Z Orthop Unfall 2013; 151(04): 325-327
DOI: 10.1055/s-0033-1354797
Orthopädie und Unfallchirurgie aktuell
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Interview – "P4P sinnvoll nur auf einer Systemebene"

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Publication Date:
27 August 2013 (online)

 

Der Pharmazeut Helmut Hildebrandt, (Jahrgang 1954) ist seit 2005 Geschäftsführer der Gesundes Kinzigtal GmbH. Diese ist Vertragspartner von Kassen für ein Projekt der Integrierten Versorgung, das quasi als "Klassiker" hierzulande ein Saved Sharing als P4P-Konzept umsetzt. Hildebrandt gilt als einer der Protagonisten für eine sektorübergreifende Integrierte Versorgung in Deutschland. Er war von 1999 bis 2000 Berater der damaligen Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer und gilt als einer der Initiatoren der Öffnung im SGBV, die solche Verträge überhaupt erst möglich machte.

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(© OptiMedis AG)

Das Projekt "Gesundes Kinzigtal" war hierzulande mit das erste, bei dem sich Ärzte und Krankenkassen Einsparungen teilten. Diese werden durch bessere Versorgung und Prävention der Teilnehmer erwirtschaftet. Helmut Hildebrandt, einer, wenn nicht der Architekt des Konzepts, gibt eine Zwischenbilanz.

? Wie viele Teilnehmer hat das Projekt Gesundes Kinzigtal heute [ 1 ] ?

Insgesamt leben knapp 71.000 Bewohner im Kinzigtal, wovon 31.000 bei der AOKund LKK Baden-Württemberg versichert sind. Von denen sind gut 9.400 Versicherte im Projekt dabei. Das ist bald jeder 3. Versicherte dieser beiden Kassen im Kinzigtal.

? Wer sich einschreibt, erhält, vereinfacht gesagt, ein Programm zu mehr Vorbeugung und gesünderen Lebensweise. Ziel ist, dass die Kasse deswegen am Ende für diese Versicherten weniger Ausgaben hat. Einen Teil der Einsparungen reicht diese an Ihre GmbH weiter, und davon leben sie, richtig?

So in etwa, ja. Hinter der Managementgesellschaft Gesundes Kinzigtal stehen als Gesellschafter ein Ärztenetz im Kinzigtal und die Optimedis AG. Wir investieren dafür, dass die Teilnehmer Medizin weniger als Reparaturbetrieb denn als Vorbeugung verstehen und leben. Wenn dieses Investment dazu führt, dass Gesamtversorgungskosten verringert werden, bekommen wir im Nachhinein von der Krankenkasse einen Teil des Erfolgs.

? Das heißt im Fachjargon Einsparcontracting oder Shared Savings?

Ja. Am Ende ist es ein Gewinn für beide Seiten und nicht zuletzt für die Patienten.

? Das Projekt läuft seit 2006, bis heute machen 2 Kassen mit, die AOK und die LKK. Anderen Versicherten steht das Projekt nicht offen …

Nein, auch andere Kassen können seit Mitte 2012 mitmachen. Wir stehen bereits in Verhandlungen mit anderen Krankenkassen, deren Versicherte schon heute einige unserer Leistungen kostenlos mitnutzen können.

? Wie funktioniert die Rechnung im Projekt? Rechnet die AOK am Jahresende aus, wie teuer ihre Versicherten bei Gesundes Kinzigtal im Vergleich zum Bundesdurchschnitt waren?

Wir schauen für ein ganzes Jahr, wie das Verhältnis der Einnahmen der Krankenkasse zu den Ausgaben für die Gesamtzahl der Versicherten der Kasse im Kinzigtal ist. Die Einnahmen erhält die Kasse über den Gesundheitsfonds, kalkuliert mit dem Risikostrukturausgleich (RSA), dem Morbi-RSA.

? Und wie kommt der Vergleich zustande, mit dem Sie Einsparungen nachweisen wollen?

Das Rechenergebnis für jedes Jahr setzen wir ins Verhältnis zu einer Rechnung für ein Basisjahr.

? Basisjahr?

