Der Wiener Entwicklungstest (WET) ist ein allgemeiner Entwicklungstest für drei- bis sechsjährige Kinder. Er wurde 1998 konzipiert und ist beim Hogrefe Verlag und unter www.testzentrale.de in dritter Auflage erhältlich [1–4]. Material, Aufgabenstellung und Testsituation haben einen spielerischen Charakter. So ist das Kind motiviert und bleibt lange aufmerksam. Viele der 14 Subtests enthalten Aufgaben, die an Spielprinzipien wie dem Bilderlotto angelehnt sind.
Entwicklungsdefizite rechtzeitig erfassen und behandeln
Entwicklungsdefizite rechtzeitig erfassen und behandeln
Ergotherapeuten können mittels WET Entwicklungsdefizite erfassen und behandeln. Die aktuelle Auflage umfasst die Funktionsbereiche
Tab.
Überblick über die Funktionsbereiche und Subtests des WET
Funktionsbereiche
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Subtests
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Überprüfte Fähigkeiten
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Motorik
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> Turnen > Lernbär
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> Grobmotorik > Feinmotorik
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Visuelle Wahrnehmung und Visumotorik
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> Nachzeichnen > Bilderlotto
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> Grafomotorik > visuell-räumliche Differenzierungsfähigkeit
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Lernen und Gedächtnis
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> Schatzkästchen > Zahlen merken
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> visuell-räumliches Gedächtnis > phonologisches Gedächtnis
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Kognitive Entwicklung
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> Muster legen > bunte Formen > Gegensätze > Quiz > Rechnen
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> räumliches Denken > induktives Denken > analoges Denken > Orientierung in der Lebenswelt > mathematische Fähigkeiten
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Sprache
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> Wörter erklären > Puppenspiel
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> Begriffsbildung > Verständnis grammatikalischer Strukturen
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Sozial-emotionale Entwicklung
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> Fotoalbum
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> Emotionswissen
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Im Funktionsbereich Motorik überprüft die Therapeutin die grobmotorische Geschicklichkeit sowie die feinmotorischen Fähigkeiten. Der Bereich visuelle Wahrnehmung und Visumototik enthält Aufgaben, um die differenzierte Raum-Lage-Wahrnehmung zu erfassen, sowie einen grafomotorischen Untertest. Die Subtests des Funktionsbereichs Lernen und Gedächtnis überprüfen das visuell-räumliche Gedächtnis und das phonologische Gedächtnis, welches für den späteren Schriftspracherwerb relevant ist.
Mit dem WET kann man außerdem besonders ausführlich die kognitiven und sprachlichen Entwicklungskompetenzen überprüfen. Sprachunabhängig lässt sich das räumliche und das logischschlussfolgernde Denken mit den Subtests „Muster legen“ und „bunte Formen“ erfassen. Im Rahmen der sprachlichen Denkfähigkeit analysiert die Ergotherapeutin das analoge Denken, die Orientierung des Kindes in seiner Lebenswelt und die mathematischen Fähigkeiten. Mit dem Subtest „Wörter erklären“ misst sie Wortschatz und sprachliche Begriffsbildung, mit dem „Puppenspiel“ überprüft sie das Sprachverständnis. Das Emotionswissen als wesentlichen Bestandteil der sozial-emotionalen Entwicklung im Kindergartenalter erfasst die Therapeutin mit dem Subtest „Fotoalbum“ (Tab.).
Ein Elternfragebogen gibt zusätzlich Auskunft über die Selbstständigkeitsentwicklung des Kindes aus der Sicht der Eltern.
Ein Entwicklungsprofil erstellen
Ein Entwicklungsprofil erstellen
Die Durchführung des gesamten Tests dauert etwa 90 Minuten. Bei jüngeren oder deutlich entwicklungsretardierten Kindern empfiehlt es sich, die Testung auf zwei Termine aufzuteilen. Das Kind sollte ausgeruht sein und seine primären Bedürfnisse befriedigt haben. Die Testleiterin muss mit den Instruktionen sehr gut vertraut sein. Darin erfährt sie, welche Hilfestellungen sie geben darf, zum Beispiel Vorzeigen und Nachfragen. Darüber hinaus benötigt sie Erfahrung im Umgang mit der Altersgruppe der Drei- bis Sechsjährigen. Um einen guten Beziehungsaufbau zu gewährleisten, ist in der Regel die Begleitperson des Kindes bei Testbeginn anwesend. Bei jüngeren Kindern kann die Bezugsperson auch durchgehend anwesend sein. Allerdings darf sie sich nicht in die Bearbeitung der Aufgaben einmischen.
