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DOI: 10.1055/s-0033-1344198
„Die Wunde schließt der Speer nur, der sie schlug“ – medizinische Bemerkungen zu einigen Werken Richard Wagners
„The Wound is Closed by the Spear that Induced it“ – Medical Remarks on Some of Wagner’s OperasKorrespondenzadresse
Publication History
Publication Date:
06 August 2013 (online)
- Zusammenfassung
- Abstract
- Die Heilung des Amfortas durch den heiligen Speer
- Allgemeiner medizinischer Relationismus
- Relationismus als allgemeines Stilmittel in „Parsifal“
- Die Ärztin Isolde als medica et medicina in „Tristan und Isolde“
- Religiöse Traditionen in der Medizin des Mittelalters
- Die traditionelle Säftelehre ist konstituierend für die Medizin des Mittelalters
- Der arme Heinrich und die Mieselsucht
- Personale Konsequenzen aus der Säftelehre
- Tannhäusers sichere psychische und wahrscheinliche venerische Krankheit
- „Der fliegende Holländer“ als Gleichnis für Organspende und Sterbehilfe
- Leiden und Krankheiten haben bei Wagner symbolistischen und archetypischen Rang
- Literatur
Zusammenfassung
In den Werken Richard Wagners spiegeln sich auch mittelalterliche medizinische Vorstellungen, beeinflusst durch christliche Traditionen und die aus der Antike überkommene Säftelehre wider. Unterschieden wird ein dinglicher und ein personaler Relationismus von Krankheitsursache und Heilung und im einzelnen in den Werken „Parsifal“, „Götterdämmerung“, „Tristan und Isolde“ und „Tannhäuser“ dargelegt. „Der fliegende Holländer“ weckt Assoziationen zu modernen Problemen der Lebendorganspende und der Sterbehilfe.
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Abstract
In Richard Wagner’s operas you will find medieval medical beliefs which were influenced by christian traditions and the doctrine of humours originating in classical antiquity. A distinction is made between an objective and a personal relationism of the cause of a disease and its cure, which is demonstrated by examples from “Parsifal”, “Götterdämmerung”, “Tristan and Isolde” and “Tannhäuser”. The “Fliegende Holländer” evokes associations with contemporary problems of living organ donation and physician assisted suicide.
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„Die Wunde schließt der Speer nur, der sie schlug“ – mit diesen Worten wendet sich der nach langer Wanderschaft vom jugendlich-tumben Toren zur gereiften Persönlichkeit herangewachsene Ritter Parsifal an den todkranken Gralskönig Amfortas, der nach vielen Jahren des Siechtums und erfolglosen Behandlungen aller Art immer noch an einer nicht heilenden Wunde leidet, die ihm einst mit dem in der Gralsburg aufbewahrten und vom abtrünnigen Zauberer Klingsor unter Mithilfe der verführerischen Kundry geraubten und entweihten heiligen Speer geschlagen wurde. Parsifal war auf seinen Fahrten , die ihn auch zu Klingsors Zauberschloß führten, mit Hilfe Kundrys und der anmutig-verderblichen Blumenmädchen in seinem Zaubergarten ein ähnliches Schicksal zugedacht, konnte aber deren Verführungen widerstehen und zuletzt den nach ihm geschleuderten Speer auffangen, in Sicherheit bringen und damit den Untergang des nun seiner Macht beraubten Klingsor besiegeln. Als Inhaber des heiligen Speeres heilt er Amfortas und erklärt sich zum neuen Gralskönig.