Das waren gemittelte Werte von 2004 bis 2006. Rein rechnerisch fand sich für dieses Basisjahr ein Überschuss für die AOK aus den Einnahmen und den Ausgaben, den wir dann in Prozent umgerechnet haben. Das waren damals etwa 1,5 % Deckungsbetrag.
Grundlage des Vertrags ist jetzt: In jedem Jahr bleibt ein Überschuss bis zu dieser Höhe komplett bei der AOK. Wenn wir hingegen zum Beispiel im Jahr 2013 auf einen Überschuss von 5 % kämen, dann stehen die restlichen 3,5 % als Einsparsumme an. Die werden in Euro umgerechnet und zwischen den Partnern verteilt.

? Rechnen Sie das aus oder macht das die Kasse?

Beide Seiten machen ihre Kalkulation – auch wir, denn die Kassen stellen uns ihre Daten dafür pseudonymisiert zur Verfügung.

? Seit wann bekommen Sie konkret Geld aus dem Projekt?

Von der AOK seit der 2. Hälfte des Jahres 2007. Vorher haben wir eine Startfinanzierung erhalten.

? Und das Rechenexempel machen Sie mit der LKK genauso.

Ein bisschen anders, denn diese Kasse ist nicht im Gesundheitsfonds.

? Wie viel verdienen Sie in einem guten Jahr?

Summen möchte ich nicht nennen. Das Projekt ist aber wirtschaftlich aufgestellt.

? Es gab nie Streit über die Abrechnung?

Es gibt Herausforderungen. Trotzdem haben wir eine gute Zusammenarbeit, am Ende einigen wir uns immer.

? Wie erhalten die Ärzte ihr Geld, alles über separate Vergütung im Vertrag?

Nein. Der Arzt kriegt ganz normal seine KV-Vergütung. Von uns gibt es nur die Extra-Honorierung für die gemeinsam entwickelten zusätzlichen Leistungen im Projekt.

? Hat sich das Projekt bislang jedes Jahr gerechnet?

Es gab jedes Jahr Auszahlungen an uns durch die Kassen.

? Was ist, wenn die Kasse feststellen würde, wir müssen im Kinzigtal drauflegen, die Versorgung der Teilnehmer im Projekt ist teurer?

Dann hat sie eine Kündigungsoption.

? Bei Verlusten selber drauflegen müssten Sie nicht, es gibt keinen Malus?

Nein. Null würde uns allerdings bereits sehr treffen. Wir hätten das Geld ja bereits ausgegeben für das laufende Jahr.

? Fürchten Sie diese Möglichkeit?

Das begleitet einen natürlich, aber dafür bin ich Unternehmer.

? Es gibt derweil eine Reihe von Veröffentlichungen zum medizinischen Nutzen für die Teilnehmer, die aber meistens von Ihnen selber sind, von der Optimedis AG. Wo bleibt die externe Qualitätssicherung?

Wir lassen das Projekt – obwohl vom Gesetzgeber nicht vorgeschrieben – von Beginn an umfangreich wissenschaftlich evaluieren. Die Universität Freiburg ist die Organisatorin der Externen Qualitätssicherung [ 2 ]. Bisher reichen dort die Auswertungen aber erst in die Startphase bis 2009, was sehr früh ist. Wir rechnen für Ende dieses Jahres mit einer externen Auswertung, die dann bis in das Jahr 2011 reicht.

? Ein Blick auf Ihre eigenen Zahlen. Oktober 2012 legte Optimedis Daten vor, nach denen Teilnehmer im Projekt um 1,4 Jahre länger leben sollen als Nicht-Teilnehmer [ 3 ] . Das hört sich ein bisschen zu gut an. So schnell, nach wenigen Jahren?

Dabei ist das gar nicht so ungewöhnlich. Ähnliche Größenordnungen finden Sie auch in einer unlängst veröffentlichten amerikanischen Studie. Da sehen Sie, dass jene, die sich mehr bewegen, eine um drei Jahre höhere Lebenserwartung haben [ 4 ].

? Sie legen aber keine kontrollierte Studie vor. Sie haben vielmehr im Nachhinein knapp 4.600 Teilnehmer aus dem Projekt mit einer theoretisch ermittelten, möglichst ähnlichen Gruppe Nicht-Teilnehmer aus dem Datensatz der AOK verglichen?

