu untersuchenden Population. Dieser dritte Faktor wird auf dem Gebiet der Psychoseprävention häufig vernachlässigt [4]. Dazu ein Beispiel:

Die Bonn Scale for the Assessment of Basic Symptoms – BSABS [5] ist einer der Screeningtests, die gegenwärtig als Messinstrument zur Identifizierung von Risikostadien für Psychosen angepriesen werden. In einer klinischen Stichprobe von 160 Patienten, die mit diesem Instrument untersucht wurden ([Tab. 2]), entwickelte beinahe die Hälfe (79 Personen) innerhalb der nächsten 10 Jahre eine Schizophrenie – eine sehr hohe Inzidenz. Die Rate falsch negativer Fälle war niedrig (Sensitivität 0,98), aber die Rate falsch positiver Fälle war relativ hoch (Spezifität 0,59). Aufgrund der niedrigen Rate falsch negativer Fälle folgern die Autoren, dass das Instrument für die „breite Identifikation von Risikopersonen in der Allgemeinbevölkerung anwendbar“ sei (S. 163). Ist dieser Schluss tatsächlich richtig?

Tab. 2

Daten der Bonn Scale for the Assessment of Basic Symptoms – BSABS [5].

entwickelt Psychose

Screeningtest

ja

nein

total

positiv

77

33

110

negativ

2

48

50

total

79

81

160

Die gesamten Daten der Studie mit der Bonn-Skala zeigt [Tab. 2]. Nur zwei falsch negative, aber 33 falsch positive Fälle wurden identifiziert. Bei dieser psychiatrischen Ambulanzstichprobe lag der positive Vorhersagewert bei 77/110 = 70 %. Aber was passiert, wenn man den Test in einer unausgelesenen Population anwendet ?

Würde man das Screeninginstrument in einer Allgemeinbevölkerung mit 10 000 Personen einsetzen, in der die 10-Jahres-Inzidenz 1 % beträgt, und dabei die Sensitivitäts- und Spezifitätswerte der Bonn-Skala verwenden, dann läge der positive Vorhersagewert nicht mehr bei 70 %, sondern bei 98 /4157, also 2 % ([Tab. 3]). Das heißt, dass man bei 98 % der positiv für ein Psychoserisiko getesteten Screeningpersonen falsch läge.

Tab. 3

BSABS-Anwendung in der Allgemeinbevölkerung bei n = 10 000 mit einer 10-Jahres-Inzidenz der Erkrankung von 1 %.

entwickelt Psychose

Screeningtest

ja

nein

total

positiv

98

4,059

4,157

negativ

2

5,841

5,843

total

100

9,900

10,000

In geringem Maße entstünde das gleiche Problem, wenn das Instrument in klinischen Populationen benutzt würde, in denen die Schizophrenierate zwar höher ist als in der Allgemeinbevölkerung, aber nicht so hoch wie in den ausgewählten Forschungsstichproben, bei denen die Präventionsdiagnostika entwickelt wurden. Wiederholt wurde auf eine Beobachtung hingewiesen, die durch den genannten Aspekt der Bayes-Theorie erklärt wird: Während die ersten Früherkennungsstudien Prädiktionsraten von etwa 40 % erzielten, waren die Ergebnisse späterer Studien variabler [6] und insgesamt deutlich niedriger. In einigen prospektiven Langzeitstudien lagen sie nahe 20 % [7]. Diese Beobachtung entspricht genau der Erwartung des Bayes-Theorems, wenn die späteren Studien weniger enge Einschlusskriterien verwenden. Allerdings habe nur wenige Untersucher dabei den Satz von Bayes berücksichtigt.

Hier wird es nun gefährlich, wenn eine psychiatrische Diagnosekategorie „Psychose-Risikostadium“ eingeführt würde, die auf der Prämisse beruht, dass man exakt vorhersagen könne, wer ein Risiko trägt. Wahrscheinlich würde das Risikostadium anhand nachgewiesener abgeschwächter Positiv- und Negativsymptome der Psychose definiert – Symptome, die in der Allgemeinbevölkerung nicht ungewöhnlich sind [7] und häufig spontan remittieren [8]. Falls diese Diagnosekategorie Eingang in ICD-11 fände, sähen sich viele Ärzte ermutigt, bei vielen ihrer Patienten ein hohes Psychoserisiko anzunehmen. Diese Diagnosekategorie würde dazu verleiten, Patienten und Angehörige vor einer ängstigenden, lähmenden Eventualität zu warnen, obwohl das tatsächliche Risiko vernachlässigbar klein ist. Alle, die sich an das hippokratische Motto halten „Vor allem, schade nicht!“, müssen davor zurückschrecken.