Die Heilung des Amfortas durch den heiligen Speer
Heilung einer Wunde durch den Speer, der sie schlug [1]? Vergeblich hatten sich der sonst nicht weiter vorkommende Ritter Gawan und die rätselhafte Kundry, hier in ihrer Eigenschaft als Ärztin, um eine Heilung bemüht. „Gawan weilte nicht, da seines Heilkrauts Kraft, wie schwer es auch errungen, doch deine Hoffnung trog, hat er auf neue Sucht sich fortgeschwungen“ (I,1). Er wollte durch sein Verschwinden auch für eigenen Leib und eigenes Leben vorbeugen, da erfolglose Ärzte oft einen zweifelhaften Stand hatten. Und Kundry, die auf einer ihrer vielen rätselhaften Daseinsebenen hier als Ärztin mit ihrem zweifelhaften Ausspruch „Ich helfe nie“ und „Nie tu ich Gutes“ (I,1) leider als menschlich fragwürdig zu bezeichnen ist, hat gerade einen neuen Balsam mitgebracht: „Hilft der Balsam nicht, Arabien birgt dann nichts mehr zu seinem Heil“ (I,1). Bekanntlich lässt Wagner seinen „Parsifal“ im christlich-arabischen Grenzbereich des damaligen Spanien (Burg Montsalvat) spielen, sodass der Import von Arzneimitteln geographisch nahe liegend war. Aus der Medizingeschichte wissen wir aber auch, dass Arabien nicht nur eine Drehscheibe der Arzneimittelkenntnisse aus der ganzen mittel- und fernöstlichen asiatischen Welt war, sondern auch einen hohen Kenntnisstand bei den Arzneimittelpflanzen hatte, und ständig neue entdeckt wurden [2]. Kundry weiß aber schon im Voraus, dass alles vergeblich sein wird, und so ist es am Ende der geraubte Speer, der die Heilung bringt. „O wundenwundervoller heiliger Speer“ (I,1).
Seine Heilkraft beruht ohne Zweifel auf einer ihm innewohnenden religiösen Macht, denn es war ja der Speer, mit dem die Seite des gekreuzigten Christus geöffnet wurde, um damit sein Blut, künftig als heiliger Gral verehrt, zu gewinnen. Durch Klingsors Raub wurde er vorübergehend entweiht und zum gemeinen körperverletzenden und krankheitsbringenden Kampfinstrument degradiert. Gerade manche moderne Regisseure haben ihn in diesem Zustand auch als phallisches Symbol paraphrasiert, womit im Zusammenhang mit den Blumenmädchen und der verführerischen Kundry die Wunde des Amfortas als venerische Infektion aufgefasst werden könnte. Aber durch den tugendhaften Ritter Parsifal erhielt der Speer seine Heiligkeit, Heil- und Wunderkraft zurück. Die Wunde des Amfortas kann nun von ein- und demselben Gegenstand geheilt werden. Eine solche Heilung möchte ich als relationistisch, in diesem Fall vom dinglichen Typ bezeichnen.
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Allgemeiner medizinischer Relationismus
Die Homöopathie, nach der Krankheitsursache und Heilung im selben Agens zu suchen sind (similia similibus curantur), kann wohl als Musterbeispiel für medizinischen Relationismus gelten. Auch in der Allergologie und Immunolgie mit Impfungen und Hyposensibilisierung ist es ganz analog. Ach könnten wir doch viel mehr Krankheiten nach diesem einfachen relationistischen Prinzip heilen! Das Kortison, auf das wir immer wieder angewiesen sind, ist extrem nicht relationistisch.
In erweitertem Sinne ist auch die strikt vorgegebene Behandlung einer Vergiftung, des „Dot“ mit dem spezifischen „Antidot“ als relationistisch zu bezeichnen. Mit einem solchen toxikologischen Fall haben wir es in Wagners umfangreichstem Werk „Der Ring des Nibelungen“ zu tun, das sonst bemerkenswert wenig medizinische Aspekte bietet. Im ersten Akt der „Götterdämmerung“ reicht der böse Hagen dem auf Abenteuerreisen befindlichen und arglosen Siegfried einen Zaubertrank, der ihn die Treue und Liebe zu seiner Gattin Brünnhilde vergessen lassen soll, um mit seiner Heldenkraft eben diese Brünnhilde für den schwachen Gunther als Gemahlin zu gewinnen. Er soll durch Gunthers Schwester Gutrune entschädigt werden. Nachdem er in der Tarnung als Gunther Brünnhilde gewonnen hat, nimmt das Schicksal seinen unvermeidlichen Lauf, und Siegfried fällt dem Mordkomplott Hagens, Gunthers und der betrogenen Brünnhilde zum Opfer. Kurz vor seinem Tode reicht ihm Hagen das ihn von seiner Vergessenspsychose heilende Antidot in Form eines anderen Trankes, der ihm in therapeutischem Relationismus die Erinnerung an Brünnhilde als seiner eigentlichen Ehefrau zurückbringt. Schon in „Siegfried“ wäre der Titelheld beinahe einem Giftanschlag des tückischen Mime zum Opfer gefallen.