Richtig. Wir haben dabei aber das für solch eine Untersuchung bestmögliche Verfahren gewählt. Ein so genanntes Propensity Score Matching.

? Dabei bleiben doch aber viele Fragen offen. So lange die Teilnahme an einem Projekt freiwillig ist, kann es sein, dass Sie nur die Ergebnisse von Rosinenpickerei sehen. Sie haben in ihrem Projekt die Menschen dabei, die sich ohnehin schon gesundheitlich engagieren.

Es gibt Argumente, die gegen diesen Effekt sprechen. Wir hatten in unserer Auswertung die Versicherten, die zwischen 2007 und 2009 eingeschrieben waren. Wir wissen, dass damals 90 % aller Patienten aus den Hausarztpraxen sich auch in das Projekt eingeschrieben haben. Es ist also nicht zu erwarten, dass in der Studie nur Patienten dabei sind, die insgesamt gesünder waren. Darüber hinaus sprachen für unser Studiendesign, dass wir damit die tatsächliche Versorgungsrealität abbilden konnten. Mit einer kontrollierten randomisierten Studie hätten wir das nicht machen können. Zudem sprachen ethische Gründe für unser Studiendesign, da wir allen, die dies wollten, den Zugang in das Projekt ermöglichten – bei einer kontrollierten Studie wäre dies nicht möglich gewesen.

? Sie berichteten im Mai 2013 auch über große Erfolge bei der Osteoporoseprävention beim Programm "Starke Muskeln – feste Knochen". Sie werten dafür Daten von 410 Teilnehmern aus, und setzen wieder gematchte 410 andere Nicht-Teilnehmer dagegen. Danach hat sich hier seit Ende 2007 binnen 2 Jahren die Frakturrate bei den Teilnehmerinnen glatt halbiert. Binnen so kurzer Zeit?

Ja, von den 410 Programmteilnehmern, die mindestens 2 Jahre in das Programm eingeschrieben waren, hatten nach zwei Jahren nur 1,2 % eine Fraktur, die stationär behandelt werden musste. Bei den Nicht-Teilnehmern waren es im gleichen Zeitraum 2,4 %. Also doppelt so viele.

? Und wie sah es in beiden Gruppen zu Beginn des Projekts aus? Filtern Sie hier womöglich nur die besonders Gesunden heraus?

Nein. Der Anteil der Menschen mit Frakturen war vor Beginn der Intervention in beiden Gruppen identisch. Wir haben auch gar kein Interesse daran, die besonders Fitten und noch Gesunden als Teilnehmer zu gewinnen. Das Gegenteil ist der Fall. Wir möchten gerade, dass sich die besonders kranken Versicherten bei uns einschreiben. Ziel des Projekts und damit von uns ist es, die medizinische Versorgung und die Prävention zu verbessern, somit auch langfristig Kosten zu senken. Damit ist klar, dass wir uns gerade um die besonders morbiden Patienten kümmern möchten.

? Warum ist das Projekt kein Exportschlager geworden, wenn Sie solche Erfolge haben?

Nun, es gibt mittlerweile an die 15–20 Ärztenetze im Bundesgebiet, die solche Konzepte zumindest diskutieren. Wir haben jetzt sogar Anfragen aus den Niederlanden.
Andererseits bleiben Hürden. So ist das Bild von IV in den Köpfen der Krankenkassen nach wie vor von der Vorstellung dominiert, dass das eine komplizierte Sache ist. Auch wenn das bei unserem Modell eben nicht zutrifft, färbt dieses negative Bild sicher auf uns ab. Es gibt noch eine Hürde. Von 2004–2008 gab es für uns von der AOK 1 % Anschubfinanzierung, die damals im Rahmen von Verträgen zur Integrierten Versorgung möglich war. Heute geht das nicht mehr. Diese Möglichkeit muss der Gesetzgeber wieder einrichten, denn für solch ein Projekt haben sie zu Beginn Kosten, unter anderem für die Infrastruktur.

? Trägt sich das nicht aus Ihrem Gewinn im Projekt?

Zu Beginn gibt es den nicht. Bis die Effekte sich einstellen und auch die Daten vorliegen, die das beweisen, müssen Sie schon mit mindestens 2 Jahren rechnen. Und die Banken tun sich mit diesem für sie ungewöhnlichen Modell auch schwer, wenn man dort um einen Kredit anfragt.