Die Testleiterin gestaltet die Testsituation angenehm und motivierend, damit das Kind die präsentierten Aufgaben als Spielangebote annimmt. Auf diese Weise stellt die Therapeutin fest, über welche Kompetenzen das Kind bereits verfügt und welche Anforderungen es noch nicht bewältigen kann.
Im Ergebnis liefert der WET ein Entwicklungsprofil über alle Subtests – geordnet nach Funktionsbereichen. Optional kann man einen Gesamtentwicklungsscore berechnen sowie den sogenannten „Range“. Dieser gibt Auskunft darüber, ob die Entwicklung des Kindes in den verschiedenen Bereichen homogen oder eher heterogen verläuft. Diese Informationen benötigt die Therapeutin, um die Interventionen zu planen.
Schulfähigkeit und Entwicklung einschätzen
Schulfähigkeit und Entwicklung einschätzen
Der WET ermöglicht einen Einblick in die Stärken und Schwächen des Kindes. Für die Interventionsplanung ist es wesentlich, neben den Problemen eines Kindes auch seine Ressourcen zu kennen. Die abwechslungsreiche Gestaltung des WET stellt sicher, dass die Kinder in der Testsituation nicht nur mit ihren Defiziten konfrontiert sind, sondern auch Aufgaben präsentiert bekommen, die sie aufgrund ihrer Stärken lösen können. Sprachliche Defizite, Probleme in der visuellen Wahrnehmung und Visumotorik, grob- und feinmotorische Schwierigkeiten sowie kognitive Beeinträchtigungen können mit dem Wiener Entwicklungstest besonders gut diagnostiziert werden. Bei Vorschulkindern liefert das WET-Profil auch aufschlussreiche Informationen über die Schulfähigkeit.
Als förderdiagnostisches Verfahren misst der WET im unteren Leistungsbereich genauer als im oberen. Dennoch geben Testleistungen im weit überdurchschnittlichen Bereich Hinweise auf eine mögliche Hochbegabung [5–8].
Zuverlässig und valide
Der WET wurde an einer umfangreichen Stichprobe von 1.245 deutschen und österreichischen Kindern normiert, die nach regionaler Herkunft, sozioökonomischem Hintergrund, Alter und Geschlecht der Kinder repräsentativ für die Altersgruppe drei bis sechs Jahre ist. Für die dritte Auflage wurde eine weitere repräsentative deutsch-österreichische Stichprobe von 385 Kindern erhoben und damit die Gültigkeit der Normen der zweiten Auflage überprüft. Diese Auflage weist außerdem umfangreiche Belege für die Validität des WET auf.
Der Großteil der Subtests misst eindimensional im Sinne des Rasch-Modells. Ergänzend wurden auch klassische Testgütekriterien berechnet. Die Reliabilitätskoeffizienten der Subtests liegen zumeist über .80. Das heißt, die Fähigkeiten des Kindes werden mit guter bis sehr guter Zuverlässigkeit erfasst.
Für sämtliche Subtests konnte nachgewiesen werden, dass die Testleistungen mit dem Alter der Kinder ansteigen. Damit ist gewährleistet, dass ein alterskorrelierter Kompetenzzuwachs abgebildet wird. Darüber hinaus wurden störungsspezifische Entwicklungsprofile für Kinder mit Downsyndrom, für Kinder mit frühkindlichem Autismus und für Frühgeborene mit einem sehr geringen Geburtsgewicht ermittelt. Kinder mit serbisch-kroatischem oder türkischem Migrationshintergrund erreichen – bei einer unauffälligen sonstigen Entwicklung – in den sprachlichen Subtests erwartungsgemäß deutlich schlechtere Ergebnisse als die Normierungsstichprobe.
Man kann den WET bei allen diagnostischen Fragestellungen einsetzen, bei denen die Abklärung von Entwicklungsdefiziten im Vordergrund steht. Besonders gut eignet er sich für die Prognose der Schulfähigkeit. So lassen sich aus den Subtests kognitive Leistungen und Wahrnehmungsfähigkeiten im Schulalter ebenso vorhersagen wie ein schulischer Förderbedarf.