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Relationismus als allgemeines Stilmittel in „Parsifal“
Wir kommen noch einmal zu Parsifal zurück, lesen den Text noch einmal genauer und stellen fest, dass dieser nicht nur im medizinischen Bereich, sondern auch im allgemeinen voller Relationismen steckt. Beispielhaft seien genannt „dem Heiltum baute er das Heiligtum“ (I,1), „suche dir, Gänser, die Gans“ zu tun (I,2, Schluss), „gesegnet sei, Du Reiner, durch das Reine“ (III,1) und vor allem der ultraromantische, überaus rätselhafte Schluss „ Erlösung dem Erlöser“ (III,2). Rein sprachlich stammen solche Formulierungen aus der Vorliebe Wagners für den Stabreim, wie er im „Ring des Nibelungen“ am häufigsten vorkommt z. B. „ Winterstürme wichen dem Wonnemond“ (Die Walküre I,1). Im Parsifal fällt seine Verwendung für das Reine, Heilige und Erlösende als ein ins Sakrale und in die Transzendenz deutendes linguistisches Stilprinzip besonders auf, der „ wundenwundervolle heilige Speer“ ist daher auch aus dieser Sicht und nicht nur aus medizinischen oder sakralen Gründen besonders bemerkenswert. Auch sei auf mindestens einen Relationismus in der Musik hingewiesen, denn das in der ersten Szene des ersten Aktes zuerst in düsteren Modulationen vorkommende Leidensmotiv des Amfortas a) b) wird im dritten Akt als Zeichen der langsamen Wundheilung allmählich in lichtes erlösendes A-Dur c) verklärt, siehe Notenbeispiel, [Abb. 1].


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Die Ärztin Isolde als medica et medicina in „Tristan und Isolde“
Ein Zauberelixier wie in der Götterdämmerung, eine Waffe (in diesem Falle ein Schwert) und eine nicht heilende Wunde wie im Parsifal spielen auch in Tristan und Isolde eine wichtige Rolle. Nach irrtümlichem Genuss des Liebestrankes sind Tristan und Isolde ein untrennbar in Liebe vereintes Paar geworden, und das, obwohl Tristan einst Morold, den früheren Verlobten Isoldes, erschlagen hatte und obwohl er Isolde im Auftrag seines Herrn, des König Marke, und nicht für sich selbst als Gemahlin nach Kornwall holen sollte. Ihre unerlaubte Liebe wird natürlich entdeckt, und Tristan erleidet im Kampf mit Melot, dem treuen Vasallen König Markes, eine schwere Verletzung, von der er sich nicht mehr erholt. Auf seiner Burg Kareol liegt er schwer krank darnieder und erwartet in Fieberfantasien die Ankunft Isoldes, die von seinem treuen Diener Kurwenal als „Ärztin“ (III,1) herbeigewünscht worden war. Die Hoffnung Kurwenals auf Tristans Heilung beruht auf einem therapeutischen Relationismus, denn zur Vorgeschichte gehört auch, dass Tristan einst den Morold zwar erschlagen hatte, dabei aber mit dessen von Isolde vergifteten Schwert selbst verletzt worden und in der Hoffnung auf Heilung unter dem Namen Tantris (Namensrelationismus!) zu Isolde als der einzig möglichen Ärztin und Retterin zurückgekehrt war, die ihn in einem Anflug von Mitleid unter Verzicht auf Rache gesund gemacht hatte. „Die böse Wunde, wie sie heilen? … wer einst dir Morolds Wunde schloß, der heilte leicht die Plagen, von Melots Wehr geschlagen“ (III,1), hofft Kurwenal nun erneut für seinen Herrn. Die mögliche Heilung ist auf die Ärztin Isolde und nur sie personal-relational fixiert. Und wenig später stellt Tristan selbst wieder einen dinglichen Relationismus her, wenn er sagt: „Mit blutender Wunde bekämpft ich einst Morolden, mit blutender Wunde erjag ich mir heut Isolden“ (III,2) (die ihn heilen soll). Im Unterschied zu Parsifal kommt es jedoch zu keiner Heilung mehr, das Ende mit dem Tod der beiden Liebenden ist bekannt, unterschiedlich auch, dass nicht nur ein dinglicher Relationismus, sondern auch mit der als Ärztin bezeichneten Isolde ein personal-therapeutischer Relationismus zum Patienten Tristan besteht, denn sie ist nicht nur Ärztin, sondern das Heilmittel selbst. Isolde ist „medica et medicina“!