Man braucht kein statistisches Spezialwissen zu haben, um das Bayes-Theorem zu verstehen. Dennoch gibt es viele Forscher, die davon träumen, Psychosen zu verhindern, und dabei übersehen, wie es um die Möglichkeit der Prädiktion tatsächlich bestellt ist. Ein bekannter Autor argumentierte z. B. 2008 in einem Beitrag über Schizophrenieprävention [9]: „Inzwischen liegen 11 relevante und reliable, nationale und internationale Früherkennungsstudien vor. Demnach kann der Ausbruch einer ersten psychotischen Episode innerhalb der folgenden 12 Monate bei 40 % der betroffenen Patienten erwartet werden, wenn diese UHR [ultra-high-risk] Kriterien erfüllt sind. Da die jährliche Inzidenz aller Psychoseformen in der Allgemeinbevölkerung nur etwa 0,034 % beträgt, stellt dies einen hochdramatischen Anstieg des relativen Risikos der Erkrankung dar“ (S. 536).

Dieser Autor übersieht, dass die Vorhersagegenauigkeit von 40 % in einer ausgewählten Stichprobe im klinischen Forschungssetting erzielt wurde. In der Allgemeinbevölkerung mit einer jährlichen Inzidenz unter 0,04 % läge die Vorhersagegüte dieser Instrumente wahrscheinlich unter 1 % und nicht bei 40 %, wie er unterstellt.

Als Gutachter von Forschungspublikationen wird man manchmal gefragt, ob man eine zusätzliche statistische Beurteilung der Arbeit empfiehlt. Dies hier ist kein Review eines Aufsatzes, aber ich empfehle eine statistische Beratung, wenn man ein „Psychose-Risikostadium“ als Diagnosekategorie empfehlen will. Statistische Aspekte nicht zu berücksichtigen, wäre hier fatal.


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Richard Warner

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* Die Übersetzung dieses Beitrags erfolgte durch Herrn Prof. Martin Hambrecht, Darmstadt.


  • Literatur

  • 1 Ruhrmann S, Schultze-Lutter F, Maier W et al. Pharmacological intervention in the initial prodromal phase of psychosis. European Psychiatry 2005; 20: 1-6
  • 2 Warner R. Problems with early and very early intervention in psychosis. British Journal of Psychiatry 2005; 187: s104-107
  • 3 Jeffries H. Scientific Inference. 3rd. ed. Cambridge: University Press; 1973: 31
  • 4 Everitt BS. Chance Rules: An Informal Guide to Probability, Risk and Statistics. New York: Copernicus; 1999
  • 5 Klosterkötter J, Hellmich M, Steinmeyer EM et al. DiagNeinsing schizophrenia in the initial prodromal phase. Archives of General Psychiatry 2001; 58: 158-164
  • 6 Ruhrmann S, Schultze-Lutter F, Klosterkötter J. Probably at-risk, but certainly ill – advocating for the introduction of a psychosis spectrum disorder in DSM-V. Schizophrenia Research 2010; 120: 23-37
  • 7 Shrivastava A, McGorry PD, Tsuang M et al. “Attenuated psychotic symptoms syndrome” as a risk syndrome of psychosis, diagNeinsis in DSM-V: the debate. Indian Journal of Psychiatry 2011; 53: 57-65
  • 8 Addington J, Cornblatt BA, Cadenhead KS et al. At clinical high risk for psychosis: outcome for non-converters. American Journal of Psychiatry 2011; 168: 800-805
  • 9 Klosterkötter J. Indicated prevention of schizophrenia. Deutsches Ärzteblatt International 2008; 105: 532-539

Korrespondenzadresse

Prof. Richard Warner, M.B., D.P.M.
University of Colorado and Colorado Recovery Inc.
2818 13th Street
Boulder, Colorado 80304 USA

  • Literatur

  • 1 Ruhrmann S, Schultze-Lutter F, Maier W et al. Pharmacological intervention in the initial prodromal phase of psychosis. European Psychiatry 2005; 20: 1-6
  • 2 Warner R. Problems with early and very early intervention in psychosis. British Journal of Psychiatry 2005; 187: s104-107
  • 3 Jeffries H. Scientific Inference. 3rd. ed. Cambridge: University Press; 1973: 31
  • 4 Everitt BS. Chance Rules: An Informal Guide to Probability, Risk and Statistics. New York: Copernicus; 1999
  • 5 Klosterkötter J, Hellmich M, Steinmeyer EM et al. DiagNeinsing schizophrenia in the initial prodromal phase. Archives of General Psychiatry 2001; 58: 158-164
  • 6 Ruhrmann S, Schultze-Lutter F, Klosterkötter J. Probably at-risk, but certainly ill – advocating for the introduction of a psychosis spectrum disorder in DSM-V. Schizophrenia Research 2010; 120: 23-37
  • 7 Shrivastava A, McGorry PD, Tsuang M et al. “Attenuated psychotic symptoms syndrome” as a risk syndrome of psychosis, diagNeinsis in DSM-V: the debate. Indian Journal of Psychiatry 2011; 53: 57-65
  • 8 Addington J, Cornblatt BA, Cadenhead KS et al. At clinical high risk for psychosis: outcome for non-converters. American Journal of Psychiatry 2011; 168: 800-805
  • 9 Klosterkötter J. Indicated prevention of schizophrenia. Deutsches Ärzteblatt International 2008; 105: 532-539

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