? Wie wichtig ist das P4P für das Gelingen des Projekts? Können sich engagierte Mediziner nicht auch so für mehr Prävention und Patientenbeteiligung engagieren – ohne Extra-Geld?

Für das Thema halte ich diesen monetären Anreiz für zwingend notwendig. Wir brauchen Zusatzmittel, um das Versorgungsnetz aufzubauen und zu unterhalten – und da bietet sich unser Shared Saving- Modell an. Ich werbe hier dezidiert für P4P für ein Netzwerk. P4P für den einzelnen Arzt oder für das einzelne Krankenhaus, je nach Abschneiden bei einigen Qualitätsparametern, sehe ich hingegen zurückhaltend bis kritisch.

? Wieso?

Es ist enorm kompliziert, auf dieser Einzelebene überhaupt objektive Qualität ohne Manipulationsmöglichkeiten für die Einzelnen und ohne aufwendige Zusatzdokumentation zu messen. Außerdem brauchen Sie hohe Fallzahlen und gute Morbiditätsadjustierungen, um wirklich sauber Qualitätsunterschiede herauszufinden. Nein, für mehr Qualität brauchen wir vor allem etwas anderes: Alle, die in der Medizin arbeiten, müssen möglichst gute Ergebnisse erreichen wollen, müssen einen gewissen Outcome-Spirit in sich tragen. Das jetzige Vergütungssystem produziert diesen Spirit nicht. Andererseits produziert den auch nicht ein zu simples System mit hochgestaffelten Vergütungen, beispielsweise je nachdem, wie ein einzelnes Krankenhaus oder eine Praxis bei bestimmten Parametern abschneidet.
Daher sollten meiner Meinung nach monetäre Anreize für mehr Qualität in regionale Versorgernetze gegeben werden.

? Klar, Sie wollen die Republik in viele kleine Kinzigtäler aufgeteilt sehen?

(lacht), wäre mein Lieblingswunsch, ja.

? Wenn es so weit ist, haben Sie keinen Benchmark mehr, dann leben ja alle maximal präventiv und gesund?

Na ja, die menschliche Natur lässt mich da etwas zurückhaltend sein, aber wenn, dann werden wir bis dahin andere Vergleichsmethoden entwickelt haben. Da habe ich keine Sorgen.

? Als eine Alternative zu Pay for Performance gilt Public Reporting. Man veröffentlicht Daten zur Qualität der Häuser und Ärzte. So können die Patienten mit den Füßen abstimmen.

Die Wissenschaft ist dazu bisher geteilter Meinung. Die Skeptiker sagen – und da rechne ich mich eher dazu –, dass damit Risikoselektionen angereizt werden könnten und zudem die Fallzahlen auf einzelne Prozeduren und Interventionen oft nicht für valide Bestimmungen ausreichen. Außerdem bestimmt sich Qualität oft durch die Zusammenarbeit ambulant und stationär. Deshalb reicht mir das noch nicht. Public Reporting müsste man stattdessen für Versorgungsnetzwerke und Krankenkassen etablieren.

? Wie das?

Die Versicherten sollten die Möglichkeit haben, nicht nur nach dem Leistungskatalog und Marketing der Kassen zu entscheiden, wo sie sich versichern, sondern danach, wie es eine Kasse verstanden hat, in den letzten Jahren ihre Versichertenpopulation in ihrem Gesundheitsstatus zu halten oder zu verbessern.

? Da hat doch niemand Daten zu?

Oh doch, die liegen alle beim Bundesversicherungsamt. Das lässt sich aus den Daten zum Gesundheitsfonds, für den Morbi-RSA, heraus rechnen. Da könnten Sie klare Bewertungen zur Qualität der Versorgung durch die Kassen herausarbeiten.

? Und was haben Ihre Kollegen von der AOK und anderen Kassen dazu gesagt?

Intern habe ich schon positive Kommentare dazu gehört, extern gab es dazu aber noch keine Stellungnahme, aber ich freue mich schon über die erste Kasse, die so etwas veröffentlicht.

Das Interview führte Bernhard Epping

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