Bevor wir zu „Tannhäuser“ kommen, müssen wir uns zum besseren Verständnis ein wenig in die streng religiös, und in der Medizin von der Säftelehre geprägten Zeiten des Mittelalters versetzen, aus denen Wagner die meisten seiner Stoffe bezog.
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Religiöse Traditionen in der Medizin des Mittelalters
Die Vorstellung einer personal-relationistischen Heilung stammt bereits aus dem alten Testament, wo es zum Beispiel beim Propheten Jesaja in der Erzählung vom leidenden Gottesknecht heißt: „Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen … und durch seine Wunden sind wir geheilt“ (Jesaja 53, 4 – 6). Die Heilung ist an ihn persönlich (für Christen später auch auf den leidenden Jesus bezogen) gebunden. Es ist zu vermuten, dass eine solche relationistische therapeutische Vorstellung überhaupt in weiten Teilen des Orients verbreitet war und vielleicht eine motivische Verwandtschaft zur besonders dort häufig praktizierten ebenfalls relationistischen Blutrache besteht, als deren jüngere liebliche Schwester sie bezeichnet werden könnte. Wie andere Religionen kennt natürlich auch das Christentum den Relationismus von Gut und Böse, Schuld und Sühne, Gott und Teufel, sündigem und erlösten Menschen. Über allem steht als Erlöser und Heiler Jesus Christus. „Denn wie sie in Adam alle sterben, so werden sie in Christus alle lebendig gemacht werden“ (1. Korinther 15, 22), heißt es beim Apostel Paulus, oder beispielsweise beim an der Pest gestorbenen Kirchenlieddichter L. Helmbold (1532 – 1598): „Ein Arzt ist uns gegeben, der selber ist das Leben“ (Ev. Kirchengesangbuch, 320). Die Parole „Christus Medicus“ (et medicina, analog zu Isolde) durchzieht die gesamte Kirchengeschichte.
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Die traditionelle Säftelehre ist konstituierend für die Medizin des Mittelalters
Es ist an dieser Stelle nicht nötig, auf die Säftelehre – bereits in der Antike von Hippokrates und Galen etabliert und dann, wie viele andere wissenschaftliche Errungenschaften der Antike, von arabischen Gelehrten neu belebt nach Europa reimportiert und von da an vielfach auch als „arabistische Humoralpathologie“ [3] bezeichnet – näher einzugehen. Für unsere Betrachtungen wichtig ist nur die logische Konsequenz, dass bei den Patienten mit durch Krankheit verdorbenen schlechten Säften entweder deren Ausleitung und/oder der Ersatz durch gesunde Säfte, in aller Regel gesundem Blut eines Spenders, z. B. in Form von Bädern, therapeutisch erfolgreich sein kann. Solche Vorstellungen sind dann auch in die allgemeine Kulturgeschichte und in die Literatur des Mittelalters eingegangen. Eines der allgemein geläufigen Beispiele ist die Geschichte vom „Armen Heinrich“ des Hartmann von der Aue um 1190.
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Der arme Heinrich und die Mieselsucht
Sie handelt von dem armen Ritter Heinrich, der unheilbar an der „Mieselsucht“ (Lepra) erkrankt war, und von dem jungen reinen und unschuldigen Mädchen, einer virgo intacta. Diese soll auf Anraten der Ärzte im berühmten Salerno in personaler relationistischer Hingabe ihr reines Herzblut als Ersatz für das verdorbene Blut Heinrichs und damit ihr Leben opfern. Im letzten Augenblick vor dem geplanten Eingriff entschließt sich jedoch der arme Heinrich, das Opfer nicht anzunehmen, man reist nach Deutschland zurück. Heinrich wird trotzdem gesund, man heiratet und wird glücklich. Es ist nebenbei gesagt erstaunlich, dass hier Salerno ausdrücklich beim Namen genannt wird, wo doch die wissenschaftliche Medizingeschichte über diese berühmte Schule von derartigen Heilverfahren meines Wissens nichts zu berichten weiß.
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Personale Konsequenzen aus der Säftelehre
Die Beispiele für eine solche personal-relationistische Medizin, in der im Zeitalter der Säftelehre das ohnehin metaphysisch und religiös überhöhte Prinzip „Blut“ eine wichtige Rolle spielt, werden immer häufiger; viele kann man bei Sticker [4] nachlesen. So erkrankte der Papst Innozenz VIII. (1484 – 1492) im damaligen Rom der 6800 öffentlichen Dirnen an einer heimlichen Krankheit (also Verderbnis der Säfte, u. a. des Blutes). Ein Arzt versprach ihm relationistische Heilung durch das Blut unschuldiger Knaben. Die drei Knaben von 10 Jahren, denen dieser das Blut entnahm, starben. Der Papst ist nicht gesund geworden, sondern seiner Krankheit erlegen, der Arzt war vorher verschwunden ([4], S. 541)
Der Leibarzt Jacques Coytier (gest. 1506) des französischen Königs Louis XI. (1423 – 1483), mit 5 Jahren verheiratet und mit 12 Jahren verwitwet, ließ den alternden, am Körper verwüsteten König im Blut unschuldiger Knaben baden, um sein eigenes Blut und seine Körpersäfte herzustellen; vergeblich: der König starb sechzigjährig 1483. Sein Sohn Charles VIII. beließ Coytier in allen Stellungen und lieh sich von ihm Geld für den zur Geschichte des morbus gallicus später so wichtigen Feldzug nach Neapel ([4], S. 555).
Solche Berichte erklären übrigens auch das im Mittelalter immer wieder beschriebene Verschwinden von Kindern, besonders Edelknaben. Man wird daran auch in Wagners in Brabant spielender Oper „Lohengrin“ erinnert. In diesem Herzogtum sollen besonders viele Edelknaben verschwunden sein. Allerdings wurde der junge plötzlich vermisste Herzog Gottfried von der Zauberin Ortrud ja nicht getötet, sondern wie sich zum Schluss herausstellt, „nur“ in einen Schwan verwandelt, eine motivische Verwandtschaft zu den vielen Geschichten von verschwundenen Kindern ist dennoch unverkennbar. Als Extrembeispiel sei in diesem Zusammenhang auch an die Geschichte vom Rattenfänger von Hameln und den vielen verschwundenen Kindern erinnert.
Bei der Genese und Heilung besonders venerischer Krankheiten wurde indessen vom Prinzip „Blut“ abstrahiert und auch ohne Säftelehre ganz auf einen rein personalen Relationismus abgestellt. So behauptet Ercole Sassonia (Hercules Saxoniae, 1550 – 1607), Medizinprofessor zu Padua, 1597 [6], dass sich die Venetianer von einer Gonorrhoe durch die Vermischung mit einer Negerin heilten „experimentum est verum“. Auch veraltete Gonorrhoea sei öfters zur Ausheilung gekommen, wenn die Behafteten mit einer Jungfrau das Werk geübt hätten, bedauerlicherweise war aber „sed tunc mulier inficitur“ das Resultat ([5], ohne Seitenangabe).
Auch der Tübinger Professor Samuel Hafenreffer lehrte, dass der Tripper durch den Beischlaf mit jungen Mädchen geheilt werden könne (zitiert nach [4], S. 288).
Der populär-wissenschaftliche Autor Joachim Fernau vetritt in seinem Buch „Und sie schämten sich nicht, Ein Zweitausendjahrbericht“ [6] die Ansicht, dass Landgraf Philipp der Großmütige (magnanimus), Vorreiter der Reformation in Hessen, dem nebenbei auch noch eine überaus seltene Triorchie nachgesagt wurde, nur deshalb die für den jungen Protestantismus so skandalöse Nebenehe mit der jungen Margarethe von der Saal (oder Sale) einging, um sich durch den dauerhaften ehelichen Umgang mit ihr von einer wirklichen oder vermeintlichen syphilitischen Infektion zu heilen. Bis weit ins 19. Jahrhundert und darüber hinaus war überhaupt die Ansicht verbreitet, dass man sich durch Kontakt mit anderen Personen, besonders Jungfrauen, von venerischen Infektionen heilen könne. Solche Vorstellungen persistierten bis weit ins 19. Jahrhundert.
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Tannhäusers sichere psychische und wahrscheinliche venerische Krankheit
Dieser Exkurs, in dem die Wichtigkeit relationistischer Beziehungen zwischen Ursache und Heilung einer Krankheit und die Bedeutung reiner Jungfrauen klar wird, soll uns zu Richard Wagner und seiner Oper „Tannhäuser“ zurückführen. Heinrich, der Tannhäuser, war in überaus sündiger Begierde den Reizen der verführerischen Venus, die hier übrigens der Kundry des 2. Aktes im Parsifal sehr ähnlich ist, erlegen und lebte schon längere Zeit in ihrem erotisch-paradiesischen Venusberg, als er sich wieder nach den normalen Menschen sehnte und merkte, dass er dort nicht mehr länger verweilen konnte, weil er sich, der Venusdienste überdrüssig, auf die Dauer seiner Freiheit und damit eines wichtigen Teiles seiner Persönlichkeit beraubt sah und weil er selbst merkte, dass seine Seele Schaden genommen hatte. „Nach Freiheit doch verlangt es mich, nach Freiheit, Freiheit dürste ich“ (I,1).
Von einer sehr nahe liegenden, im wahrsten Sinne des Wortes körperlichen „venerischen“ Infektion ist zwar nicht die Rede, was auch bei der damaligen Zurückhaltung, solche Dinge beim Namen zu nennen, weil „nicht schicklich“, begreiflich ist. „Fast so schweigsam wie die Gräber bleiben die Lebenden über die beim Verkehr der Geschlechter weitergegeben Leiden; viele Jahrhunderte lang“ ([4], S. 396). Aber selbst wenn eine venerische Infektion fraglich bleibt, muss man auf jeden Fall von einem erheblichen psychischen Schaden, den Tannhäuser sich eingehandelt hatte, ausgehen. Nur die Rückkehr in das frühere geordnete und tugendsame höfische Leben und die Aussicht auf ein Wiedersehen, oder gar ehelichen Kontakt mit der unschuldig reinen Jungfrau Elisabeth am thüringischen Hof verspricht körperliche Gesundung und seelische Reinigung nach dem Kontakt mit der verdorbenen Frau Venus.
Seine Geschichte kann als ein medizinisches Gleichnis angesehen werden, am Anfang steht die bei einer Frau erworbene (fragliche venerische und sichere psychische) Krankheit und am Ende die Heilung und Erlösung durch eine Frau. Venus und Elisabeth sind personal-relationistisch miteinander verbunden. Es macht übrigens den Reiz mancher Inszenierungen aus, Venus und Elisabeth von derselben Sängerin darstellen zu lassen. Wenn Venus sagt „Hin zu den kalten Menschen flieh, vor deren blödem trüben Wahn der Freude Götter wir entflohn …“ (I,1), betont sie selbst zwar ihre dem Menschengeschlecht überlegene Göttlichkeit, in den Moralvorstellungen des mittelalterlichen thüringischen Hofes ist sie aber nichts anderes als eine verkommene, verderbnisbringende, sündige Frau, eine typische „mulier immunda, foeda“, oder „corrupta“, wie die bereits der salernitanischen Schule im Zusammenhang mit den ansteckenden Geschlechtskrankheiten bekannten, auch in der Medizin der damaligen Zeit verwendeten termini technici hießen, so Sticker ([4], S. 504). Ein Kontakt mit solchen Frauen brachte Verderbnis, Krankheit und gesellschaftliche Ächtung und wurde streng, vielleicht sogar mit dem Tode bestraft. Hilfreich konnte der relationistische Kontakt des Unreinen zu einer „Domina nobilis“ einer „hohen und edlen Frau“ sein, die wie im Falle Tannhäusers als reine Fürstin Elisabeth Fürbitte für den Sünder einlegte, ihn zum Bußgang nach Rom bewegte und ihm damit letztlich auch unter Hingabe des eigenen Lebens, wenn auch nicht zur irdischen psychischen Gesundheit, so doch nach seinem Tode zur Sündenvergebung und Erlösung seiner Seele verhalf.
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„Der fliegende Holländer“ als Gleichnis für Organspende und Sterbehilfe
Zum Schluss kommen wir zu Wagners erster wirklich bekannter, „kanonisierter“ Oper, nämlich „Der fliegenden Holländer“. Wir haben hier ein Szenario, das dem des Tannhäuser ähnlich ist, denn der zu ewiger Irrfahrt auf den Weltmeeren verdammte Titelheld ist, weil extrem lebensmüde, psychisch völlig ruiniert, darin übrigens der ebenfalls die Jahrhunderte in Raum und Zeit durchwandernden, ewig schlafbedürftigen Kundry des ersten Aktes im Parsifal sehr ähnlich. Nur alle sieben Jahre darf er an Land und Kontakt zu den Menschen haben. Seine Hoffnung besteht darin, endlich ein ihn treu liebendes Mädchen zu treffen, das ihm aber nicht zu einem glücklichen irdischen Eheleben verhelfen soll, sondern bereit ist, bedingungslos mit ihm in den für ihn erlösenden Tod zu gehen, also gleichzeitig Sterbehilfe zu leisten. Die Wertigkeit von Tod und Leben sind ebenso wie die von Tag und Nacht in „Tristan und Isolde“ vertauscht. Erstrebenswert ist nicht das Leben, sondern der Tod. Die Oper handelt davon, wie der Holländer dieses Mädchen schließlich in Senta, der Tochter eines norwegischen Kapitäns, findet, das sich, nachdem er aufgrund verschiedener Verwicklungen enttäuscht schon wieder in See gestochen war, von einem Felsenriff ins Meer stürzt und sich in selbstloser Hingabe im Erlösungstode mystisch mit im vereint „Hier steh ich, treu dir bis zum Tod“ (III,2).
Die psychische Erkrankung des Holländers wurde zwar nicht durch eine Frau verursacht, sehr wohl aber die Heilung oder Erlösung (wenn auch zum Tode) durch ein zweifellos hysterisches und psychopathisches Mädchen, sodass im Hinblick auf beider Psyche wieder eine relationistische Beziehung besteht. Es hat sich in seiner Schwärmerei, für sein bürgerliches Umfeld und den Verlobten Erik völlig unverständlich die Aufopferung selbst auferlegt. Die Situation ist ungefähr so wie im „Armen Heinrich“, wo das Mädchen sich ebenfalls freiwillig hingeben will. Der Unterschied ist nur der, dass im ersten Fall das irdische Leben, im zweiten Fall der erwünschte Erlösungstod das Ziel ist.
Man ist dabei an zwei wichtige Entwicklungen in der modernen Medizin erinnert, zum einen an die Organtransplantation vom Lebendspender mit dem Ziel, ein anderes irdisches menschliches Leben zu retten, zum anderen das umstrittene Thema Sterbehilfe ganz ähnlich wie im fliegenden Holländer. Vom lebenden Organspender wird heutzutage zwar nicht das Leben und eine ganz bedingungslose Hingabe, im nüchternen medizinischen Sinne sozusagen eine „Ganzkörperspende“ bis zum sicheren Tode wie von Senta gefordert, aber ohne seine erhebliche Opferbereitschaft, menschliche Selbstlosigkeit, Mitleid, Güte und Risikobereitschaft auch zum Tode oder einer dauerhaft beschädigten eigenen Gesundheit ist ein solcher Eingriff nicht zu machen. Er spielt sich nicht nur rein körperlich im Operationssaal ab, sondern gewinnt darüber hinaus auch heute eine ethische, erhabene abstrakte Qualität, wie in der ultraromantischen Geschichte vom fliegenden Holländer und dem Mädchen Senta, das medizinisch ausgedrückt zur „ganzkörperlichen Spende“ bereit ist.
Das Gegenteil ist bei der Sterbehilfe mit der Vertauschung der Wertigkeit von Tod und Leben der Fall. Sie ist sozusagen die normative Inversion der Lebendorganspende und erfordert, obwohl vielleicht bei einer aussichtslosen Krankheit verständlich, eine gewissermaßen mitleidslose, kalte Konsequenz. Die persönliche Hingabe des Sterbehelfers ist nicht erforderlich. Wir haben aber in der Figur der Senta den merkwürdigen Befund, dass in ihr beides vereint ist, nämlich hingebungsvolle Opferbereitschaft für einen anderen Menschen und gewissermaßen kalte und lebensverachtende Konsequenz im Hinblick auf den (eigenen) Tod, der zur Sterbehilfe für den Holländer notwendig ist.
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Leiden und Krankheiten haben bei Wagner symbolistischen und archetypischen Rang
Wir konnten in dieser Arbeit nicht zeigen, dass sich Wagner in seinen Werken mit bestimmten Krankheiten oder allgemeinen medizinischen Problemen näher auseinandergesetzt hätte. Manches bleibt fraglich und nur angedeutet, z. B. eine venerische Infektion von Amfortas und Tannhäuser. Gerade durch diese Unbestimmtheit werden aber Krankheit und Leiden auf einer höheren existentiellen Ebene angesiedelt. Wagner hat ihnen damit wie z. B. auch den zunächst gemeinen Kampfinstrumenten Speer und Schwert einen symbolistischen, archetypischen Rang und damit den notwendigen negativen Kontrapunkt zu seinem wichtigsten Thema, nämlich der Erlösung zugewiesen.
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Interessenkonflikt
Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
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Literatur
- 1 Wagner R. Sämtliche komponierten Bühnendichtungen. Kühn EF, Hrsg. Berlin: Globus Verlag GmbH; (ohne Jahresangabe), alle weiteren Wagnerzitate ebenfalls aus diesem Band
- 2 Dillemann G. In: Illustrierte Geschichte der Medizin. Bd. 5, S. 1744, Deutsche Ausgabe von Andreas und Andreas, Salzburg: 1982
- 3 Bühler J. Die Kultur des Mittelalters. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag; 1954: 321-322
- 4 Sticker G. Entwurf einer Geschichte der ansteckenden Geschlechtskrankheiten. In: Jadassohn J. Handbuch der Haut-und Geschlechtskrankheiten. Band 23, Berlin: Julius Springer-Verlag; 1931
- 5 Hercules Saxoniae, Luis venereae perfectissimus tractatus, ex ore Herculis Saxoniae Patauini Medic.clariss, apud Laurentium Pasquatum, Typographum almae Universitatis Iuristarum, Patavii, MDXCVII. (ohne Seitenangabe)
- 6 Fernau J. Und sie schämten sich nicht. Ein Zweitausendjahrbericht. 6. Aufl. Frankfurt/Main-Berlin: Ullstein-Verlag; 1996: 118-121
Korrespondenzadresse
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Literatur
- 1 Wagner R. Sämtliche komponierten Bühnendichtungen. Kühn EF, Hrsg. Berlin: Globus Verlag GmbH; (ohne Jahresangabe), alle weiteren Wagnerzitate ebenfalls aus diesem Band
- 2 Dillemann G. In: Illustrierte Geschichte der Medizin. Bd. 5, S. 1744, Deutsche Ausgabe von Andreas und Andreas, Salzburg: 1982
- 3 Bühler J. Die Kultur des Mittelalters. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag; 1954: 321-322
- 4 Sticker G. Entwurf einer Geschichte der ansteckenden Geschlechtskrankheiten. In: Jadassohn J. Handbuch der Haut-und Geschlechtskrankheiten. Band 23, Berlin: Julius Springer-Verlag; 1931
- 5 Hercules Saxoniae, Luis venereae perfectissimus tractatus, ex ore Herculis Saxoniae Patauini Medic.clariss, apud Laurentium Pasquatum, Typographum almae Universitatis Iuristarum, Patavii, MDXCVII. (ohne Seitenangabe)
- 6 Fernau J. Und sie schämten sich nicht. Ein Zweitausendjahrbericht. 6. Aufl. Frankfurt/Main-Berlin: Ullstein-Verlag; 1996: 118-121

